[IPK] Norwegen: Schlimmster Massenmord an der Arbeiterbewegung

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Do Aug 4 02:06:17 CEST 2011


Norwegen:
Schlimmster Massenmord an der Arbeiterbewegung
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Von Håkan Blomqvist


Nie zuvor wurde die Arbeiterbewegung unter friedlichen Bedingungen in Europa
von einem derartigen Massaker getroffen. Eine Erkenntnis, die mit
berücksichtigt werden sollte, wenn der Rechtsterror von Utøya und Oslo
analysiert wird.

Der rechtsextreme Massenmord an der Jugend der norwegischen Sozialdemokratie
kann das schlimmste Massaker in Friedenszeiten an Sozialisten in Europa seit
Entstehen der Arbeiterbewegung sein.

In Kriegen, Bürgerkriegen oder Revolutionen waren Massaker an Sozialisten,
Kommunisten und Anarchisten durch Militär und Polizei an der Tagesordnung.
Das Junimassaker am französischen Proletariat in Paris im Jahre 1848, ganz
zu schweigen von den Massenerschießungen nach dem Fall der Pariser Kommune
1871, forderte mehr als zehntausend Tote. Auf die erste russische Revolution
von 1905 folgten schreckliche Massaker und Hinrichtungen von Sozialisten und
Aufständischen. In den Revolutionen und Bürgerkriegen nach dem Ersten
Weltkrieg wurden Massenmorde an den "Roten" sowohl im zerfallenden
russischen Reich, wie auch in Ungarn, Bayern und anderswo verübt. Was
Skandinavien betrifft, wurden in Finnland Tausende von Sozialisten und
Arbeiter nach der Niederlage der Roten im Bürgerkrieg 1918 erschossen. In
Südeuropa wurden Anhänger der Linken niedergemetzelt, als Mussolinis
Kampfgruppen Streiks, Betriebsbesetzungen und linke Versammlungen in den
frühen 1920er Jahren zerschlugen. In Osteuropa und auf dem Balkan wurden
zunehmend Linke massakriert, als autoritäre Rechtskräfte versuchten, ihre
Macht nach den revolutionäre Wellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu
konsolidieren.


VON MORD ZU MASSENTERROR

Die wacklige Weimarer Demokratie der Zwischenkriegszeit in Deutschland wurde
durch Massaker an Kommunisten und radikalen Arbeiter errichtet, als der
Spartakusaufstand 1919 niedergeschlagen und die deutschen Arbeiterräte von
den Freikorps besiegt worden waren. Während der 1920er Jahre wurde die
Arbeiterbewegung zunehmend von nationalsozialistischen und faschistischen
Morden heimgesucht. Selbst im relativ friedlichen Schweden wurde aufgedeckt,
dass der Stockholmer Polizeichef Gustav Harleman in den 1920er Jahren das so
genannte Munckska Korps eine große Anzahl von Maschinenpistolen und
Revolvern kaufen ließ, um sie gegen kommunistische Unruhen einzusetzen. In
Berlin wurden im Jahre 1929 siebenundzwanzig kommunistische
Erste-Mai-Demonstranten getötet und hunderte verletzt, als die
sozialdemokratischen Behörden der Stadt Demonstrationen unter freiem Himmel
verboten und Polizei einsetzten.

Mit der Machtübernahme der Nazi in Deutschland und des Stalinismus in der
Sowjetunion sollte der Terror zur mörderischen Waffe gegen Oppositionelle
werden und neue Maßstäbe erreichen. Der stalinistische Terror und die
Säuberungen der 1930er Jahre bilden mit weit mehr als 600.000 Hingerichteten
-- darunter Tausende von der Linken Opposition, den sogenannten
"Trotzkisten" -- im schlimmsten Terrorjahr 1937 eine eigene Klasse. Der
Terror in Nazi-Deutschland hatte vor dem Krieg noch nicht den gleichen
Umfang, aber die Arbeiterbewegung wurde zerschlagen und ihre Mitglieder
wurden in Konzentrationslager verschleppt und viele ermordet und
hingerichtet.

