[IPK] Weltweite Flüchtlingskrise und Krise der EU

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Sa Okt 31 19:26:47 CET 2015


Europa:

Weltweite Flüchtlingskrise und Krise der EU

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Die dramatische Zunahme der Migration hat vielfältige Gründe: die endlosen
Kriege, die Klimakrise, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts.

 

 

Von Pierre Rousset

 

 

Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben notgeborene
Bevölkerungsverschiebungen solche Ausmaße erreicht und noch nie waren sie so
mörderisch und gefährlich durch viele Unwägbarkeiten für so viele Kinder,
Frauen und Männer, die unmenschlichen Lebensbedingungen und unerträglichen
Leiden ausgesetzt waren.

 

Diese echte Tragödie offenbart die blanke Wahrheit der neuen internationalen
Ordnung, wie sie die kapitalistische Globalisierung installiert hat. Und wie
es die wachsende Vielfalt und zunehmend weltweite Ausdehnung der
Migrationsströme bezeugen.

 

Die Aufmerksamkeit richtet sich heute auf die Kriegsflüchtlinge aus dem
Nahen Osten, doch gibt es reichlich weitere militärische Konflikte, vor
allem in Afrika, die die Bevölkerung in die Flucht treiben. Es ist noch
nicht lange her, da standen die Millionen von Opfern des Klimawandels in
Asien im Focus der Aufmerksamkeit. Wie viele sogenannte
Wirtschaftsflüchtlinge auch immer es derzeit gibt -- sie unterliegen Zwängen
(sind somit politisch). Denn sie werden aus ihren gesellschaftlichen
Zusammenhängen gerissen durch die Angriffe des Neoliberalismus und durch die
Gewaltherrschaft von Regimes, die von den westlichen Mächten gestützt
werden.

 

Migration gab es auch vorher. Noch in der jüngsten Vergangenheit kehrten die
Menschen aus Perspektivlosigkeit der Heimat den Rücken -- wie zum Beispiel
die philippinische Lehrerin, die nun in Italien illegal als Haushaltshilfe
arbeitet. Derzeit erleben wir, dass es bei der Flucht ums blanke Überleben
geht. In Europa ist es noch nicht soweit, jedoch -- Zeichen der Zeit --
erleben wir auch hier wieder regelrechte Emigrationsströme aus Ländern wie
Spanien und Griechenland, denn der Jugend dort ist die Zukunft verbaut. So
etwas hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben. Grenzmauern werden errichtet --
über Hunderte, Tausende Kilometer -- nicht allein in Europa, sondern auch
zum Beispiel in Israel unter Missachtung der palästinensischen Bevölkerung
und ihrer Landrechte. Desgleichen in den USA an der Grenze zu Mexiko --
einem Land, wo die Staatsmacht zersetzt und mit dem Drogenhandel verbandelt
ist und der enorme Anstieg von Gewalttaten bis hin zum systematischen
Frauenmord zur Flucht der Bevölkerungen beitragen.

 

Die dramatische Zunahme der Migration hat somit vielfältige Gründe: die
endlosen Kriege, die Klimakrise, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts,
der Zerfall ganzer Staaten, die Entfesselung grenzenloser Gewalt und auch
die Zerstörung von Böden, die Überfischung der Meere, das Landgrabbing, die
Ausgrenzung der Armen in den Städten, die Enteignung der Völker zugunsten
der transnationalen Konzerne ... All diese einzelnen Gründe haben eine
gemeinsame Ursache: die mit der kapitalistischen Globalisierung
durchgesetzte Herrschaftsform, die zu völlig neuen Verhältnissen geführt hat
-- geopolitische Instabilität als Dauerzustand und -- als Erbe früherer
Niederlagen -- ein erbitterter und einseitiger Klassenkampf von oben durch
den harten Kern der weltweit herrschenden Bourgeoisie. Diese
Konterrevolution ohne Revolution öffnet die Schleusen für alle erdenklichen
Formen von Barbarei. Ein scharfer Wettstreit zwischen alten und neuen
Imperialismen, zwischen subimperialistischen und anderen Regionalmächten wie
dem Iran und Saudi-Arabien im Nahen Osten. Krieg ohne Ende als Antwort auf
die Instabilität ohne Ende.

