[IPK] Ökonomie: Krise: Die Stunde der Wahrheit

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Mo Nov 14 01:19:51 CET 2011


Ökonomie:
Krise: Die Stunde der Wahrheit
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Es zeichnet sich immer deutlicher eine neue Krise ab: die
Staatsschuldenkrise. Und es wird so getan, als ob sie mit der ersten
(Finanz-) Krise nichts zu tun habe.


Von Isaac Johsua


Am 15. September 2008 jährte sich die Pleite von Lehman Brothers zum dritten
Mal. Mit ihr hat offiziell die eigentliche Finanzkrise begonnen. Und schon
stehen wir am Anfang einer neuen Krise. Die Staaten sind überschuldet und
der Grund für diese Überschuldung soll bei den unfähigen Regierungen und
ihrer ungezügelten Ausgabenpolitik liegen. Dies ist aber keineswegs der
Grund. Die Staatsschuldenkrise ist nichts anderes als die Fortsetzung der
großen Krise, die vor drei Jahren beinahe die ganze Welt erfasst hat. Als
die Immobilienblase (insbesondere in den USA) platzte, wurde die
Verschuldung der Privathaushalte zur Verschuldung der Finanzinstitute und
diese wiederum führte zur Verschuldung der Staaten. Die Karikatur eines
Beispiels dafür wurde der irische Staat: Er übernahm die Verpflichtungen der
Banken, die von toxischen Aktiva der Finanzkrise belastet waren und
versuchte damit, ein Fass ohne Boden zu füllen: 29,3 Mrd. Euro zum Beispiel
alleine für den Versuch, die Anglo Irish Bank zu sanieren. Zur Rettung der
Banken, deren Verluste vorher verschwiegen wurden, wurden bis heute
insgesamt 50 Mrd. Euro oder fast ein Drittel des Bruttoinlandprodukts (BIP)
ausgegeben. [1]

Die Überschuldung der Privathaushalte hat die Finanzwelt gefährdet und die
Staaten haben keine Sekunde gezögert und sind ihnen zu Hilfe geeilt, ohne
irgendwelche Bedingungen zu stellen, ganz nach dem guten alten Prinzip
"Privatisierung der Profite, Vergesellschaftung der Verluste". Gemäß der
Europäischen Kommission der EU haben die 27 Mitgliedsländer im Jahr 2009 den
Finanzinstituten 352 Mrd. Euro an Hilfe zukommen lassen, das sind knapp 3 %
des BIP der EU. In dieser Summe sind die Garantien inbegriffen, die noch
keine wirklichen Ausgaben darstellen. Ohne Garantien beträgt die Hilfe an
den Finanzsektor 224 Mrd. Euro (für die Rekapitalisierung der Banken oder
zur Tilgung ihrer toxischen Aktiva oder zur Verbesserung ihrer Liquidität),
was ca. 2 % des BIP der EU-27 ausmacht. [2] In den USA beträgt die Hilfe des
Troubled Asset Relief Program (TARP) an diverse Finanzinstitute 700 Mrd.
Dollar. Gleichzeitig hat die Fed (die amerikanische Zentralbank) diesen
Institutionen für über 2500 Mrd. Dollar zinslose Darlehen gewährt. [3] Nach
offiziellen Zahlen hat in Frankreich die Rettung des Finanzsystems während
der Krise die öffentliche Hand 128 Mrd. Euro gekostet. Die Europäische
Kommission schätzt die effektiven Ausgaben des französischen Staates viel
höher ein, nämlich von 2008 bis 2009 auf 210 Mrd. Euro für
Rekapitalisierungen und Garantien, was Zweifel an der Höhe der tatsächlichen
Hilfe aufkommen lässt, da die Garantien keine Ausgaben bedeuten. Zweifel
sind auch angebracht bezüglich der 128 Mrd. Euro. [4]

Der vergiftete Stab der Überschuldung wurde so von Hand zu Hand
weitergereicht, ohne dass er deshalb aus der Welt geschafft worden wäre,
ganz im Gegenteil. Zu dieser schweren Last kamen noch die Auswirkungen des
Rückgangs der öffentlich finanzierten Aktivitäten hinzu, Auswirkungen, die
die Steuereinnahmen schmälern und zu höheren Ausgaben führen. Dabei darf die
Riesenlast der zahlreichen Pläne für den Wiederaufschwung nicht vergessen
werden. China allein hat dafür 585 Mrd. Dollar ausgegeben.

Der beste Beweis für den nahtlosen Übergang von der Immobilienkrise zur
Krise der Staaten ist aus der Tabelle 1 ersichtlich, die die Entwicklung des
Anteils der öffentlichen Defizite am BIP aufzeigt. Von 2005 bis 2007 lag
deren Umfang in den meisten europäischen Ländern in durchaus vernünftigen
Grenzen. Diese Defizite stiegen in Wirklichkeit erst 2008/09 sprunghaft an
als Folge der Bankenrettungen und der kostspieligen Wiederaufschwungpläne
und weil im Rückgang der Aktivitäten der öffentlichen Hand (und der
Steuereinnahmen) die Folgen der großen Krise des 21. Jahrhunderts spürbar
wurden. Das öffentliche Defizit der gesamten Eurozone belief sich 2009 auf
6,3 % des BIP, im Gegensatz zu 2007, als es lediglich 0,7 % betrug. In allen
OECD-Ländern stieg dieses Defizit von 1,3 % im Jahr 2007 auf 8,2 % im Jahr
2009. Einige dieser Länder wiesen 2007 sogar einen Überschuss auf. Darunter
auch einige heute besonders gefährdete Länder wie Irland oder Spanien. Hinzu
kommt, dass zahllose Steuererleichterungen für die Reichsten in den meisten
Ländern, die Steuerparadiese und die Einschränkungen in der öffentlichen
Ausgabenpolitik ebenfalls zu Steuermindereinnahmen geführt und so der
öffentlichen Hand in einem äußerst wichtigen Augenblick den finanziellen
Spielraum geraubt haben. (Tabelle 1)

