[IPK] Jakob Moneta: 1923 -- das Jahr der Entscheidung

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Geschichte:
1923 -- das Jahr der Entscheidung
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Von Jakob Moneta


Anfang 1923 zeichnete sich eine relative wirtschaftliche Stabilisierung ab.
Zum ersten Mal seit 1918 waren die Sozialdemokraten nicht mehr in der
Regierung. Reichskanzler Wilhelm Cuno, der im November 1922 eine rein
bürgerliche Regierung gebildet hatte -- er war Direktor einer der größten
Schiffsbaugesellschaften --, machte sich darf an, eine der grundlegenden
Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 -- den Achtstundentag --
auszuhöhlen. Aber ein völlig unerwartetes Ereignis änderte mit einem Schlag
die gesamte politische und wirtschaftliche Lage.

------------ KASTEN -----------------------------------------------

LIEBE REDAKTION,

mit großem Interesse las ich die Rezension der Brandler-Biographie von
Manfred Behrend. Ich kann mir aber nicht verkneifen zu berichten, dass
Brandler nach seiner Rückkehr aus Kuba zuerst in Köln Station machte (wo ich
Redakteur der Rheinischen Zeitung war) und in einem Vortrag vor etwa 30
Teilnehmer/innen Stalin so positiv bewertete, dass ich ihn fragte, warum er
eigentlich nicht Mitglied der KPD sei. Seine verblüffende Antwort lautete:
"Weil ich 1938 ausgeschlossen wurde!"
Manfred Behrend teilt offenbar die Meinung (die der Hauptstreitpunkt mit
Trotzki war), 1923 habe es keine "revolutionäre Situation" gegeben. Das
verbreiten auch alle anderen KPO-Sympathisanten.
Ich lege deshalb meine Auffassung hierzu bei, die mit der von Trotzki
übereinstimmt (veröffentlicht in: /Mehr Macht für die Ohnmächtigen/ --
Frankfurt, ISP-Verlag, 1991).
Bei aller Hochachtung vor Brandlers gewerkschaftlichen Leistungen
(Einheitsfront, Arbeiterregierung) -- vor allem als Gegner der ultralinken
Ruth Fischer und Maslow -- dürfen wir die von ihm verpatzte Revolution von
1923 nicht übersehen.

Frankfurt, den 25.10.01 

Mit solidarischen Grüßen

Jakob Moneta

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Nach dem Scheitern einer internationalen Konferenz über die deutschen
Reparationszahlungen ließ der französische Ministerpräsident Poincaré das
Ruhrgebiet militärisch besetzen, und zwar am 11. Januar 1923. Bald danach
erschütterte eine gewaltige Krise Deutschland. Die Reichsmark, die bereits
vor der Inflation angefressen war 50 000 Reichsmark (RM) waren so viel wert
wie ein Pfund Sterling -- fiel in einem einzigen Monat auf ein Fünftel ihres
Wertes.

Die Reichsregierung forderte zum "passiven Widerstand" an der Ruhr auf.
Jegliche Zusammenarbeit, jeglicher Kontakt mit den französischen
Besatzungsbehörden wurde verboten. Der Streik wurde zur patriotischen
Pflicht!

Aber der "Widerstand" bei einer galoppierenden Inflation, die z. B. den
Preis für ein Ei von 300 RM am 3. Februar 1923 auf 30 000 RM am 30. August
1923 hinauftrieb, während die Kapitalisten mit ihren "Sachwerten" sich eine
goldene Nase verdienten, musste zusammenbrechen.

Da die Arbeit mit wertlosem Papiergeld entlohnt wurde, der Export aber
Devisen, also wertbeständige ausländische Währung, einbrachte, konnten
Großkapitalisten riesige Vermögen zusammenraffen. So kaufte allein Stinnes
1 300 Unternehmen in den verschiedensten Wirtschaftszweigen auf. Jeder, der
"Sachwerte" und Waren besaß, konnte sich bereichern. Wer nur seine
Arbeitskraft zu verkaufen hatte oder Rentner war, hungerte, sank in bitteres
Elend ab. Da es keine gleitende Lohnskala gab, um mit der wahnsinnigen
Inflation Schritt zu halten, verloren die Gewerkschaften ihre
Existenzberechtigung. Sie konnte nicht einmal eine brutale Senkung des
Lebensstandards aufhalten. Es kam deshalb zu massenhaften Austritten aus den
Gewerkschaften.