Der Spanische Bürgerkrieg begann und endete mit Massenmorden an Anarchisten,
Sozialisten und Kommunisten.

Während des Zweiten Weltkriegs erreichte die Zahl der Massentötungen von
Anhängern der Arbeiterbewegung und der Linken natürlich völlig andere
Dimensionen. Unter den fast 60 Millionen Opfern des Krieges befanden sich
auch die Mitgliedermassen der europäischen und internationalen
Arbeiterbewegung. Nicht zuletzt die mächtige jüdische Arbeiterbewegung aus
Bundisten und linken Zionisten in Osteuropa gehörte zu denen, die
ausgelöscht wurden.


BESETZUNG NORWEGENS

Aber nicht einmal während der deutschen Besetzung Norwegens finden wir ein
ähnliches Massaker an Sozialisten wie das auf Utøya. Als die Besetzung ab
1941 härter wurde, wurden zu verschiedenen Zeitpunkten gefangene
Widerstandskämpfer hingerichtet, aber der schlimmste Massenmord geschah in
der kleinen Gemeinde Telavåg im April 1942, als zwei Gestapooffiziere beim
Versuch, Widerstandskämpfer festzunehmen, erschossen wurden. Die deutschen
Repressalien waren schrecklich. Alle Gebäude in der Gemeinde wurden
niedergebrannt, die Fischerboote versenkt, das Vieh verjagt und alle Männer
verhaftet. Von den gut siebzig Deportierten wurden dreißig ermordet.
Gleichzeitig wurden 18 Widerstandskämpfer in einem Internierungslager
anderswo hingerichtet. Im Herbst wurden dreißig Aufständische im
Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand in der Region Trondheim ermordet. Auch
in Dänemark wurden Widerstandskämpfer erschossen und getötet, von denen
viele der Linken angehörten; etwas mehr als hundert wurden zu verschiedenen
Zeitpunkten erschossen, und hunderte weitere wurden in Konzentrationslagern
oder im Kampf getötet.


PARIS UND NORDIRLAND

In der Nachkriegszeit gab es sowjetische Massaker an Anhängern der Linken
(demokratischen Sozialisten und andere) während der Aufstände in Ost-Berlin
im Jahre 1953, Ungarn 1956 und 1968 in der Tschechoslowakei. In Griechenland
und der Türkei wurden Anhänger der Linken mehrmals nach dem Krieg
hingemetzelt. Insbesondere natürlich im griechischen Bürgerkrieg 1946--49,
aber auch in Verbindung mit Militärputschen und während des Versuchs des
türkischen Militärs, die Kurden zu unterdrücken. Massenmord und ethnische
Säuberungen im Jugoslawien-Krieg gehören natürlich auch hier zu den
dunkelsten Kapiteln.

Aber wenn es um Friedenszeiten und vor allem um Westeuropa geht, ist die Tat
von Norwegen absolut herausragend. Im Oktober 1961 wurden Hunderte von
Anhängern der algerischen Befreiungsbewegung FLN bei einer Demonstration in
Paris von der Bereitschaftspolizei massakriert. In Nordirland wurden
26 Demonstranten und Passanten durch das britische Militär am "Bloody
Sunday" 1972 erschossen. Doch nie zuvor wurde die Arbeiterbewegung unter
friedlichen Bedingungen in Europa von einem derartigen Massaker getroffen.
Eine Erkenntnis, die mit berücksichtigt werden sollte, wenn der Rechtsterror
von Utøya und Oslo analysiert wird.

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Der Artikel erschien am 29.7.2011 in der Online-Ausgabe der schwedischen
Wochenzeitung Internationalen [http://www.internationalen.se/?p=39894]

Übers. Björn Mertens



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