Dies wird von Tabelle 2 bestätigt, die die Entwicklung der Schulden der
nationalen Verwaltungen in Prozent des BIP zeigt. 2005 liegt dieser
Prozentsatz in einigen Ländern besonders tief (zum Beispiel Irland, Spanien)
und in einigen Ländern besonders hoch (zum Beispiel Griechenland, Japan).
Doch in allen Ländern kommt es 2009, ja sogar bereits 2008 zu einem
sprunghaften Anstieg. Auch diese Tabelle zeigt klar, dass ein Zusammenhang
besteht mit der großen Krise des beginnenden 21. Jahrhunderts, sei dies nun
die Rettung der Banken mit öffentlichen Geldern, die extrem teuren
Wiederaufschwungspläne oder das Dahinschmelzen der Steuereinnahmen, von
denen der Rückgang der Aktivitäten begleitet wird. (Tabelle 2)

------------ KASTEN -----------------------------------------------

TABELLE 1: ENTWICKLUNG DER ÖFFENTLICHEN DEFIZITE (-) ODER ÜBERSCHÜSSE (+)
IN % DES BIP


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            	2005	2006	2007	2008	2009	2010
Deutschland 	-3,3	-1,6	+0,3	+0,1	-3,0	-3,3
Frankreich  	-2,9	-2,3	-2,7	-3,3	-7,5	-7,1
Griechenland	-5,3	-6	-6,7	-9,8	-15,6	-10,4
Großbritannien	-3,3	-2,7	-2,8	-4,8	-10,8	-10,3
Irland      	+1,6	+2,9	+0,1	-7,3	-14,3	-32,4
Italien     	-4,4	-3,3	-1,5	-2,7	-5,3	-4,5
Japan       	-6,7	-1,6	-2,4	-2,2	-8,7	-8,1
Portugal    	-5,9	-4,1	-3,2	-3,6	-10,1	-9,2
Spanien     	+1,0	+2,0	+1,9	-4,2	-11,1	-9,2
USA         	-2,8	-1,9	-2,3	-5,3	-10,4	-10,1
Eurozone    	-2,6	-1,4	-0,7	-2,1	-6,3	-6,0
OECD-Länder 	-2,8	-1,3	-1,3	-3,3	-8,2	-7,7

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Quelle: OECD

für Frankreich: Landesbilanz, INSEE

für die USA: Bundesbilanz, Nettokreditaufnahme des Bundes in % des BIP
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Um das Misstrauen einzudämmen zu versuchen, wurde ein europäischer Fonds
gegründet und Griechenland im Frühjahr 2010 eine erste Hilfe von 110 Mrd.
Euro zugesprochen (dessen öffentliche Verschuldung damals 140 % des BIP
ausmachten). Seither ist die Bedrohung noch gewachsen: Auf Griechenland
folgten rasch Irland und Portugal mit einer öffentlichen Verschuldung von
114 % resp. 93 % des BIP. Dann Spanien und eventuell Italien mit 120 %. Und
schließlich Frankreich, warum auch nicht. Am 21. November 2010 stürzt Irland
wegen seiner Banken und bekommt von der EU und vom IWF eine Hilfe von
85 Mrd. Euro. Am 7. April 2011 trifft es Portugal; am 3. Mai 2011 erhält es
von der EU und vom IWF 78 Mrd. Euro. Am Ende des Jahres 2010 weist es ein
Staatsdefizit von 9,2 % des BIP aus und eine Staatsverschuldung von 160 Mrd.
Euro. Gleichzeitig mit dieser "Hilfe" werden riesige Opfer abverlangt,
überall muss die Bevölkerung für eine Krise bezahlen, die sie nicht
verursacht hat.

Unter dem Druck der "Märkte" will jedes Land in Sachen Härte der Musterknabe
sein in der Hoffnung, so Sanktionen zu entgehen. Als Italien von der
Spekulation bedroht wurde, wurde überstürzt ein zweites "Sparpaket" von
48 Mrd. Euro geschnürt und am 15. Juli 2011 beschlossen. Es sieht weitere
Privatisierungen vor, das Einfrieren der Löhne und einen Anstellungsstopp
bei den Staatsangestellten sowie eine Senkung der Beiträge an die Gemeinden.
Diese Logik des "Musterschülers" ist in Tat und Wahrheit ein schrecklicher
Teufelskreis. Die massive Senkung der öffentlichen Ausgaben in allen Ländern
(USA inbegriffen) und der weitverbreitete Griff zur "Sparpolitik" führen zur
Beschränkung öffentlicher Aktivitäten. Auf die nach Erhalt der Finanzhilfe
von 78 Mrd. Euro in Portugal als Gegenleistung beschlossenen Maßnahmen
werden zwei Jahre Rezession folgen (2012/13), was selbst Befürworter dieser
Hilfe zugeben. [5] Der Rückgang der öffentlichen Aktivitäten führt zum
Rückgang der Steuereinnahmen, was wiederum das Defizit erhöht. Die "Märkte",
die zu Ausgabenkürzungen drängen, stellen ein erhöhtes Defizit fest und
verlangen für Darlehen an den betroffenen Staat ständig höhere Zinsen, womit
sie die Schuldenlast noch vergrößern. So stiegen am 11. Juli 2011 die Zinsen
auf langfristige, zehnjährige Darlehen in Spanien und Italien auf
historische Rekordhöhen, zwischen 5,5 und 6 %. Am 2. August 2011 stiegen die
gleichen Zinsen erneut: Die Zinsen auf spanische Obligationen wurden auf
6,326 % und auf italienische Obligationen auf 6,165 % erhöht. Der Abstand
zum Zinssatz Deutschlands (er lag damals bei 2,426 %), der als
Referenzzinssatz dient, stieg ebenfalls auf einen neuen Rekord. Eine mittel-
und langfristig klar unhaltbare Situation. Gleichzeitig kletterten die
Zinsen für 10-jährige Darlehen in Portugal auf 10,708 % und jene in
Griechenland blieben stabil, allerdings bei 14,454 %! [6] Und es geht
schnell: Am 27. Juli gab das italienische Schatzamt zehnjährige Titel im
Betrag von 942 Millionen Euro aus zum Zins von 4,07 %, während die
vorhergehende ähnliche Operation vom 27. Mai noch zum Zins von 2,51 %
erfolgte! [7] Sollte es in diesem Rhythmus weitergehen, wird die
Finanzierung des Defizits durch den italienischen Staat mit "Hilfe" der
Märkte schnell einmal prohibitiv.