ES GAB IN DER INFLATION KEINE ARBEITERARISTOKRATIE

Die Wut der Arbeitenden richtete sich gegen die Gewerkschaften, die sie
nicht schützten und passiv blieben. Es gab keine "Arbeiteraristokratie"
mehr; es gab keine bevorrechteten Beamten, Polizei und Militär wurden
zersetzt, jeder Begriff von Ordnung, Gesetz und Recht wurde zu einer
sinnlosen Leerformel. Als Monate später die Währung stabilisiert wurde,
waren 4 000 Milliarden RM -- vier Billionen -- so viel wert wie ein einziger
US-Dollar!

Wie reagierte nun die KPD auf diese Lage, in der tatsächlich alle, die von
Lohn, Gehalt oder Renten bzw. Pensionen lebten, in Mitleidenschaft gezogen
wurden? Sie hatten alle schließlich für das Parlament oder auch die
staatliche "Ordnung" nur noch ein müdes Lächeln übrig.

Nach dem 3. Weltkongress der K.I. (1921) war die Wende zur Politik der
Einheitsfront mit Ach und Krach durchgesetzt worden. Sie begann auch, die
Massen anzuziehen. Die KPD trat in langwierige Verhandlungen mit den
Sozialdemokraten ein und ging auch sehr pädagogisch in den Gewerkschaften
vor. Diese Linie hielt die KPD nach 1921 -- nach dem 3. Weltkongress -- zwei
Jahre lang durch und erzielte damit auch außerordentlich gute Ergebnisse.
Ihr Einfluss in den Gewerkschaften -- ablesbar an der Zahl der von ihr
eroberten Delegiertenmandate wuchs beträchtlich.

Gleichzeitig wurde aber diese neue Linie der Einheitsfront zu einer Art
Routine, von der sozusagen automatisch Ergebnisse erwartet wurden, ohne sie
immer wieder in Bezug zur realen Entwicklung zu setzen. Und genau das sollte
sich im Krisenjahr 1923 verheerend auswirken.

Die Arbeiter verließen 1923 nicht nur die Gewerkschaften in Massen, sondern
wandten sich auch von der Sozialdemokratie ab. In den Revolutionsjahren
1918/19 hatte die SPD davor gewarnt, das Chaos durch einen Sieg der
Bolschewiken heraufzubeschwören. jetzt aber war das furchtbare Chaos der
Inflation da, und die SPD hatte es keineswegs verhindern können!


DIE MASSEN ERWARTETEN INITIATIVEN DER KPD

Die KPD schien in dieser Stunde die einzige Kraft zu sein, die der
Arbeiterklasse einen Ausweg anzubieten vermochte. Sie konnte sich damals
außerdem auf das große Prestige stützen, das die siegreiche
Oktoberrevolution in der deutschen Arbeiterklasse errungen hatte. Die Massen
wandten sich der KPD zu und erwarteten von ihr, dass sie die Initiative
ergreife. Zurecht vermied die Arbeiterklasse, sich in fruchtlose spontane
Kämpfe zu stürzen, ohne dass diese miteinander koordiniert wären, die
nacheinander erfolgten und deshalb leicht zerschlagen werden konnten. Sie
hatte aus ihren Erfahrungen von 1918/19, aus der Märzaktion, aus der
Bayerischen Räterepublik ihre Lehren gezogen. Sie wusste, dass verstreute
Kämpfe nicht den großen Sieg bringen konnten und oft genug nur mit Blut
bezahlt wurden. Ihrerseits aber wartete die Führung der KP auf ein Zeichen
der Massen, auf einen spontanen Ausbruch, weil sie glaubte, die
Arbeiterklasse sei zu erschöpft, um zu handeln. Als gebrannte Kinder der
Märzaktion 1921 fürchteten sich die Führer, eine vorzeitige Aktion zu
starten, und taten nichts, um die Massen zu mobilisieren. Gewiss, die
konfuse "Linke" in der Partei, Ruth Fischer vor allem, hatte stets verlangt,
die Partei sollte sich an die Spitze der Bewegung setzen, um die Macht zu
erobern. Aber ob die Zeit hierfür reif war oder nicht, sie hatte das immer
gefordert. Darum hörte auch diesmal auf sie kaum jemand.

