[IPK] Tunesien und Ägypten -- Revolutionen sind in Gang gekommen (Erklärung des Büros der Vierten Internationale vom 30. Januar 2011)

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Tunesien/Ägypten:
Tunesien und Ägypten -- Revolutionen sind in Gang gekommen
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Erklärung des Büros der Vierten Internationale vom 30. Januar 2011


"Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte
Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen
Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische,
über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks:
Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen
Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen
diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen (...). Die
Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des
gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre
eigenen Geschicke."

Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution

Wie in jeder Revolution verändert sich die Situation von Stunde zu Stunde.
Diese oder jene Einschätzung wird in den kommenden Stunden und Tagen mit
Sicherheit überholt sein, aber soviel steht fest: Das tunesische und das
ägyptische Volk schreiben die Seiten der ersten Revolutionen dieses
21. Jahrhunderts. Sie lösen in der gesamten arabischen Welt eine Schockwelle
aus, von Algier bis Ramallah, von Amman bis Sanaa im Jemen. Diese
Revolutionen sind unter den besonderen historischen Bedingungen dieser
Länder Ergebnis der Krise, die das internationale kapitalistische System
erschüttert. "Elendsrevolten" verbinden sich mit einer immensen
Mobilisierung für die Demokratie. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise
in Verknüpfung mit der Unterdrückung durch die Diktaturen machen diese
Länder in der gegenwärtigen Lage zu den schwachen Kettengliedern der
imperialistischen Unterdrückung. Dadurch sind die Bedingungen für Prozesse
von demokratischen und sozialen Revolutionen entstanden.

Demonstrationen, Streiks, Versammlungen, Komitees zur Selbstverteidigung,
Mobilisierungen der Gewerkschaften und demokratischen Verbände,
Mobilisierung der Volksklassen, von "denen unten" und "denen in der Mitte",
die auf die Seite der Erhebung übergehen, "die oben können nicht mehr
regieren wie bisher", ein Zusammengehen der Parteien der radikalen
Opposition gegen das System -- das sind alle Bestandteile von
vorrevolutionären oder revolutionären Situationen, die jetzt ausbrechen.

Jetzt ist Ägypten an der Reihe, wo Millionen von Arbeitenden, jungen
Menschen, Arbeitslosen sich gegen die Mubarak-Diktatur erheben.

In Tunesien ist eine blutige Diktatur weggefegt worden. Sie hat den Hass
einer ganzen Gesellschaft, der Volksklassen und vor allem der Jugend
gebündelt. Mit dem Regime von Ben Ali, seiner Repression, seiner Korruption,
seiner sozialen Ungerechtigkeit, dem von allen imperialistischen Mächten,
von Frankreich, den USA, der Europäischen Union unterstützten System musste
Schluss gemacht werden.

Die gleiche Bewegung überflutet jetzt Ägypten.

Zwischen den beiden Ländern gibt es selbstverständlich historische
Unterschiede. Ägypten ist das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt.
Es hat eine entscheidende geostrategische Stellung im Nahen Osten. Die
staatlichen Strukturen, die Institutionen, die Rolle der Armee sind anders.
Aber eine gleichartige Grundbewegung hat die beiden Länder erfasst.

Die tunesischen Massen konnten ein Wirtschaftssystem, das sie hungern ließ,
das eines "guten Schülers der Weltwirtschaft", wie Herr Strauss-Kahn sich
ausdrückte, nicht länger ertragen. Der steile Anstieg der Preise für
Grundnahrungsmittel, fast 30 % Arbeitslosigkeit, Hunderttausende von
Jugendlichen mit Ausbildung und Qualifikation, aber ohne Stellen haben den
Nährboden für eine soziale Revolte dargestellt, der durch die Kombination
mit einer politischen Krise zu einer Revolution geführt hat.