Bei dieser Flucht nach vorn ist auf dem europäischen Gipfel in Brüssel vom
21. Juli 2011 eine Schwelle überschritten worden. Es wurde ein neues
Hilfspaket für Griechenland von 109 Mrd. Euro beschlossen. Die diesem Land
gewährten alten und neuen Darlehen wurden von 7½ auf 15 Jahre verlängert.
Der sehr hohe Zins von 6 % wurde auf 3,5 % und 4 % gesenkt. Irland und
Portugal, denen Europa ebenfalls "geholfen" hat, kommen ebenfalls in den
Genuss dieser tieferen Zinsen. Dem Europäischen Stabilitätsfonds wurden neue
Aufgaben übertragen. Er darf in Zukunft Regierungen für die
Rekapitalisierung ihrer Banken mit Darlehen unterstützen oder sogar in
Schwierigkeiten geratenen Banken direkt Darlehen gewähren. So wird die
gleiche zerstörerische Politik weiterverfolgt. Die Hilfe an die Finanzwelt
ist massiv, bedingungslos. Ihr fließen weiterhin unglaubliche Summen zu,
ohne dass dafür irgendwelche Gegenleistung, Einschränkung, Regulierung
verlangt wird. Im Gegensatz dazu werden von der Bevölkerung, die bereits
unter "Spar"-Plänen, Privatisierungen und der Zerstörung des öffentlichen
Dienstes leidet, unglaubliche Opfer abverlangt. Und dies alles, ohne dass
sich eine Lösung der Krise abzeichnet: Die /Financial Times/ schätzt, dass
die Schulden Griechenlands mit dem ganzen Maßnahmenpaket des Gipfeltreffens
lediglich um 7 % gesenkt werden können. Andere rechnen mit einer Senkung von
10 % oder 20 % [8], doch so oder so sind wir von einer Lösung weit entfernt.
2010 betrug das Staatsdefizit Griechenlands 10,4 % seines BIP anstatt der
ursprünglich geplanten 9,6 %. [9] Im Jahr 2011 wird seine öffentliche
Verschuldung 150 % des BIP übersteigen und das Land weiterhin im Würgegriff
halten, das wirtschaftlich und sozial bereits auf den Knien ist.

Der Gipfel vom 21. Juli bedeutet also lediglich die Fortführung einer
unheilvollen Politik. Er bedeutet jedoch trotzdem eine Wende, allerdings auf
einem ganz anderen Gebiet: Zum ersten Mal wurde auch ein Beitrag vom
Privatsektor, von Banken und anderen Finanzinstituten verlangt. Dies muss
als Folge des Drucks von Seiten wütender SteuerzahlerInnen gesehen werden.
Das Bewusstsein über den Ernst der Lage ist ebenfalls gewachsen und darüber,
dass nicht einfach im gleichen Stil weitergemacht werden kann. Es wurde
beschlossen, dass die Schulden des griechischen Staates nicht wie
ursprünglich vorgesehen behandelt werden und dass die Gläubiger die Wahl
haben zwischen folgenden möglichen Lösungen: Tausch ihrer Titel gegen solche
mit längeren Laufzeiten (30 Jahre), Weiterführung der abgelaufenen Titel zu
gleichen Konditionen oder Verkauf ihrer Titel mit einer Abschreibung auf
einem Wiederverkaufsmarkt.

Im letzteren Fall könnte der Europäische Stabilitätsfonds ebenfalls
eingreifen, indem er diese "Second-Hand"-Schuldbriefe aufkaufen könnte.
Tatsache ist, dass auf diesem Gipfel beschlossen wurde, dass Aufkäufe dieser
Art von allen Ländern der Eurozone einstimmig bewilligt werden müssen.
Trotzdem können Banken auf diese Art günstig einen Teil ihrer toxischen
Papiere loswerden, da für die Kosten die europäischen SteuerzahlerInnen
aufkommen. Man könnte sogar sagen, dass sie dazu aufgefordert werden, da sie
beim Kauf von Wertpapieren größere Risiken eingehen können, wohl wissend,
dass sie sie leicht wieder los werden können. Leider ist diese
Vorgehensweise nicht neu. Ist es nicht bereits so gelaufen, bevor der
Europäische Stabilitätsfonds diese Kompetenzen erteilt hat? Die Banken
vergaben Darlehen an Länder der Eurozone, ohne sich groß um deren
Überschuldung zu kümmern, so sicher waren sie, bei ernsthaften Problemen
finanzielle Hilfe aus Europa zu bekommen. So konnten sie gleichzeitig extrem
hohe Zinsen verlangen, die berühmte "Risiko-Prämie" (wobei sie sich für 1 %
bei der Europäischen Zentralbank refinanzieren können), und sicher sein,
dass sie bei Verfall ihr geliehenes Geld wieder zurückerhalten. Das Risiko,
das normalerweise vom privaten Geldgeber getragen wird, war de facto bereits
der öffentlichen Hand übertragen worden.

Der Europa-Gipfel vom 21. Juli ist aber in anderer Hinsicht eine klare
Wende: Zum ersten Mal wird Zahlungsunfähigkeit zugelassen. Es kursieren sehr
unterschiedliche Schätzungen. Der neue Hilfsplan für Griechenland soll sich
auf 160 Mrd. Euro belaufen. 109 Mrd. sollen von Europa und vom IWF stammen,
der Rest von privaten Gläubigern. Nach Angaben des IWF sollen die
Gläubigerbanken Griechenlands zwischen 2011 und 2020 135 Mrd. beisteuern,
54 Mrd. davon bis 2014. Die europäischen Banken und Versicherungen sollen
21 % von dem abschreiben, was ihnen Griechenland schuldet. [10] Doch genaue
Zahlen sind im Moment unwichtig. Es ist auch unwichtig, ob von einer
teilweisen Zahlungsunfähigkeit oder von einer selektiven Zahlungsunfähigkeit
die Rede ist. Wichtig ist, dass sie als Möglichkeit anerkannt wird. Die
Finanzlobby hat gute Arbeit geleistet: Das von den kreditgebenden Banken
abverlangte Opfer ist sehr bescheiden: Insgesamt kommen die Rückstellungen
auf griechische Wertpapiere für die französischen Banken lediglich auf
1,4 Mrd. Euro und für die deutschen Banken auf 843 Millionen. [11] Dennoch:
Ein Gläubiger des griechischen Staates hat heute nicht mehr die Gewissheit,
dass er sein Geld in vollem Umfang und zum vorgesehenen Zeitpunkt
zurückbezahlt erhält. Bereits am 22. Juli hat die Rating-Agentur Fitch
verlauten lassen, dass sie beabsichtigt, Griechenland für teilweise
zahlungsunfähig zu erklären. Am 25. Juli hat Moody's erklärt, Griechenland
stehe knapp vor der Zahlungsunfähigkeit. Diese würde eintreten, sobald der
Austausch der alten Darlehen der griechischen Verschuldung gegen neue
abgeschlossen sei.