Auf dem 8. Parteitag der KPD (er fand vom 28. Januar bis zum 1. Februar 1923
in Leipzig statt) wurde über die "Arbeiter-Einheitsfront" und die
"Arbeiterregierung" diskutiert. Die Führung der Partei mit Heinrich Brandler
und August Thalheimer an der Spitze setzte sich für eine Einheitsfront mit
den Sozialdemokraten auch "von oben" ein. Sie schlug vor, in Sachsen und
Thüringen, wo die Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten eine
Mehrheit im Landtag hatten und wo es eine starke Linke in der SPD gab, eine
"Arbeiterregierung" zu bilden.

Die Leitsätze "zur Taktik der Einheitsfront und der Arbeiterregierung", die
mit 118 gegen 59 Delegiertenstimmen angenommen wurden, waren im Wesentlichen
durchaus richtig und bedeuteten einen Schritt nach vorn.

Die "Linke" mit Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Ernst Thälmann wollte nur
eine "Einheitsfront von unten", nur an der Basis, befürworten. Eine
Arbeiterregierung, meinte sie, dürfe nur unter Führung der KP gebildet
werden!


DIE RUHRBESETZUNG WAR KEIN KONGRESSTHEMA

Aber das brennendste Problem, das akute Problem der Ruhrbesetzung und die
Folgen, die sich hieraus ergaben -- damit beschäftigte sich der 8. Parteitag
nicht. Und zwar weder die "Rechte" noch die "Linke". Da die "Linke" aber
nicht wieder ins Zentralkomitee gewählt wurde, brach erneut der interne
Streit heftig aus und führte an den Rand einer Spaltung.

Die "Linke" setzte nun ihre eigene Politik an der Ruhr fort, wo sie
Zusammenstöße hervorrief. Es gab Tote. Die KP ergriff am 13. April 1923 "die
Macht" -- in Mülheim! Arbeiterräte und Milizen wurden gebildet. Eine Zeit
lang waren Bochum und Gelsenkirchen im Aufstand. Die Parteiführung
verurteilte diese Aktionen der "Linken" als Putsch, obwohl die "Linke" sie
gar nicht ausgelöst hatte. Diese lokalen "Unruhen" waren in Wirklichkeit
eher ein Zeichen für den in der Arbeiterklasse wachsenden oder
wiederbelebten Kampfgeist. Sie blieben jedoch ohne allgemeines Ziel!

Im Mai 1923 setzte das Exekutiv-Komitee der Dritten Internationale nochmals
durch, dass die "Linke" einem Kompromiss zustimmte.

Die Linie der "Einheitsfront" wurde nochmals bestätigt, und revolutionäre
Initiativen wurden verurteilt, solange bis es auch im übrigen Deutschland
und in Frankreich eine revolutionäre Bewegung geben werde. In Frankreich und
im Ruhrgebiet leistete damals die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF)
unter (dem später zu den Faschisten übergegangenen) Jugendführer Doriot eine
hervorragende revolutionäre Arbeit unter den Soldaten, die sich vielfach mit
den deutschen Arbeitern solidarisierten.

Die Vertreter der Internationale traten im Mai 1923 für ein Bündnis der KP
mit dem linken Flügel der SPD in Sachsen ein, aber gegen die Beteiligung der
Kommunisten an der Landesregierung. Für ganz Deutschland wurde die Losung
einer "Arbeiterregierung" ausgegeben. Das ZK der KP sollte durch Führer der
"Linken" erweitert werden, die sich aber verpflichten mussten, den
"Bürgerkrieg" innerhalb der Partei einzustellen.

Es kann keinen Zweifel geben, dass hier die Kommunistische Internationale
mit sehr viel Takt und einem starken Sinn für ihre Verantwortung gehandelt
hatte.


