[Besser-verkehren] Bericht Fachgespräch "Fahrscheinloser ÖPNV"

Newsletter zum verkehrspolitischen Zirkular der LINKEN besser-verkehren at listen.jpberlin.de
Mo Aug 4 14:05:51 CEST 2014


Liebe Verkehrsinteressierte,
sehr geehrte Damen und Herren,
das Interesse an unserem Fachgespräch war riesengroß und über 80 Teilnehmer*innen kamen aus dem gesamten Bundesgebiet nach Frankfurt/M. Mitte Juni. Nachdem die Referate nun nachlesbar sind und wir die ersten Vereinbarungen aus dem angeschlossenem Vernetzungstreffen umgesetzt haben, möchten wir Ihnen Näheres berichten.
Und damit Informationen bieten sowie Mut machen, aktiv zu werden. Denn eine Erkenntnis der Veranstaltung war: An vielen Orten der Republik wird partei-übergreifend für neue Formen der Nahverkehrs-Finanzierung gekämpft – und diese Veranstaltung war ein erfolgreiches Startsignal für eine bessere Zusammenarbeit, die zu einer bundesweiten Kampagne führen kann.
In der Hoffnung, Ihr Interesse zu finden und Sie evtl. sogar zu aktivieren, wünschen wir einen schönen Sommer und verbleiben
mit freundlichen Grüßen

Sabine Leidig,
verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag
Bericht: „Fahrscheinloser ÖPNV – Finanzierungsmodelle und rechtlicher Rahmen“
hieß ein Fachgespräch der Bundestagsfraktion der LINKEN und es fand Mitte Juni in Frankfurt am Main statt. Prof. Heiner Monheim (früher Uni Trier) umriss in seinem Eingangsvortrag den Themenkomplex, wies daraufhin, dass der Begriff „Nulltarif“ verbrannt sei, weil er zu Abwehrreaktionen bei denjenigen führe, die das Geld für den ÖPNV „zusammenkratzen“ müssen. Besser und einfacher sei „Bürgerticket“. Schon lange gibt es Diskussionen über alternative Finanzierungsmodelle. Früher war der ÖPNV eine Goldgrube; etwa 100 Jahre lang wurde dort gutes Geld verdient ("Bahnbarone" u.a.). Daher ist es falsch, wenn heute der ÖPNV als per se defizitär dargestellt wird. Er ist nur defizitär, solange die Leute überwiegend Auto fahren. Fahren alle mit, wird es wieder ein gutes Geschäft. Da ein Ende der klassischen ÖPNV-Finanzierungsmodelle wie Regionalisierungsmittel oder Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz über 2019 hinaus absehbar ist, ist gerade jetzt Neues gefragt. Die Ausdehnung der Finanzierung z.B. umlagefinanziert über alle Einwohner oder Haushalte und/oder auf Drittnutzer wie Betriebe per Nahverkehrsabgabe würde eine wesentlich breitere Basis geben, den ÖPNV stabiler tragen und für den einzelnen Bürger sogar preiswerter werden. Sicherlich ist die Forderung aus Umweltkreisen nach „wahren Preisen“ im Verkehr richtig, doch im ÖV gibt es heute schon viele Beispiele von Flatrate-Modellen (z.B. Kombi-Tickets bei Veranstaltungen, Semester-Tickets oder die BahnCard 100), die als Vorläufer von Bürger-Tickets bezeichnet werden können und auch erst nach langem Kampf  durchgesetzt wurden, heute aber zum Standard gehören. Warum ist die ÖV-Landschaft neuer Modelle gegenüber nur so ablehnend und innovationsfeindlich, fragte Heiner Monheim und riet, die „bunte Wiese der vielen Blüten“ aus lokalen Initiativen weiter zu düngen und gleichzeitig muss ein Land das ÖPNV-Gesetz für solche Modelle öffnen und eine mutige Kommune muss es dann umsetzen. Dies würde dann viele Nachahmer zur Folge haben.
   Gregor Waluga vom Wuppertal-Institut berichtete von einem erfolgreichen Praxis-Test eines Bürgertickets für Wuppertaler Bürger*innen – der Nahverkehr wurde häufiger genutzt und Autofahrer machten positive Erfahrungen.
   Mit „Flatrate für Bus und Bahn“ ist die Erfurter LINKE erfolgreich in den letzten Kommunal-Wahlkampf gezogen und konnte dazu ein durchgerechnetes „Erfurter Modell“ vorlegen. Ergebnis: Alle Erfurter*innen über 18 (ohne Azubis u.a.) zahlen 20 € monatlich als Nahverkehrsabgabe, von Einpendlern sowie aus der Parkraumbewirtschaftung und aus Car-Sharing kommen Einnahmen hinzu und die Zuschüsse vom Bund und Land bleiben erhalten. Damit kann „Mobilität für alle“ realisiert und das ÖPNV-Angebot noch ausgeweitet werden, erläuterte Matthias Bärwolff, Mitglied des Thüringer Landtages.
   Und dann sind da natürlich noch viele rechtliche Fragen zu klären. Christian Maaß vom Hamburg Institut sezierte Grundlagen der Staatsfinanzen nach Steuern, Gebühren, Beiträgen und Abgaben.
Für jedes Instrument einzeln muss überprüft werden "ob das geht":  1. Gibt es eine Gesetzgebungskompetenz (hier eher auf Landes- als auf Bundesebene)?,  2. Anforderungen aus der Finanzverfassung?, 3. Eingriff in die Grundrechte?, 4. europäisches Vergaberecht muss eingehalten werden. Und die konkrete Ausgestaltung muss geklärt sein: Was will ich umsetzen? Freifahrt für alle oder Freifahrt nur für die, die gezahlt haben? Oder Freifahrt nur außerhalb der Stoßzeiten? Wen will ich einbeziehen – vielleicht auch Arbeitgeber und Pendler? Wie schneide ich das Gebiet zu? Muss ich ein Mindestangebot von ÖPNV-Leistungen haben? Wie sieht es mit Ausnahmen und Härtefallregelungen aus? Fazit von Herrn Maaß: Riesige Vielzahl an denkbaren Instrumenten, von denen aber nicht alle zum Ziel führen. Auch im Rahmen des bestehenden Rechts möglich, ohne dass der Gesetzgeber tätig werden muss; für ein umfassendes Modell (= Ermächtigungsgrundlage für Beitrag) wäre aber Gesetzesänderung notwendig. Beiträge sind eingeführtes kommunales Finanzierungsinstrument und funktionieren am besten.
Alle Referenten betonten, dass eine Etablierung neuer finanzierungs-Basis des Nahverkehrs in Deutschland eingebettet sein muss in eine Strategie der Verkehrswende, die die Subventionierung des Kfz- (und auch Flug-)Verkehrs beendet und klar den Vorrang auf den Umweltverbund (zu Fuß, per Rad, mit Bus und Bahn) legt.