Von 2006 bis 2008 hat es Preissteigerungen für alle wesentlichen Produkte
gegeben, darunter Reis, Weizen und Mais. Der Preis für Reis ist in fünf
Jahren auf das Dreifache angestiegen, von ungefähr 600 $ pro Tonne 2003 auf
über 1800 $ pro Tonne im Mai 2008. Die jüngste Erhöhung der Getreidepreise
ist geprägt durch den sprunghaften Anstieg des zusammengesetzten Indexes für
Lebensmittel um 32 Prozent, der in der zweiten Hälfte des Jahres 2010 zu
verzeichnen war. Der starke Anstieg der Preise für Zucker, Getreide und
Ölpflanzen hat weltweit die Preise der Nahrungsmittel im Dezember auf ein
Rekordhoch ansteigen lassen, das die Zahlen von 2008, die Unruhen in
verschiedenen Teilen der Welt ausgelöst hatten, noch übertraf.

IWF und WTO verlangen zugleich die Aufhebung aller Zollschranken und die
Einstellung sämtlicher Subventionen für Lebensmittel. Der spekulative
Anstieg der Nahrungsmittelpreise hat also einen Prozess der Schaffung von
Hunger in einem beispiellosen Umfang begünstigt, von dem eine ganze Reihe
von Ländern in Afrika und der arabischen Welt betroffen sind.

Ägypten hat die Auswirkungen dieses Hinaufschnellens der Preise für
Nahrungsmittel ebenfalls zu spüren bekommen. Der Wirtschaft gelingt es
nicht, genug Arbeitsplätze zu schaffen, um den Bedürfnissen der ägyptischen
Bevölkerung zu entsprechen. Die seit 2000 umgesetzte neoliberale Politik hat
zu einem Anschwellen der Ungleichheit und einer Verarmung von Millionen
Familien geführt. Trotz eines Wirtschaftswachstums von 5 % leben 25 % der
Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Fast 40 % der 80 Millionen Ägypter
und Ägypterinnen leben weiterhin von 2 Dollar pro Tag. Und 90 % der
Arbeitslosen sind junge Menschen unter 30 Jahren.

Bemerkenswert ist außerdem, dass der nationale ägyptische
Gewerkschaftsverband, dessen Führungskräfte von der Regierung eingestellt
worden sind, die Regierung in den beiden Wochen nach der Erhebung in
Tunesien zum Teil hat fallen lassen. Er wollte eine Preiskontrolle,
Lohnerhöhung und ein System für die subventionierte Verteilung von
Nahrungsmitteln, da die Menschen grundlegende Produkte wie Tee oder Speiseöl
nicht mehr bekommen konnten. Dass die Gewerkschaftsführung so etwas fordert,
ist beispiellos, haben diese Leute doch vorher den Neoliberalismus
unterstützt. Das ist die Auswirkung der Ereignisse in Tunesien.

Dort hat die Revolution tiefe Wurzeln: Die gegenwärtige soziale Revolution
ist Ergebnis eines Zyklus von Mobilisierungen und Bewegungen, die ihre
Stärke aus der Geschichte der Kämpfe des tunesischen Volks und seiner
Organisationen beziehen, vor allem der Bewegung der Studierenden, der
zahlreichen Verbände für die demokratischen Rechte und Freiheiten und
zahlreicher Sektoren des Gewerkschaftsverbands UGTT (Generalunion der
tunesischen ArbeiterInnen).

1999 hat es den Kampf von bestimmten Persönlichkeiten für ihre Meinungs- und
Reisefreiheit gegeben, 2000 die Schülerbewegungen, 2001 die Mobilisierungen
gegen den Irakkrieg, 2002/2003 die zweite Intifada, 2008 die Streiks und
Demonstrationen in Gafsa, im Juni 2010 in Ben Guerdane und dann Ende 2010
Sidi Bouzid, wo der Weg zur Revolution betreten wurde.

Es ist eine historische Entwicklung, die mit der Kombination von sozialer
Revolte und Sturz der Diktatur begonnen hat, die jetzt aber ihren Weg sucht,
um weiter zu gehen. Es ist eine radikale demokratische Revolution, die
antikapitalistische soziale Forderungen enthält.