EINE NEUE "LINKE" IN DER SPD

Inzwischen verschärfte sich die Krise in Deutschland. Die deutsche
Bourgeoisie war diesmal in einer sehr viel kritischeren Lage als 1918/19,
weil ihre stabilste Stütze, der sozialdemokratische Apparat, zusammenbrach.
Die Führung der SPD war ebenso reaktionär und zynisch wie zur Zeit von Noske
-- aber zum ersten Mal entstand innerhalb der SPD ein linker Flügel, der
nichts mehr mit den alten "Unabhängigen", den USEPETERN, zu tun hatte.
Dieser linke Flügel, der in Opposition zur Parteiführung stand, erkannte die
Notwendigkeit einer Einheitsfront der Arbeiterklasse an. In Sachsen war
dieser Flügel unter der Führung von Zeigner sehr stark. Im März 1923 löste
die SPD im sächsischen Landtag ihre Koalition mit den bürgerlichen Parteien
auf, und die neue Regierung Zeigner stützte sich auf die Stimmen der
kommunistischen Landtagsfraktion. Das Kräfteverhältnis innerhalb der
Arbeiterklasse änderte sich in ganz Deutschland rasch zugunsten der KP. Von
den Berliner Metallern erhielten die Vertreter der KP im Deutschen
Metallarbeiterverband, dem Vorläufer der IG Metall, 54 000 Stimmen, die SPD
nur 22 000. Es gab eine Reihe von Massenorganisationen, die unter
kommunistischer Kontrolle standen: Preisüberwachungsausschüsse,
Betriebsräte, es entstand eine neue Schicht von revolutionären Obleuten, von
Arbeitermilizen. 


STALIN: NICHT ANSPORNEN!

Die KP-Führung beschloss, am 11. Juni 1923 in Berlin eine
Massendemonstration durchzuführen und für den 29. Juli einen
"antifaschistischen Tag". Die preußische Regierung verbot die Demonstration.
Daraufhin unterwarf sich die KP-Führung dem Verbot. Die "Linke" in der KP
betrachtete dies als Kapitulation.

Wieder musste die KI intervenieren, und diesmal nahm der neue
Generalsekretär der Partei, Stalin, zum ersten Mal Stellung in einer Frage,
die Deutschland betraf. Er führte alle außergewöhnlichen Umstände auf, die
den Sieg der Bolschewisten in Russland während der Revolution des Jahres
1917 begünstigt hatten, und er schloss mit den Worten: "Die deutschen
Kommunisten haben im gegenwärtigen Augenblick nichts desgleichen. Gewiss,
sie haben in ihrer Nachbarschaft die Sowjetunion, was wir nicht hatten, aber
was können wir ihnen im gegenwärtigen Augenblick bieten? Wenn die Macht
heute in Deutschland sozusagen fallen würde und die deutschen Kommunisten
sie aufnähmen, würden sie mit Krach durchfallen."

Er riet dem Politbüro eindringlich, alles zu unterlassen, was irgendwie die
kommunistische Aktivität in Deutschland ermuntern könnte, weil sie der
Bourgeoisie und den Sozialdemokraten in Deutschland ("heute stehen alle
Chancen auf ihrer Seite") den Vorwand zu einem entscheidenden Schlag gegen
den Kommunismus hätte liefern können. "Ich bin der Meinung, dass wir die
deutschen Kommunisten nicht nur nicht anspornen dürfen, sondern sie vielmehr
zurückhalten müssen." Stalin übersah allerdings, dass im Gegensatz zu
Russland im Jahre 1917 die deutsche Industriearbeiterschaft eine viel
größere -- ja die entscheidende Rolle im revolutionären Prozess spielen
konnte.

Obwohl nun die Demonstration in Berlin per Telegramm ab gesagt wurde, kamen
in Versammlungen 250 000 Menschen zusammen, und die Passivität der
KP-Führung wurde scharf kritisiert. Diesmal spornten die Massen die Führung
an!

Die revolutionäre Temperatur stieg fieberhaft an. Betriebe wurden besetzt.
Über 100 000 Metall- und Bergarbeiter traten in Oberschlesien den Streik.
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte streikten mehr als 120 000
Landarbeiter in Ostpreußen. Die Arbeiter der Staatsdruckerei traten in den
Ausstand. Da es deshalb keine Banknoten mehr gab, wurde der gesamte
Zahlungsverkehr gelähmt. In Berlin rief ein in den Betrieben entstandener
"Ausschuss der 15" zum Generalstreik auf, der fast geschlossen befolgt
wurde.