 

Die Völker zahlen einen schrecklichen Preis für diese weltweite Unordnung.
Umgekehrt offenbart die "Flüchtlingskrise" das Scheitern der europäischen
Integration. Soeben hat die Eurogruppe (aus 19 von 28 Ländern der
Europäischen Union) Griechenland unter Vormundschaft gestellt und dem Land
ihr Gesetz unter anmaßender Umgehung der zentralen EU-Institutionen -- der
EU Kommission und des EU-Rates -- aufgezwungen. Und gegenwärtig herrscht
bezüglich der Aufnahme insbesondere von SyrierInnen das Prinzip "Jeder ist
sich selbst der Nächste". Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Frankreich
an der Grenze zu Italien werden Grenzen inmitten des Geltungsbereichs des
Schengener Freizügigkeitsabkommens wieder geschlossen. In einigen Ländern,
vor allem in Deutschland, haben sich breite Bürgerrechtsbewegungen gebildet,
um die Flüchtlinge solidarisch zu empfangen. In anderen greifen
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus um sich, zum Vorteil und Machtzuwachs der
extremen Rechten -- ganz besonders in Ungarn.

 

Die EU besteht wohl, doch die europäische Integration ist gescheitert. So
undemokratisch, wie die EU errichtet wurde, konnte sich unter ihren
BürgerInnen keine "gesamteuropäische Identität" entwickeln. War anfangs noch
zu hoffen, dass eine gemeinschaftliche, solidarische Identität von unten
entstünde, im Rahmen des europäischen Sozialforums oder bei den Märschen
gegen Erwerbslosigkeit und Prekarisierung, so sind diese Bewegungen heute
festgefahren.

 

Es ging in erster Linie um zwei Vorhaben die dem Aufbau der EU "von oben",
zugrunde lagen. Die Schaffung des gemeinsamen Marktes, dessen völliges
Unvermögen in der Zeit der Krise offenbar wird. Und die Errichtung einer
Großmacht Europa, die in der Lage ist, weltpolitisch den USA und inzwischen
auch China auf Augenhöhe gegenüberzutreten. Doch die europäischen
Imperialismen sind zahnlos. Die Militärbudgets in Frankreich und
Großbritannien werden ständig gekürzt und Deutschland, der wirtschaftliche
Gigant, bleibt militärisch ein Zwerg. Wie auf der internationalen Bühne
glänzen, wenn man vor den eigenen Türen, gegenüber den Herausforderungen
Putins, nicht das Geringste durchsetzen kann?

 

Der Flüchtlingskrise an die Wurzel gehen muss heißen, sich gegen die
kapitalistische Globalisierung wenden. Der europäischen Krise an die Wurzel
gehen muss heißen, ein offenes Europa auf anderer Grundlage begründen. Offen
für die Völker des Ostens wie des Südens, angefangen mit dem Mittelmeerraum.
Eine solche Blickrichtung ist unverzichtbar, um langfristige
Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, ohne sich von den irreführenden Phrasen
unserer Regierenden übertölpeln zu lassen, etwa ihrem heuchlerischen
Anspruch, die Menschenrechte oder die Menschlichkeit zu vertreten.

 

So viel ehrlichen Schwung die Solidaritätsbewegung in Deutschland auch
bezeugt, so zynisch ist die Sichtweise der dortigen Kapitalisten. Für sie
darf die Arbeitslosigkeit gerne noch viel höher sein, sie freuen sich auf
zahlreiche gut ausgebildete Kräfte, die verzweifelt genug sind, um jede
Arbeit anzunehmen.

 

Eher noch als humanitär ist die europäische Antwort oft genug militärisch.
Statt Wege der legalen und sicheren Einwanderung zu schaffen wird im Namen
des Kampfes gegen die Schleuser grünes Licht gegeben für bewaffnete
Operationen gegen die Flüchtlingsschiffe. Paris nutzt die
Flüchtlingstragödie aus, um die Ausdehnung ihrer Luftangriffe über Irak und
Syrien zu rechtfertigen. Immer häufiger werden in den Mitgliedsländern der
EU neben der Polizei auch Soldaten eingesetzt, um die "Eindringlinge" zu
kontrollieren.