------------ KASTEN -----------------------------------------------

TABELLE 2: SCHULDENSUMME DER GESAMTEN STAATSVERWALTUNG IN % DES BIP


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            	2005	2006	2007	2008	2009
Deutschland 	40,4	40,9	39,4	38,8	43,8
Frankreich  	53,3	52,1	52,1	54,2	60,8
Griechenland	110,3	107,5	105,8	109,6	125,7
Großbritannien	43,4	43,3	42,6	61,3	75,1
Irland      	23,6	20,3	19,8	27,7	46,0
Italien     	97,5	96,7	95,2	98,0	106,6
Japan 	     	164,3	161,4	164,2	178	n.v.
Portugal    	68,2	69,8	69,2	71,2	81,1
Spanien     	36,4	33,0	30,0	33,7	46,1
USA         	36,1	36,0	35,6	40,0	53,1

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Quelle: OECD, n.v.= nicht verfügbar
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Eine solche Zahlungsunfähigkeit kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Sie
schwächt die vielen Banken, die, geblendet von der Aussicht auf Gewinne,
riesige Mengen an öffentlichen griechischen Obligationen gezeichnet haben.
Hinzu kommt, dass die Europäische Zentralbank damit droht, bei
Zahlungsunfähigkeit als Gegenwert für Finanzspritzen an griechische Banken
keine griechischen Papiere mehr entgegenzunehmen (wie sie dies bis dahin
getan hat). Tatsächlich wollte das Europa des Geldes mit der Gewährung der
notwendigen Garantien die Europäische Zentralbank ersetzen, doch sein
Engagement bleibt unklar und es ist unsicher, ob dies genügt. Vergessen wir
vor allem nicht, dass viele Finanzinstitute, die Griechenland Darlehen
gewährt haben, sich für den Fall von Zahlungsunfähigkeit mit
Kreditausfall-Swaps (credit default swaps, CDS) abgesichert haben. CDS sind
"Derivate", deren Wert und Eigentümer unbekannt sind. Hier droht eine
Staumauer zu brechen und es könnte zu einem Tsunami kommen.

Diese Gefahr ist schon groß, doch wirkliche Gefahr droht anderswo. Die
TeilnehmerInnen am Europa- Gipfel waren vielleicht der Meinung, Griechenland
gerettet zu haben. Doch bei Zahlungsunfähigkeit könnte das Misstrauen der
Märkte sofort negative Folgen für das nächste Land auf der Liste haben
(Irland, Portugal ...): der Dominoeffekt wäre in Gang gesetzt. Die
Zahlungsunfähigkeit Griechenlands akzeptieren, kommt dem Scheitern der
gesamten bisherigen Strategie gleich. Damit würde der Zweifel wachsen, dass
mit dieser Strategie die Probleme der anderen Länder der Eurozone gelöst
werden können. Die Tatsache, dass im Schlusskommuniqué des Europa-Gipfels
Griechenland als Einzelfall bezeichnet wird, zeigt, woher Gefahr droht. Doch
die Hilfe an Griechenland könnte weiteren bedrohten europäischen Ländern
wegen deren Größe und wegen des Ausmaßes ihrer Verschuldung schwerlich
ebenfalls gewährt werden. Hier würde eine wahre Schuldenmauer bersten, was
kein Europäischer Stabilitätsfonds aufzuhalten vermöchte, wäre er mit noch
so viel Finanzmitteln ausgestattet (heute belaufen sich diese auf 750 Mrd.
Euro, aber die tatsächliche Darlehensgarantie auf 440 Mrd. Euro). Von daher
gesehen wurde eine Schwelle überschritten, als sich im Juli 2011 das
Misstrauen der Investoren gegen Italien richtete, denn dieses Land allein
wiegt wirtschaftlich mehr als doppelt so schwer wie die drei Länder
zusammen, die bis dahin "Hilfe" erhalten haben (Griechenland, Irland,
Portugal).

Wir stehen also vor einer grundlegenden Wende, sozusagen in einer Krise in
der Krise, weil Griechenland eine gigantische Zahlungsunfähigkeit einläutet
und weil die Tatsache, dass Italien zur Bedrohung dazugekommen ist, zeigt,
dass die EU nicht alle Länder retten kann, selbst wenn sie ihre
Anstrengungen koordiniert. Der Präsident der Europäischen Kommission, José
Manuel Barroso, hat schließlich zugegeben, dass heute ganz Europa von der
Verschuldungskrise betroffen ist und nicht bloß dessen Peripherie. Es muss
heute sogar anerkannt werden, dass die Überschuldungskrise der öffentlichen
Haushalte weltweiten Charakter angenommen hat, was nichts anderes ist als
ein Ausdruck der weltweiten Krise von 2008/09. Wenn die USA und Japan
momentan noch vom Diktat der Märkte verschont geblieben sind, so hängt das
mit ihrem Ruf zusammen: Wer kann sich vorstellen, dass zwei der größten
Wirtschaftsmächte der Welt zahlungsunfähig werden könnten? Hinzu kommt, dass
die Staatsverschuldung Japans im Wesentlichen von japanischen Unternehmen
getragen wird, was sie viel stabiler macht und dazu führt, dass sie der
Spekulation weniger stark ausgesetzt ist. In Wirklichkeit sind die USA und
Japan von der Überschuldung ebenso betroffen wie Europa. Die
Staatsverschuldung Japans bricht sämtliche Rekorde: Zu Beginn des Jahres
2011 229 % des BIP. [12] Das Defizit der USA (Nettokreditaufnahme) betrug im
1. Quartal 2011 9,1 % des BIP. Die Verschuldung des öffentlichen Haushalts
der USA hat Mitte Mai 2011 ihre gesetzlich festgelegte Grenze erreicht
(14 294 Mrd. Dollar). Darüber hinaus darf der Staat keine weiteren Schulden
machen. Diese Obergrenze macht 96 % des BIP der USA aus und wurde am Ende
des 1. Quartals 2011 erreicht (das BIP wird in Jahreszahlen angegeben). Als
diese Schuldenobergrenze aufgehoben wurde, stieg die Verschuldung der
öffentlichen Haushalte der USA bis am 2. August auf 14 580,7 Mrd. Dollar.
Damit wurde das gesamte BIP von 2010 überschritten und belief sich am Ende
des 1. Quartals 2011 auf 98 % des BIP. [13] Damit nähert man sich 100 %.
Nach Angaben des IWF wird dieser Prozentsatz 2012 bei 103 % ankommen. [14]
2007 betrug er 64,4 %. [15] Auch hier erfolgte dieser Sprung nach ganz klar
während der Krise von 2008/09.