Dieser Fünfzehner-Ausschuss der revolutionären Berliner Betriebsräte war ein
Jahr zuvor, am 27. August 1922, gebildet worden. Er hatte gegen den Willen
der Gewerkschaftsführung eine Berliner Betriebsrätevollversammlung am
30. August 1922 durchgeführt, ließ sich aber niemals zu
gewerkschaftsfeindlichen Äußerungen provozieren. 6 000 Mitglieder von
Betriebsräten waren zu dieser Vollversammlung erschienen!

Für den 10. August 1923 lud die Berliner Gewerkschaftsführung alle Parteien
ein: Sozialdemokraten, Unabhängige, Kommunisten, um herauszufinden, ob die
Gewerkschaften die sich spontan ausbreitenden Streiks unterstützen sollten.
Hätten die Gewerkschaften diese Streikbewegung offiziell unterstützt, wäre
der Sturz der bürgerlichen Regierung und die Bildung einer Arbeiterregierung
(die Karl Legien schon nach dem Kapp-Putsch vorgeschlagen hatte) so gut wie
sicher gewesen.


OTTO WELS SAH HINTER DEN STREIKS: DAS "HAUPT DER ANARCHIE"


Viele Gewerkschaftsführer waren für die offizielle Ausrufung des Streiks,
aber der Sozialdemokrat Otto Wels sah das "Haupt der Anarchie" hinter dieser
Streikbewegung sich erheben. Die Cuno-Regierung witterte sofort die Gefahr
und machte der Arbeiterklasse einige Versprechungen. Jedenfalls wurde der
Vorschlag der KP, den Streik gewerkschaftlich offiziell zu machen,
verworfen. Trotzdem ging die Streikbewegung weiter und breitete sich sogar
im Lande aus. Aber am 12. August bildete Stresemann zusammen mit den
Sozialdemokraten eine neue Regierung, der Streik starb langsam ab, die
Sozialdemokratie hatte wieder einmal die Bourgeoisie gerettet.

Am 23. August 1923 bemerkte das Politbüro der KP endlich, dass es in
Deutschland eine außerordentliche revolutionäre Chance gab (die aber zu
diesem Zeitpunkt -- nach dem Eintritt der SPD in die Reichsregierung
-wahrscheinlich schon vorbei war!). Heinz Brandler, der nach Moskau gefahren
war, um erneut Maßnahmen gegen die eigene Parteilinke zu fordern, war dort
völlig überrascht worden von einer leidenschaftlichen Diskussion über die
Notwendigkeit eines "deutschen Oktober".

Brandler wurde nahegelegt, sich auf einen revolutionären Aufstand
vorzubereiten, obwohl gerade er die "Linke" -- die das allerdings in einer
äußert konfusen und unernsten Weise gefordert hatte -- stets bekämpft hatte.

Brandler weigerte sich jedoch strikt, einen Termin für den Aufstand
festzulegen. Er erhielt die Zusage, dass ihm eine Reihe erfahrener
sowjetischer Militärs zur Verfügung gestellt würden, was auch geschah. Die
neue deutsche Stresemann-Regierung mit der SPD als Koalitionspartner
versuchte inzwischen, die wirtschaftliche Lage in den Griff zu bekommen. Sie
stimmte einer gleitenden Lohnskala zu, was die gewaltigen Profitspannen
verringerte, aber die Inflation ging vorläufig weiter ...

Jetzt aber bereitete sich die KP ernsthaft auf den Aufstand vor. Nur geschah
dies in einem bereits relativ beruhigten sozialen Klima und ohne, dass die
Partei die Massen in Bewegung setzte. Sie fürchtete sich nämlich davor, der
Armee einen Vorwand zum Eingreifen zu liefern.

Diesmal verhielten sich übrigens sowohl die "Rechten" wie auch die "Linken"
in der Partei gleichermaßen vorsichtig.


KOMMUNISTEN TRETEN IN DIE SPD-REGIERUNG EIN

Anfang Oktober 1923 forderte der sächsische sozialdemokratische
Ministerpräsident Zeigner die Kommunisten dazu auf, in seine Regierung
einzutreten. Heinz Brandler, der sich damals in Moskau aufhielt, war diesmal
gegen eine Regierungsbeteiligung, weil dies (im Augenblick, in dem ein
Aufstand vorbereitet wurde) die Massen verwirren würde. Aber Sinowjew
verlangte von ihm im Namen des Exekutivkomitees der KI, in die Regierung
einzutreten, weil der entscheidende Augenblick in vier oder sechs Wochen
eintreten werde und man deshalb alle wichtigen Posten besetzen müsse, wenn
Zeigner sich bereit zeigen sollte zu kämpfen.

