[IPK] Ilja Budraitskis: Russland im Würgegriff der Krise

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Di Mär 1 19:21:28 CET 2016


Russland im Würgegriff der Krise

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Galten die BRIC [1] in den letzten 20 Jahren als Schmiermittel der
Weltwirtschaft, haben sich angesichts der massiven Wirtschaftskrise bes. in
Brasilien und Russland die Prioritäten verschoben. Der folgende Artikel
beleuchtet das Ausmaß der russischen Krise und die daraus entstehenden
politischen Weiterungen.

 

 

Von Ilja Budraitskis

 

 

Die Wirtschaftskrise in Russland wird sich im Laufe dieses Jahres
zweifelsfrei weiter verschlimmern und auch eine soziale und politische Krise
nach sich ziehen. Auch wenn Vladimir Putin noch vor einem Jahr in einer
seiner beliebten Fernsehansprachen "an das Volk" wacker behauptet hat, dass
die Probleme temporärer Natur und in zwei, drei Jahren behoben seien, steckt
dahinter bloße illusionsgetriebene Propaganda. Die russische Staatsspitze
neigt dazu, Strategie durch Taktik zu ersetzen und auf Probleme erst dann zu
reagieren, wenn sie unübersehbar sind.

 

Diese Denkungsart beruht auf einem Anstieg des Rohölpreises in den letzten
10 Jahren, während derer die gesamte Wirtschaft des Landes einseitig an die
Rohstoffexporte angekoppelt wurde. Die daraus erzielten Extraprofite
vermittelten ein Gefühl zunehmender politischer Stärke und stützten zudem
die ständig wachsenden Staatsausgaben, die hauptsächlich der Armee, dem
bürokratischen Apparat und einem undurchschaubaren staatlichen
Verwaltungssystem zugutekamen. Die Sozialausgaben wurden nur erhöht, wenn
Geld übrig blieb, und Erziehungs- wie Gesundheitswesen waren immer als erste
von Sparmaßnahmen betroffen.

 

Dieser Verfall des Sozialsystems ging einher mit einem Rückgang der
Wirtschaftsleistung, grotesker sozialer Ungleichheit, endemischer Korruption
und autoritärer Machtpolitik zum Erhalt der Privilegien und konnte nur durch
den lange Zeit massiven Anstieg der Öl- und Gaspreise kompensiert werden.
Aus dieser Ära datiert auch die noch immer starke Popularität von Putin, der
weiterhin -- und nicht zuletzt wegen seiner Brutalität -- als Garant eines
stetigen Aufschwungs von Russland gilt.

 

 

ENDE DER "ÄRA PUTIN"

 

Jetzt gilt es jedoch für die russische Bevölkerung zu begreifen, dass die
"stabile Ära Putin" endgültig vorbei ist und dass die Eliten des Landes
keinen Plan B in der Tasche haben, um sich aus dem Schlamassel zu retten.
Bereits das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die Regierungspolitik zur
Bekämpfung der Krise bloß auf Sparpolitik mit russischer Note hinausläuft,
die noch brutaler ist, als unter den EU-Regierungen. Ihre Zutaten bestehen
in einer drastischen Kürzung der Sozialausgaben, einer mit der Brechstange
durchgesetzten Rentenreform (mit der Anhebung des Rentenalters auf 65
Jahre), der Ablehnung einer gleitenden Lohnskala bei einer Inflationsrate
von 12,9 % für 2015, einer Preiserhöhung und einer Steuer- und
Abgabenerhöhung zulasten der Bevölkerung.

 

Durch den Währungsverfall des Rubel, der nur durch Stützungskäufe und die
Anhebung des Diskontsatzes durch die Zentralbank abgemildert wurde, sind die
kleinen und mittleren Unternehmen von Krediten abgeschnitten, was wiederum
die Rezession verschärft. Der auf diesem Währungskurs beruhende
Haushaltsplan für 2016 wurde unter der Annahme eines Rohölpreises von 50 $
verabschiedet. Indessen liegt der Preis inzwischen unter 30 $, sodass der
Finanzminister zwar das Budget nicht nach außen hin revidieren will, aber
Ausgabenkürzungen um 10 % für alle Haushaltsstellen empfohlen hat.