Obwohl die Abstufung der öffentlichen Verschuldung der USA durch die
Rating-Agentur Standard and Poor's eine logische Folge dieser Situation war,
schlug sie wie eine Bombe ein. Am 5. August erfolgte die Abstufung von AAA
(Maximum) auf AA+ mit negativen Aussichten. Dieser Entscheid hat zur Folge,
dass amerikanische Staatsanleihen teurer werden (und somit die Verschuldung
weiter steigen wird), die Zinsen mittel- und langfristig steigen, das
weltweite Finanzsystem bedroht wird (das sich teilweise nach den Anweisungen
der amerikanischen Schatzkammer richtet), jene einen Verlust erleiden, die
Papiere von amerikanischen Staatsanleihen besitzen (in erster Linie China),
das Außenhandelsdefizit der USA immer schwieriger zu finanzieren ist, und
vor allem das Misstrauen gegenüber jeder Art von Staatsanleihen enorm
geschürt wird. Wenn man den USA nicht mehr uneingeschränkt vertrauen kann,
wie soll man dann anderen Staaten noch vertrauen? Dies alles wird die
Finanzierung aller öffentlichen Defizite weiter verteuern und weitere Länder
in die Zahlungsunfähigkeit treiben. Auch das Vertrauen der wirtschaftlichen
Akteure wird extrem schwinden, die noch weniger investieren und konsumieren
werden als bisher.

Einige orientierten sich an Keynes und dachten, dass die Budgetpolitik, die
Pläne für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung und die Erhöhung der
öffentlichen Defizite die ultimative Lösung für die Krise seien, ein Mittel,
das einzusetzen die Orthodoxie im Jahr 1929 verhindert habe und für dessen
Einsatz man heute nun den Mut gehabt habe. Es zeigt sich jetzt, dass die so
geschaffene öffentliche Verschuldung lediglich eine besondere Form einer
Krise ist, die andauert und lediglich ständig ihr Aussehen ändert. Von einer
Flucht nach vorn zur nächsten Flucht nach vorn wurde Zeit gewonnen, die
Zahlungsfristen hinausgeschoben, es ging von der Krise der New Economy zur
Immobilienkrise, von der Überschuldung der Privathaushalte zur Überschuldung
der Banken und schließlich von der Überschuldung der Banken zur
Überschuldung von Staaten. Aber die Welle der Ungleichgewichte entzieht sich
nun der Kontrolle, die Staaten sind der letzte Damm und dieser gibt nun
langsam nach. Nun ist die Stunde der Abrechnung gekommen. In meinem Buch "La
grande crise du XXIe siècle", das im März 2009 herausgekommen ist, schreibe
ich: "Man kann sich (...) fragen, ob die nächste Form der Krise nicht die
katastrophale sein wird, nämlich die des Misstrauens gegenüber
Staatsanleihen, die gewöhnlich für absolut sicher gehalten werden. Bis jetzt
hat das Kapital, das nicht mehr an die Börsen fließt oder keine
Unternehmensobligationen mehr kauft, massiv Staatsanleihen gekauft, so dass
sich die Staaten günstig finanzieren konnten. Aber auch hier wächst die
Gefahr, die sich immer klarer abzeichnet (...) Je stärker die öffentliche
Verschuldung wächst, umso teurer wird eine weitere Verschuldung. Die Staaten
können intervenieren, um das kapitalistische System zu retten, was sie bis
heute ohne Skrupel auch getan haben. Aber wer wird die Staaten selbst
retten, wenn ihre wirtschaftliche Glaubwürdigkeit bedroht ist? Sie sind die
letzte Stützmauer: nachher gibt es nichts mehr." [16]


DIE VEREINIGTEN STAATEN

Wie wir gesehen haben, war anfangs Sommer 2011 Europa das große Sorgenkind.
Es war allgemein anerkannt, dass die Welt von dieser Ausnahme abgesehen aus
der Krise herausgefunden habe. Die weltweite Konjunktur behandeln heißt,
zuerst einmal die amerikanische Konjunktur analysieren. Es lässt sich mit
Bestimmtheit nicht behaupten, die USA hätten nun die schwerste Krise seit
1929 überwunden, ganz im Gegenteil.