Man solle auch sofort 50 000 bis 60 000 Menschen bewaffnen und den Chef der
Reichswehr in Sachsen, General Müller, ins Leere laufen lassen

Am 10. Oktober 1923 traten die Kommunisten in die Länderregierungen von
Sachsen und Thüringen ein, aber weder war damit eine Mobilisierung der
Arbeiterklasse verbunden noch auch ihre Bewaffnung. Genau dieser Eintritt
der KPD in die Länderregierungen diente aber jetzt der deutschen
Bourgeoisie, einschließlich den sozialdemokratischen Ministern in der
Berliner Reichsregierung, als Vorwand für bewaffnetes Eingreifen gegen einen
völlig legalen Regierungseintritt der im Landtag vertretenen KP von Sachsen
und Thüringen.


EBERT SETZT DIE REGIERUNG AB

Am 14. Oktober 1923 beauftragte der sozialdemokratische Reichspräsident
Friedrich Ebert General Müller, die Ordnung in Sachsen wieder herzustellen
und die Regierung von Sozialdemokraten und Kommunisten abzusetzen! Auch
viele Sozialdemokraten empfanden dies als unerhörte Herausforderung.

Am 21. Oktober 1923 forderte eine Konferenz der Gewerkschaft der
Hafenarbeiter in Hamburg die Ausrufung eines Generalstreiks, um die
Intervention der Reichswehr gegen die sächsische Regierung zu verhindern.
Kommunisten waren dagegen. Sie wollten keinen vorzeitigen Kampf auslösen und
warteten auf das Signal zum Aufstand.

Am selben 21. Oktober 1923 tagte in Chemnitz die "Konferenz der sächsischen
Arbeiterorganisationen". Ihre Tagesordnung war auf einer früheren Sitzung,
die vor den katastrophalen Folgen des Einmarschs französischer und
belgischer Truppen ins Ruhrgebiet stattgefunden hatte, beschlossen worden.
Es sollten ausschließlich soziale Fragen behandelt werden: Löhne, Preise,
Unterstützung der Arbeitslosen usw.

Wegen des Einmarschs der Reichswehr in Sachsen und Thüringen hatte die
"permanente Kommission der Konferenz" auf Antrag ihrer kommunistischen
Mitglieder die Einberufung auf Sonntag, den 21. Oktober vorverlegt.

Anwesend auf dieser Konferenz waren in Chemnitz 140 Betriebsräte, 120
Delegierte der Gewerkschaften, 79 Vertreter von Kontrollausschüssen (etwa
vergleichbar gesetzlich nicht verankerten Mitbestimmungsgremien), 26 höhere
Angestellte von Konsumvereinen, 15 Funktionäre antifaschistischer
Aktionsausschüsse und 26 leitende Angestellten der Gewerkschaftsbürokratie.
Keineswegs war diese Konferenz repräsentativ für die gesamte Arbeiterschaft.

Bei Beginn der Tagung beantragte nun eine Delegation des ZK der KPD, die
Frage des Einmarschs der Reichswehr vorrangig zu behandeln und als
Gegenmaßnahme den Generalstreik in ganz Deutschland zu proklamieren.

Daraufhin erklärte der linke Sozialdemokrat Graupe, Minister in der
Koalitionsregierung SPD/KPD von Sachsen, er werde an der Spitze der
sozialdemokratischen Delegierten sofort den Sitzungsaal verlassen, wenn von
der festgelegten Tagesordnung -- den sozialen Fragen also -- abgewichen
würde und man die Frage des Generalstreiks gegen den Reichswehreinmarsch
behandeln werde.


HEINRICH BRANDLER SCHEUT VOR DEM AUFSTAND ZURÜCK

Ohne die linke SPD wollte das ZK der KPD unter Führung von Heinrich Brandler
die Verantwortung für die Ausrufung eines Generalstreiks nicht übernehmen.
Dazu kam aber auch, dass die Losung "Generalstreik" für die seit August
durch die KP mit Hilfe der SU geschaffene Militärpolitische Organisation
(MPO) das Stichwort für die Auslösung des bewaffneten Aufstandes war. Auch
die "linke" Opposition der KPD unter Ruth Fischer stimmte diesmal Brandler
bei.