Ben Ali musste fliehen, aber die wesentlichen Teile seines Polizeisystems
sind noch an Ort und Stelle. Die Stärke der Mobilisierung hat die alten
Gefolgsleute von Ben Ali nach und nach zum Ausscheiden aus der Regierung
gezwungen, aber bis zu der Stunde, in der dieser Text entsteht, ist Mohammed
Ghannouchi aus dem Umfeld Ben Alis nach wie vor Premierminister.

Die Revolution will nun eben weiter gehen: Mit den Forderungen "RCD
abtreten!" und "Ghannouchi, tritt ab!" soll das gesamte politische System,
sollen sämtliche Institutionen, soll der Repressionsapparat von Grund auf
erneuert werden. Es muss Schluss sein mit dem ganzen System von Ben Ali,
demokratische Rechte und Freiheiten müssen hergestellt werden:
Meinungsfreiheit, Streikrecht, Demonstrationsfreiheit, Pluralismus der
Vereinigungen, Gewerkschaften und Parteien.

Abschaffung des Präsidentenamts, Einsetzung einer provisorischen
revolutionären Regierung! Schluss mit der Diktatur sowie mit allen
Operationen, mit denen die Macht der herrschenden Klassen gerettet werden
sollen, erfordern jetzt die Einleitung eines Prozesses von freien Wahlen für
eine verfassungsgebende Versammlung. Damit dieser Prozess nicht von einer
neuen Macht der Oligarchien mit Beschlag belegt wird, muss er sich auf die
Organisierung von Komitees, Koordinationen und Räten des Volks stützen, die
aus der Revolution hervorgegangen sind.

In diesem Prozess treten die Antikapitalisten und Antikapitalistinnen für
die zentralen Forderungen eines Programms des Bruchs mit dem Imperialismus
und dem kapitalistischen System, zur Befriedigung der lebenswichtigen
Bedürfnisse der Volksklassen ein -- Brot, Löhne, Arbeitsplätze;
Umstrukturierung der Wirtschaft nach den grundlegenden gesellschaftlichen
Bedürfnissen -- qualitativ gute und kostenlose öffentliche Dienste,
Bildungswesen, Gesundheitswesen, Rechte der Frauen, radikale Landreform,
Vergesellschaftung der Banken und der Schlüsselsektoren der Wirtschaft;
Ausweitung des sozialen Sicherungssystems -- Arbeitslosigkeit, Gesundheit,
Renten; Streichung der Schulden und nationale und Volkssouveränität. Dies
ist das Programm für eine demokratische Regierung im Dienst der Arbeitenden
und der Bevölkerung.

Gleichzeitig organisieren die Lohnabhängigen und die Jugendlichen ihre
eigenen Versammlungen und Komitees, sei es zur Organisierung des Schutzes
der Stadtteile, um führende RCD-Leute aus der Verwaltung oder aus den
Großunternehmen zu verjagen, die Verteilung von Nahrungsmitteln zu
organisieren. Die kämpferischsten und radikalsten Sektoren müssen all diese
Strukturen der Selbstorganisation unterstützen, fördern und koordinieren.
Dies sind Stützen für die Errichtung einer demokratischen Macht der
Volksklassen.

In den Stunden, in denen wir diese Erklärung schreiben, befindet sich
Ägypten im Zustand des Aufstands. Trotz einer blutigen Repression breitet
sich die Welle der Mobilisierung des Volks aus. Millionen von
Demonstrierenden sind auf den Strassen von Kairo, aber auch von Alexandria
und Suez. Die Büros der Partei an der Macht werden angegriffen und zerstört.
Der Hass gegen das Mubarak-System, die totale Ablehnung der Korruption, die
Forderung nach Erfüllung der lebenswichtigen sozialen Forderungen gegen die
Preiserhöhungen haben die Mobilisierung aller Volksklassen geschaffen und
befördert. Die Macht wankt. Der von den USA gestützte Generalstab der Armee
versucht einen Eigenputsch, indem er Mubarak Omar Suleiman an die Seite
stellt, den Chef der Geheimdienste, eine Säule des gegenwärtigen Systems.
Die Armee steht jetzt unter Spannung. Es waren Szenen der Fraternisierung
zwischen Volk und Soldaten zu sehen. Doch kann die Führung der Armee in
Anbetracht der Entschlossenheit der Ägypter und Ägypterinnen sich auch für
Konfrontation und blutige Repression entscheiden. Die Forderungen von
Millionen und Abermillionen ist klar und eindeutig: Mit der Diktatur muss
Schluss sein. Mubarak muss weg, aber die ganze Diktatur, der gesamte
Repressionsapparat muss weggefegt werden, ein demokratischer Prozess mit
allen Rechten und Grundfreiheiten muss eingeleitet werden. Der nächste
Schritt ist der nationale Aktionstag, zu dem für Dienstag, den 1. Februar
aufgerufen wird.