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GRAFIK 1: USA: SPARQUOTE DER PRIVATHAUSHALTE (%)

[Bild herunterladbar unter http://www.inprekorr.de/480-krise-1.jpg]

Sparbetrag der Haushalte im Verhältnis zu ihrem verfügbaren Einkommen


Quelle: Bureau of economic analysis (BEA), Nipa.
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Schauen wir das mal genauer an. Das BIP der USA stagnierte 2008 (-0,3 %) und
sank dann stark 2009 (-3,5 %). Ein katastrophaler Rückgang, der ohne massive
Intervention der öffentlichen Hand ins Bodenlose hätte führen können. Die
Einkommen der Privathaushalte gingen 2009 im Vergleich zu 2008 stark zurück
(-530 Mrd. Dollar). Aber der Schlingerkurs wäre noch viel größer gewesen
ohne massive Aufstockung der öffentlichen Transfer-Zahlungen zu den
Privathaushalten (+259 Mrd.). Diese Aufstockung hat die Lohnsenkung fast
vollständig wettgemacht (-272 Mrd.). Das verfügbare Einkommen der
Privathaushalte schrumpfte ebenfalls (-235,7 Mrd.), jedoch viel weniger als
ihre Gesamteinkommen. Dies wurde möglich mit einer dramatischen Senkung der
Einkommenssteuern für natürliche Personen (-294,3 Mrd.). Dies hing teilweise
mit dem Rückgang der Einkommen zusammen, aber auch mit Steuererleichterungen
großen Ausmaßes. Diese Summe (Löhne der öffentlichen Angestellten plus
öffentliche Transfer-Zahlungen an die Privathaushalte minus
Einkommenssteuern der natürlichen Personen) zeigt, in welchem Ausmaß die
öffentliche Hand die Privathaushalte unterstützt hat. 2008 beläuft sich
diese Unterstützung auf 1587,6 Mrd. Dollar, im Jahr 2009 auf 2172 Mrd., was
einer Zunahme von 584,4 Mrd. entspricht. Eine Unterstützung
außergewöhnlichen Ausmaßes. Dank dieser Unterstützung sank das verfügbare
Einkommen der Privathaushalte nur halb so viel wie deren Einkommen. Diese
Unterstützung hat verhindert, dass aus der Rezession eine tiefe Depression
wurde.

Die wesentliche Frage ist demnach, wie sich diese Wirtschaft verhalten wird,
wenn ihr dieses riesige öffentliche Gerüst einmal entzogen wird.

Wenden wir uns zu diesem Zweck den Quartalszahlen dieser Gesamtsumme zu
(Löhne der öffentlichen Angestellten plus öffentliche Transfer-Zahlungen
minus Einkommenssteuern der natürlichen Personen). Sie zeigen, dass die
massive öffentliche Unterstützung im Laufe des Jahres 2008 und im ersten
Halbjahr 2009 massiv zugenommen hat. Diese Unterstützung bleibt 2010 auf
hohem Niveau, schwankt allerdings ständig. Im 1. Quartal 2011 kommt die
Wende: die erwähnte Summe sinkt massiv(-133 Mrd. Dollar) und die
öffentlichen Ausgaben sinken deutlich (-5,9 % und -1,1 % im 2. Quartal).
Jetzt beginnt also der Rückgang der öffentlichen Unterstützung. Doch der
Privatsektor springt nicht in die Bresche. Im Immobiliensektor dauert die
Krise an: -27,7 % im Jahr 2010 (im 3. Quartal), dann Stagnation: +2,5 % (im
4. Quartal), -2,4 % im Jahr 2011 (1. Quartal) und +3,8 % (im 2. Quartal).
Die Unternehmen investieren zwar mit steigender Tendenz, doch der Rhythmus
des Wachstums verlangsamt sich: 18,6 % im Jahr 2010 (2. Quartal), 11,3 %
(3. Quartal), 8,7 % (4. Quartal) und schließlich 2,1 % im Jahr 2011
(1. Quartal), gefolgt von einem kleinen Aufschwung (+6,3 %) (2. Quartal).
Der Beitrag des Außenhandels ist manchmal positiv, aber oft negativ. Im
1. Quartal 2011 liegt das Gesamtergebnis nahe bei der Stagnation (+0,4 %)
und im 2. Quartal ist es äußerst knapp (+1,3 % BIP).

Bleibt das Wesentliche: Der Konsum der Privathaushalte, der in den USA
besonders ins Gewicht fällt (70,5 % des BIP gegen nur 56 % zum Beispiel in
Frankreich). Doch der Privatkonsum keucht unter den sinkenden Löhnen, ist
von Erwerbslosigkeit bedroht und wird von den sinkenden Werten im
Immobiliensektor negativ beeinflusst, sodass er zunehmend schwächelt. In
Jahresrhythmen betrachtet stieg er im 4. Quartal 2010 um 3,6 %, im
1. Quartal 2011 lediglich um 2,1 % und um bedeutungslose 0,1 % im
2. Quartal. Man wird einwenden, der Konsum in den USA leide nicht erst seit
kurzem unter all diesen Belastungen und er habe sich immer wieder erholt.
Das trifft zu, allerdings dank der Losung "immer weniger sparen, immer mehr
Schulden". Damit wurde die globale Nachfrage gestützt, als sie sich
abschwächte, und dies, ohne dass die Löhne erhöht werden mussten, weil der
Rückgang der Sparquote den Konsum erhöhte, ohne dass das Einkommen anstieg,
der Anstieg der Schuldenquote stützte die Konsum- oder Investitionsausgaben
(Immobilien), obwohl die Einkünfte stagnierten. Ein Modell, das auf Wunder
hofft, aber explosiv ist, da der Rückgang der Sparquote und der Anstieg der
Verschuldung einmal ein Ende haben. Die Krise von 2008/09 ist die Krise
dieses Modells und es ist kein Weg in Sicht, wie die gleichen Resultate ohne
dieses Modell erzielt werden können.

Die Sparquote der Privathaushalte steigt nun wieder an und man stellt
beeindruckt fest, dass den beiden Rezessionsjahren (2008/09) ein Anstieg
dieser Quote vorausging (von 2,4 % im Jahr 2007 auf 5,4 % im Jahr 2008).
Dies zeigt die ganze Bedeutung dieser Anpassungen, das Ausmaß des Rückgangs
dieser Quote über mehrere Jahre (2005 lag sie bei 1,5 %) hat den Konsum
belebt und folglich auch das Wachstum. Es zeigt aber auch die Bedeutung
ihres Anstiegs (siehe dazu Grafik 1). Ein solcher Aufschwung -- den es in
einer Krise unbedingt braucht -- ist aufgrund des Wiedererstarkens des
Sparens aus Vorsicht möglich geworden, aber auch durch das Platzen der
Immobilienblase und den sich daraus ergebenden Preisverfall bei den
Immobilien: Dieser Wertverlust beim Eigentum führt zu einem Konsumrückgang
und zu einem entsprechendem Anstieg der Sparquote. (Grafik 1)