Nach einer längeren Debatte wurde schließlich von der KPD-Führung folgendes
beschlossen: 

In irgendeiner Stadt wird ein "spontaner" Aufstand angekurbelt. Löst dieser
Aufstand echte spontane Massenbewegungen in den großen Industriebetrieben
aus, kommt es zu bewaffneten Aufständen in verschiedenen Teilen des Reiches,
dann wäre dies ein sicheres Anzeichen für das Vorhandensein einer akuten
revolutionären Situation. Dann könnte das ZK der KPD, ohne sich von den
Massen zu isolieren, den Generalstreik in ganz Deutschland proklamieren und
damit den bewaffneten Aufstand mit dem Ziel der Machtergreifung entfesseln,

Sollte aber die lokale bewaffnete Aktion nicht zünden und das Fass der
aufgespeicherten Volksempörung nicht zur Explosion bringen, dann würde damit
der Beweis geliefert, dass die subjektiven Voraussetzungen für die
Entscheidungsschlacht eben noch nicht gegeben wären. Der lokale Aufstand
würde dann eben als spontane Aktion erklärt, für die das ZK der KPD keine
Verantwortung habe, und es hätte die Folgen hierfür nicht zu tragen.

Auf der Konferenz der sächsischen Arbeiterorganisationen war Brandlers
Vorschlag, den Generalstreik auszurufen und bewaffneten Widerstand gegen den
Einmarsch der von Berlin entsandten Militärs zu leisten, auf eisige Stille
gestoßen. Nach der Drohung des sozialdemokratischen Ministers Graupe, mit
seinen Genossen die Konferenz zu verlassen, wenn dieses Thema auch nur
diskutiert würde, wurde die Resolution von Brandler still beerdigt.

Brandler, der nicht selbst die Verantwortung für den Aufstand tragen wollte,
der den Aufstand von Delegierten entscheiden lassen wollte, die zum ersten
Mal mit diesem Problem konfrontiert worden sind und deren soziale
Zusammensetzung keineswegs repräsentativ war für die Arbeiterklasse
insgesamt, musste vor allem darum scheitern, weil ohne eine vorausgegangene
Mobilisierung der Massen niemand das Gefühl hatte, dass es diesmal ernst war
und es tatsächlich Chancen gab zu siegen! 


DER HEROISCHE UND UNSINNIGE HAMBURGER AUFSTAND

Nur durch ein Missverständnis wurde in Hamburg dann doch noch der
berühmt-berüchtigte "Aufstand" ausgelöst: Die Hamburger Kommunisten haben
sich heroisch geschlagen, aber während sie eine Polizeistation nach der
anderen besetzten, nachdem Hans Kippenberger, der hervorragende militärische
Organisator und politische Leiter des Aufstandes, mitten in der Nacht
geweckt worden war, um sich in dieses Abenteuer zu stürzen, gingen die
Arbeiter, die von all dem nichts wussten, ruhig zur Arbeit. Hans
Kippenberger, der später, während der Stalin?schen Säuberungen "liquidiert"
wurde (er ist inzwischen rehabilitiert), hat einen genauen Bericht über den
Hamburger Aufstand verfasst, der in der Sammlung von A. Neuberg (Pseudonym
von Erich Wollenberg) /Der bewaffnete Aufstand/ (Europäische Verlagsanstalt,
Frankfurt a. M. 1971) veröffentlicht worden ist.

In der Diskussion, die hinterher in der KI über den verfehlten deutschen
Oktober geführt wurde, erklärte Leo Trotzki: Wenn die KP eine scharfe
Wendung vollzogen hätte, wenn sie die fünf oder sechs Monate, die ihr die
Geschichte einräumte, dazu verwendet hätte, direkt, politisch
organisatorisch, technisch die Machtergreifung vorzubereiten, hätte der
Ausgang des Kampfes ganz anders sein können. Erst im Oktober aber hat die
Partei sich umorientiert. Es blieb ihr zu wenig Zeit, um ihren Elan zu
entwickeln. Ihre Vorbereitungen gewannen einen fieberhaften Charakter, die
Massen konnten nicht folgen. Der Mangel an Selbstsicherheit übertrug sich
auch auf das Proletariat, das im entscheidenden Augenblick sich weigerte zu
kämpfen. Die Partei hat es versäumt, zu Beginn der neuen Phase (Mai--Juni
1923) sich vom Automatismus ihrer vorherigen Politik zu befreien, in der sie
sich für alle Ewigkeit eingerichtet zu haben schien. Sie hat es versäumt, in
ihrer Agitation klar die Organisation, die Technik, das Problem der
Machtergreifung zu stellen.