Die gegenwärtige Bewegung ist die bedeutsamste seit den Brotunruhen von
1977, doch auch dort hat die Bewegung tiefe Wurzeln.

Seit 30 Jahren hält Mubarak an einem diktatorischen Regime fest, das
Oppositionelle ins Gefängnis bringt und ermordet, jede unabhängige Äußerung
der sozialen Bewegung und der politischen Opposition unterdrückt. Jüngstes
Beispiel ist die Wahlmaskerade vom November 2010 gewesen, die von der
Nationaldemokratischen Partei vollständig kontrolliert wurde und aus der sie
mit 80 % der Mandate hervorgegangen ist. In den letzten Jahren hat es
bedeutende Streikbewegungen gegeben (vor allem die der Textilarbeiter und
-arbeiterinnen in El Mahalla), Generalstreiks sowie Demonstrationen und
Proteste verschiedener sozialer Bereiche, wichtige antiimperialistische
Mobilisierungen gegen die militärische Besetzung des Iraks und Afghanistans
2004; das waren Anzeichen für die Ablehnung und Isolierung eines Regimes,
das von den USA und der Europäischen Union mit ausgestreckten Armen
unterstützt wird.

Mit Israel und Saudi-Arabien ist Ägypten eine der drei Säulen der
imperialistischen Politik in der Region. Die USA, Israel und Europa werden
sich zusammentun, um zu verhindern, dass Ägypten sich ihrer Einflusssphäre
entzieht, und sie werden alles tun, um sich einer revolutionären Entwicklung
der Proteste entgegen zu stemmen.

Die tunesische Revolution hat die arabische Region angesteckt. Für eine
ganze Generation ist dies ihre erste Revolution. Mit der Erhebung des
ägyptischen Volks kann jetzt alles umkippen. Die Mobilisierung wird
zweifelsohne in der gesamten Region Widerhall finden, an erster Stelle durch
Ermutigung des palästinensischen Volks, trotz der schändlichen Erklärungen
von Mahmud Abbas.

Jetzt ist eine Mauer der Solidarität um die revolutionären Prozesse
notwendig, die über Tunesien und Ägypten hinweg fegen, begleitet von einer
aktiven Solidarität mit den Mobilisierungen in der gesamten arabischen Welt.
Üble Schläge seitens des Repressionsapparats von Ben Ali sind nicht
auszuschließen, die Drohungen seines Freunds Gaddafi können nicht ignoriert
werden. Zudem kann der Generalstab der Armee, wenn das Regime sich für
Konfrontation entscheidet, eine blutige Repression lostreten.

Wegen der Vertiefung des revolutionären Prozesses können die westlichen
Mächte wie die herrschenden Klassen versuchen, die Dinge wieder in den Griff
zu bekommen, indem die immense Hoffnung zerschlagen wird.

Das tunesische und das ägyptische Volk müssen auf die gesamte internationale
Arbeiterbewegung und die gesamte globalisierungskritische Bewegung zählen
können. In den Gewerkschaften, den Verbänden, den Linksparteien müssen die
Kämpfe dieser Völker und die Revolte, die sich in der arabischen Region
vernehmbar macht, Unterstützung finden.

Es lebe die tunesische Revolution, es lebe die ägyptische Revolution!

Solidarität mit den Kämpfen der Völker in der arabischen Welt!



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