Unter den Schritten der amerikanischen Wirtschaft öffnet sich ein Abgrund,
weil sich die öffentliche Unterstützung zurückzuziehen begann, ohne dass der
Privatsektor in die Bresche gesprungen ist. Dies deshalb, weil das alte
Modell ("immer weniger sparen, immer mehr Schulden") nicht mehr funktioniert
und durch kein anderes ersetzt wurde. Es ist nicht mehr möglich, was lange
Jahre der Fall gewesen ist, den Konsum mit einer tieferen Sparquote
anzukurbeln anstatt mit einem Anstieg der Einkommen. Es ist auch nicht mehr
möglich, was ebenfalls viele Jahre möglich war, den Immobiliensektor mit
bedenkenloser Verschuldung anzukurbeln. Es kam zur Krise und sie spielt ihre
Rolle, indem sie die Gleichgewichte wieder herstellt, die Sparquote der
Privathaushalte erhöht, die beinahe bei null war und die Verschuldung
eindämmt, die unerträglich geworden war (siehe Grafik 2). 2008 hatte die
Verschuldung der amerikanischen Privathaushalte ihren Höhepunkt erreicht und
belief sich auf 13 844 Mrd. Dollar. Dann sank sie 2009 auf 13 611 Mrd., 2010
auf 13 386, im 1. Quartal 2011 auf 13 318 Milliarden. Die Sackgasse ist
dergestalt, dass man sich fragen kann, ob die amerikanische Wirtschaft ohne
Spekulationsblase, ohne (Börsen-) Blase der New Economy oder ohne
Immobilienblase je wieder zu Wachstum zurückfinden kann (Grafik 2).

------------ KASTEN -----------------------------------------------

GRAFIK 2: USA: VERSCHULDUNGSQUOTE DER PRIVATHAUSHALTE

[Bild herunterladbar unter http://www.inprekorr.de/480-krise-2.jpg]

Verschuldung der Privathaushalte im Verhältnis zu ihrem verfügbaren
Einkommen

Senkrecht: Jahre des Rückgangs des realen Bruttoinlandprodukts (BIP)*


Quelle: Bureau of economic analysis (BEA) und Federal reserve board


(*) Das Jahr 2001 wurde vom amerikanischen National Bureau for Economic
Research (NBER) zum Rezessionsjahr erklärt
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Auf beiden Seiten des Atlantiks hat die Stunde der Wahrheit geschlagen, weil
die Krise in unterschiedlicher Form andauert, die diversen Hilfsmittel zum
Herausschieben der Verfallsdaten hingegen langsam erschöpft sind. In Europa
nimmt die Krise vor allem die Form der öffentlichen Überschuldung an, in den
USA wird vor allem das Wachstum abgewürgt. Doch die Entscheidung von
Standard and Poor's, die USA herabzustufen, sagt genug über den universellen
Charakter einer weltweiten Krise.

Der letzte Schutzwall, die USA, gibt langsam nach. Die "Märkte" beißen jene,
die sie gefüttert haben und fordern, mit öffentlichen Geldern gerettet zu
werden, zögern dann aber nicht, diese gleichen Staaten anzugreifen, die
ihnen geholfen haben. Unter dem Druck der "Märkte" vertieft die
"Sparpolitik" die Krise weiter. Deren Auswirkungen verschlimmern sich
dadurch, dass die "Sparpolitik" inzwischen überall angewendet wird. Mit
dieser "Sparpolitik" soll die Verschuldung gesenkt werden, sie verschlimmert
sie aber weiter, weil die Steuereinnahmen gesenkt werden. Gefangen in diesem
Teufelskreis hat die kapitalistische Welt immer mehr Mühe, einen Ausweg zu
finden, da das öffentliche Pulver verschossen ist, sei dies nun mit Hilfe
des Budgets oder mit Hilfe von Währungsmanipulationen, während die
Nationalbanken die Zinsen weiterhin hoch halten, allerdings ergebnislos.
Hinter den entwaffneten Staaten zeigen sich nun klar die unerbittlichen
Gesetze des kapitalistischen Systems, Gesetze, die vom unstillbaren Durst
nach Profit diktiert wurden, ein System, das zusammenzubrechen droht und das
die ganze Menschheit mit sich in den Abgrund ziehen könnte.


WAS TUN?

Hier kann nicht ein ganzes Programm mit allen notwendigen Maßnahmen
vorgestellt werden. Einige ergeben sich direkt aus der aktuellen Lage,
andere wären die logische Folge davon, andere wiederum greifen das
kapitalistische System in seinen Grundfesten an. Ein solches Programm wäre
zwar nützlich, doch oberste Priorität hat das Löschen der Feuersbrunst der
Verschuldung. Dann müssen die Finanzinstitute in den Griff genommen werden,
sie müssen daran gehindert werden, weiterhin Schaden anzurichten.
Schließlich müssen die Grundlagen für einen Neustart so gelegt werden, dass
Arbeitsplätze gesichert sind.

Es ist absolut dringend, das Problem der öffentlichen Schulden anzupacken.

Drei Punkte sind wichtig:

1) Es muss unabhängig von einem Land ein Moratorium auf alle bestehenden
Schulden erlassen werden. Die Schulden müssen einem Audit unterworfen
werden, um je nach den Umständen beurteilt zu werden und um festzulegen,
welche Schulden zurückbezahlt werden und welche nicht. Es ist klar, dass ein
wesentlicher Teil der Schulden nicht anerkannt wird. Der Rest wird in
Tranchen aufgeteilt, reduziert, eine Obergrenze festgelegt usw.

2) Die Statuten der Europäischen Zentralbank müssen so rasch wie möglich
revidiert werden, um das öffentliche Defizit finanziell zu decken (die EZB
kauft Titel der öffentlichen Schuld bei deren Herausgabe). Die EZB kauft
bereits solche Papiere, doch es geht vor allem um den "Second-Hand-Markt",
auf dem die von den Banken gekauften Wertpapiere weiterverkauft werden.
Damit können die Banken beim Kauf eine Risikoprämie verlangen und erhalten
gleichzeitig die Garantie, die Wertpapiere weiterverkaufen zu dürfen. Durch
die finanzielle Deckung des Defizits könnte sich die Finanzwelt nicht mehr
erpresserisch verhalten.