VIEL ZU SPÄT WURDE DER KURS AUF DEN BEWAFFNETEN AUFSTAND GENOMMEN

Erich Wollenberg, der während der Münchener Räterepublik Kommandeur der
Infanterie der Armeegruppe Dachau war und unter dem Namen "Walter" einen im
Mai 1923 im Zusammenhang mit einem Generalstreik im Ruhrgebiet spontan
ausgebrochenen bewaffneten Aufstand in Bochum leitete, schreibt: (in: /Der
bewaffnete Aufstand/, S. 34): "Eine der Ursachen der Niederlagen der
deutschen Revolution 1923 lag darin, dass die Kommunistische Partei
Deutschlands viel zu spät den Kurs nahm auf die unmittelbare Vorbereitung
des bewaffneten Aufstandes. Das Nahen einer unmittelbar revolutionären
Situation in Deutschland hätte, wäre eine bolschewistische Führung unserer
Partei vorhanden gewesen, diese zweifelsohne schon im Augenblick der
Besetzung des Ruhrgebietes und des Rheinlands durch die französischen
Truppen, oder unmittelbar nach ihr, voraussehen können.

Eben von diesem Moment ab setzte die einschneidende wirtschaftliche und die
durch sie hervorgerufene politische Krise in Deutschland ein. Eben damals
bereits wurde in mehreren Bezirken Deutschlands (Sachsen, Halle, Merseburg
u.a.) auf Initiative der Arbeiter selbst mit der Organisierung der
proletarischen Kampfhundertschaften begonnen. Demgegenüber nahm das ZK der
Kommunistischen Partei den Kurs auf die Bewaffnung der Arbeiter, auf den
bewaffneten Aufstand, erst während des dreitägigen Generalstreiks Anfang
August, der die (deutschnationale) Regierung Cunos hinwegfegte, man hatte
sich beträchtlich viel Zeit entgehen lassen...

Unsere Kommunistische Partei, richtiger ihre Führung, hat die Bedeutung der
Besetzung des Ruhrgebietes und des Rheinlandes durch Frankreich nicht
rechtzeitig erkannt, sie hat die Bedeutung der im Zusammenhang damit für die
deutsche Wirtschaft eingetretenen Verluste von 80 Prozent der Eisen- und
Stahlerzeugung und 71 Prozent der Kohle sowie die Bedeutung der Politik des
?passiven Widerstands? der deutschen Regierung gegen die Besatzungsmächte
nicht erfasst. Infolgedessen vermochte sie das Nahen der Wirtschaftskrise im
Lande, die in ihrem Gefolge die revolutionäre Krise auslöste, nicht
rechtzeitig vorauszusehen."

Die Lehren der Erfahrung von 1921, von 1923, aus der Räterepublik in Bayern,
der November-Revolution 1918/19 -- aber insbesondere auch aus der
katastrophalen kampflosen Niederlage von 1933 -- dürfen nicht vergessen
werden.

Sie bezeugen einerseits eine Kampftradition der deutschen Arbeiterklasse,
die hinter dem revolutionären Elan anderer Länder nicht zurücksteht. Nur
wenn wir die Erinnerung an diese wachhalten, können wir hoffen, dass sie in
ähnlich kritischen Situationen zu neuem Leben auferstehen wird.

Sie bezeugen aber auch die Bedeutung einer revolutionären Führung, die
aufgrund einer sorgfältigen Einschätzung der Kräfteverhältnisse sich weder
zu forschen Abenteuern hinreißen lässt, noch auch davor zurückschreckt, sich
auf einen Kampf einzulassen, wenn dieser nicht die Gewissheit, aber die
Chance zum Sieg bietet.



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