Angeschlossen an das Fachgespräch war ein Vernetzungstreffen Aktiver, durchgeführt vom Netzwerk Solidarische Mobilität (Solimob). Aus den Reihen der rund 50 Teilnehmenden wurde zu Beginn über 17 Beispiele von Aktivitäten vor Ort berichtet, angefangen von vielen lokalen Initiativen zur Durchsetzung von Sozial- oder Bürger-Tickets über Initiativen in Landtagen bis hin zur Koordination internationaler Beispiele http://www.freepublictransports.com . Neben partei-unabhängigen Aktiven waren Vertreter*innen der Grünen, der Piraten sowie der LINKEN in Auseinandersetzungen involviert. Hier finden sich die einzelnen Berichte: http://www.solimob.de/index.php/nulltarif-initiativen
Vereinbart wurde dann, dass das Netzwerk Solimob als Informationspool zum Thema bereitsteht und eine Mailingliste dazu eingerichtet hat  http://www.solimob.de/index.php/nulltarifsozialticket . Grundsätzliches Ziel sollte sein, das Thema kampagnenfähig zu machen, d.h. Material zu sammeln, Aktionsideen zu entwickeln, Bündnispartner zu suchen und den Unterstützerkreis so zu verbreitern, dass in Form von Aktionen (Aktionstag?) bundesweit oder zumindest in 5-10 Städten für den fahrscheinlosen ÖPNV geworben werden kann, um Vorbehalte abzubauen und die Idee als attraktive Lösung für soziale und ökologische Probleme sowie zur Verbesserung der Lebensqualität ins Bewusstsein vieler Menschen zu bringen. Das bundesweit nächste Treffen wird auf dem BUVKO 2015 in Erfurt stattfinden (13.-15.3.2015, näheres siehe: http://www.buvko.de ). Möglicherweise kann ein bundesweit gültiger Flyer, hinter denen alle Aktiven stehen, produziert und verbreitet werden.
Die riesige Resonanz dieser Veranstaltung sowie die große Zahl von Aktivitäten vor Ort bundesweit verteilt, lässt die Hoffnung wachsen, das Thema umlage- oder beitragsfinanzierten ÖPNV zum  Diskussions-Gegenstand der nächsten Jahre werden zu lassen. Nötig wäre es allemal, denn „es ist gespenstisch, wie die Republik in Sachen ÖPNV-Finanzen aufgestellt ist“ (Heiner Monheim).
Ein ausführliches Protokoll samt Referate ist zu finden unter:  http://www.nachhaltig-links.de/index.php/oeffentlicher-verkehr/1188-fahrscheinloser-oepnv


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