 

Hierin liegt eine bedrohliche Entwicklung, die wir bereits aus Frankreich
zur Genüge kennen, wo das Militär gegen die terroristische Bedrohung
patrouilliert. Nach Ansicht vieler Fachleute ist diese Politik nicht nur
sehr kostspielig, sie ist wenig effizient und personalintensiv -- zumal die
Armee bereits auf mehreren Kriegsschauplätzen in Nahost und in Afrika
eingesetzt ist. Dass dies aufrechterhalten wird, dient dem Zweck, die Grenze
zwischen dem Zustand des Krieges (als Zuständigkeit des Militärs) und dem
des Friedens (als solche der Polizei) zu verwischen, und damit die
Bevölkerung an eine Art permanenten Ausnahmezustandes zu gewöhnen. Heute
wird die Flüchtlingskrise in der gleichen Richtung instrumentalisiert. Zur
besseren Gegenwehr ist eine Erneuerung des antimilitaristischen Widerstandes
ebenso notwendig wie ein verstärkter Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und
jede Form von Rassismus. Zumal heute die extremen Rechten auf den Wogen
nationaler Identität segeln (so in Frankreich die FN) und staatsfaschistoide
Tendenzen sich vor den Pforten Europas (Türkei) und selbst innerhalb der EU
(Ungarn) breitmachen. Dabei ist es genau die zerstörerische Gewalttätigkeit
der kapitalistischen Globalisierung selbst, die den Boden für die Entstehung
neuer Faschismen bereitet.

 

Die sogenannte Flüchtlingskrise ist somit eine tragische Facette der
globalen Krise, in die die kapitalistische Globalisierung geführt hat. Eine
sorgfältige Prüfung ihrer Merkmale ist nun unumgänglich, wichtige
Aktualisierungen sind das Gebot der Stunde. Bis jetzt konnten wir den
xenophoben Demagogen stets mit Zahlen belegen, dass die Zuwanderungsquote
(nach Frankreich) unverändert geblieben war. Doch das trifft heute
offensichtlich nicht mehr zu. Wir stehen einer humanitären Krise ungeahnten
Ausmaßes gegenüber. Die altgewohnten Deutungsmuster Herausforderung nicht
vorbereitet. Im Wesentlichen war ihr Urteil, dass die humanitären Notfälle
allein Angelegenheit der einzelnen Staaten (Rotes Kreuz und Roter Halbmond)
und spezialisierter Hilfsorganisationen seien. Zum Glück gibt es wichtige
Ausnahmen wie die bemerkenswerte Mobilisierung der Vereinigung MIHANDS
(MIndanao Humanitarian Action Network against DisasterS) auf Mindanao,
südliche Philippinen, an denen wir uns so manches Beispiel nehmen können.

 

Wir müssen tatsächlich das Verhältnis zwischen Mitmenschlichkeit und Politik
neu überdenken.

 

Es ist schon lange her, da schickten wir medizinische Hilfe an die
Befreiungskämpfer, die über ihre eigenen erprobten und bewährten
Gesundheitsdienste verfügten. Heute dagegen sind die Flüchtlingsscharen zum
allergrößten Teil auch bar jeder Organisation, soweit nicht noch lose
Verbindungen zum Herkunftsort bestehen und mittels Internet und Mobiltelefon
Informationen ausgetauscht werden können.

 

Der Umgang mit der humanitären Krise erweist sich als Bewährungsprobe für
den Internationalismus. Die weitaus größte Zahl an Flüchtlingen befindet
sich dabei gar nicht in Europa, sondern in den Ländern des Südens, wo es
weder Infrastruktur noch vergleichbare Mittel gibt wie in den Ländern des
Nordens, wobei man nicht betonen muss, dass die Regierenden des Nordens die
Hauptverantwortung für die gegenwärtige Lage tragen. Die Binnenflüchtlinge
befinden sich noch immer in ihren Heimatländern, viele sind auch schlicht
geblieben wie die Opfer der Klimakatastrophe, die nirgends eine Zuflucht
gefunden haben. Es gibt keine offiziellen Zahlen, die von dem wahren Ausmaß
des Problems Rechenschaft ablegen. Die Solidarität zwischen Nord und Süd
muss sich organisieren und stärker werden -- ganz besonders auf diesem
Gebiet.

 

 

Übersetzung: Verena Inahkamen

 

 

 

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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2015    (Internationale Pressekorrespondenz)

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