3) Beim öffentlichen Defizit muss die Situation neu aufgegleist werden,
insbesondere wenn auf die vom Markt zur Verfügung gestellten Fonds
verzichtet werden soll. Eine umfassende Steuerreform ist notwendig, um die
den Unternehmern gewährten Vorteile abzuschaffen und um die hohen Einkommen,
die Profite der Gesellschaften und den Besitz der Reichen hoch zu besteuern.


Die Krise hat klar gezeigt: Die Finanzwelt muss an die Kandare genommen
werden. Neben dem Verbot der Verbriefung von Forderungen und spekulativem
Kapital müssen das Bankgeheimnis aufgehoben, Steuerparadiese stillgelegt und
ein großer öffentlicher Bankenpool geschaffen werden. Letzteres soll mit
Hilfe der Verstaatlichung einer ganzen Reihe von Großbanken geschehen. Der
Bankapparat muss strenger Kontrolle unterstehen. Es bedarf einer klaren
Trennung zwischen Investmentbanken und Geschäftsbanken. Die
Finanztransaktionen müssen besteuert und die Kapitalflüsse kontrolliert
werden. Leerverkäufe müssen verboten werden, die die Spekulation mit
Papieren möglich machen. Die Börsen müssen eine untergeordnete Stellung
erhalten, was wir mit der Einführung einer stärkeren Besteuerung der
Mehrwerte, mit der Einführung einer Frist zwischen Kauf und Wiederverkauf
von Aktien oder einfach damit erreichen können, dass emittierte Papiere
nicht zediert (abgetreten) werden können. Schließlich müssen die
Zentralbanken und sämtliche Finanzinstitute der strikten Kontrolle der
öffentlichen Hand unterstellt werden.

Wenn man nicht will, dass die gleichen Ursachen immer die gleiche Wirkung
haben, muss mit dem Modell der liberalen Globalisierung gebrochen werden.
Dafür sind Dinge notwendig, die hier nicht entwickelt werden können, sei es
bezüglich des Rechts auf Unternehmensbesitz, sei es eine andere
Globalisierung (und ein anderes Europa), sei es der Umfang der
gemeinschaftlichen Güter oder die Umweltkrise. Aber unerlässlich, der
Grundstock, auf dem aufgebaut werden kann, ist ein neues Lohnverhältnis.
Eine neue Aufteilung des hinzugefügten Wertes ist notwendig, die sich
radikal von der heutigen unterscheidet, um so die Grundlagen zu schaffen für
eine andere Entwicklung. Zudem muss der Arbeitsmarkt stabilisiert werden, in
dem die unbefristeten Arbeitsverträge wieder der Normalfall werden, in dem
die verschiedenen Formen prekärer Arbeit beschränkt werden, ebenso die
Entlassungen. Die sozialen Errungenschaften müssen garantiert sein, die
"Sparpolitik" beendet und wieder öffentliche Dienste aufgebaut werden, die
diesen Namen auch verdienen.

Das sind die dringendsten Dinge. Dies zu erreichen wäre schon toll, sich
damit zu begnügen wäre unlogisch. Wird nicht gesehen, dass hinter dem einen
oder anderen "Auswuchs" der Finanzwelt der Geist eines Systems steht, des
Kapitalismus? Wird nicht gesehen, dass hinter der liberalen Globalisierung
immer noch und erneut die Ansprüche eines Systems stehen, des Kapitalismus?
Die gegenwärtige Krise hat auf der Welt bereits unsägliches Leid verursacht.
Deren neue Entwicklungen sind von daher extrem bedrohlich. Es ist Zeit,
einen Schlussstrich zu ziehen, es ist Zeit, nach neuen Ufern aufzubrechen.


17. August 2011

Isaac Johsua ist Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften an der
Université Paris XI, Mitglied der Stiftung Copernic und des
Wissenschaftsrates von Attac. Autor u. a. von "Le grand tournant -- Une
interrogation sur l'avenir du capital", PUF, Actuel Marx, Paris 2003, "Une
trajectoire du Capital. De la crise de 1929 à celle de la nouvelle
économie", Syllepse, Paris 2006, "La Grande Crise du XXIe siècle -- Une
analyse marxiste", La Découverte, Paris 2009.

Übersetzung: Ursi Urech



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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2011    (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
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Artikel im Internet:                        http://www.inprekorr.de
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[1]  Le piège de la dette publique. Comment s'en sortir, Jacques Cossart,
Evelyne Dourille-Feer (coord.), Attac, Ed. Les liens qui libèrent, Mai 2011,
S. 70 
[2]  Bericht der Europäischen Kommission in französischer Sprache. Rapport
sur les aides d'État accordées par les États membres de l'UE, mise à jour de
l'automne 2010, S. 11. Siehe http://gesd.free.fr/aides10.pdf
[3]  La dette ou la vie, Damien Millet et Eric Toussaint, coord., edit.
Aden, Mai 2011, S. 213.
[4]  Martine Orange, Mediapart, 4. Dezember 2010. Siehe
http://gesd.free.fr/aide1100.pdf
[5]  Agence France Presse (AFP), 5. Mai 2011
[6]  idem, 2. August 2011
[7]  idem, 27. Juli 2011
[8]  Martine Orange, Mediapart, 26. Juli 2011 
[9]  AFP, 9. Mai 2011
[10]  Reuters, 28. Juli 2011 
[11]  Martine Orange, Mediapart, 26. Juli 2011
[12]  AFP, 4. August 2011
[13]  AFP, 4. August 2011. Die hier erwähnte Verschuldung kommt zu jener des
ganzen amerikanischen Staates sowie der Mitgliedstaaten hinzu, ebenso die
Verschuldung der lokalen Verwaltungen, im Gegensatz zu Tabelle 2, wo nur die
Schulden der zentralen Verwaltungen aufgeführt sind. 
[14] AFP, 25. Juli 2011
[15] AFP, 4. August 2011
[16] /La grande crise du XXIe siècle/ -- Une analyse marxiste, La
Découverte, Paris 2009, S. 118--119



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