 

Verschärft wird die Lage durch die bestehende Verteilung der finanziellen
Mittel zwischen Moskau und den einzelnen Regionen: Alle Einnahmen fließen
zunächst in den Bundeshaushalt, um von dort aus dann auf die lokalen
Haushalte verteilt zu werden. Dadurch entstehen wachsende Spannungen
zwischen der Zentralregierung und den regionalen Körperschaften, die die
Sparpolitik gegenüber der Bevölkerung verantworten müssen. Zugleich ergeht
vom Präsidenten, der auf seine Popularität bedacht ist, öffentlich die --
uneinlösbare -- Aufforderung an die Regionalbehörden, ihren "sozialen
Verpflichtungen" nachzukommen.

 

Der drastische Rückgang der Staatseinnahmen offenbart die Schwachstellen der
vertikalen Machtstruktur, die Putin geschaffen hat und die in der
Kombination aus einer völligen Abhängigkeit der Lokalbehörden von der
Zentralgewalt und ihrer wirtschaftlichen "Autonomie", d. h. ihrer
Verantwortung für bestimmte Ausgabenressorts besteht. Politisch geradestehen
für die Sparpolitik müssen die Zentralregierung mit Dmitri Medwedew an der
Spitze oder die Regionalgouverneure, aber nicht der Präsident, dessen
Popularität nicht durch den fallenden Lebensstandard seiner Klientel im
Volke geschmälert werden soll. Den Mächtigen im Staate gilt das Image von
Putin als "Führer der Nation" als Hauptquelle für die Legitimität der
Staatsführung. Paradox dabei ist, dass die Menschen an ihren Präsidenten
glauben, aber nicht an den Staat, den er repräsentiert.

 

Vor diesem Hintergrund des sozialen Verfalls bereitet sich Putins
politischer Stab auf die kommenden Parlamentswahlen im September vor, die --
wie gehabt -- entlang der Vorgaben aus dem Kreml ablaufen sollen.
Gegenwärtig sieht es danach aus, dass "Einiges Russland", die Partei der
Parlamentsmehrheit und des Ministerpräsidenten Medwedew, die Quittung für
die wachsende Unzufriedenheit unter der ansonsten passiven Bevölkerung
erhalten wird. Die "unabhängigen" Kandidaten und die Pseudoopposition,
einschließlich der Kommunistischen Partei und der Liberalen unter
Schirinowski, werden über die antisoziale Politik der Regierung herfallen,
während der parteilose Staatspräsident außen vor bleibt.

 

Allerdings könnte dieses Szenario diesmal nicht aufgehen und von
Massenprotesten überrollt werden, wie dies auch nach den Wahlen im Dezember
2011 der Fall war. Im Unterschied zu damals könnte sich diesmal der
politische Protest gegen das undemokratische System mit der Unzufriedenheit
über die wachsende Verarmung und die neoliberale Regierungspolitik
verbinden. Dafür spräche die wachsende Zahl lokaler Proteste im vergangenen
Jahr, die sich gegen ausbleibende Löhne, Arbeitsplatzvernichtung oder
willkürliche Steuergesetze richteten. So fanden bspw. im Dezember in fast
der Hälfte der Regionen Aktionen der LKW-Fahrer gegen die exorbitant
gestiegenen Mautgebühren statt und in etlichen Städten gab es Aktionen gegen
die starken Kürzungen im öffentlichen Gesundheitswesen. Insgesamt wurden
2015 nach Expertenangaben 409 Protestaktionen registriert, die gegen das
Arbeitsrecht verstießen, darunter 168 Arbeitsniederlegungen. Gegenüber dem
Zeitraum von 2008 bis 2013 bedeutet dies eine durchschnittliche Zunahme von
76 %.

 

Die Wirtschaftskrise wird im Zuge der politischen Agenda (Parlamentswahlen
2016 und Präsidentschaftswahlen 2018) zweifellos die Spannungen innerhalb
der Führungselite verschärfen. Bereits jetzt zeichnen sich bestimmte
Konfliktlinien ab: zwischen Moskau und den Regionalbehörden; zwischen dem
Finanzministerium und der Armeelobby, die angesichts wachsender Bedrohung
"von außen" auf einen steigenden Militäretat pochen wird; und zwischen den
staatlichen Körperschaften, die mehr Mittel für die Refinanzierung ihrer
Schuldenberge fordern.

 

Um das gegebene Kräfteverhältnis nicht zu gefährden, wird das herrschende
Regime unbedingt seinen außenpolitischen Kurs ändern müssen, besonders was
den Krieg in der Ukraine, die Spannungen mit dem Westen und die wachsende
Intervention in Syrien angeht. Bereits jetzt ergreift Moskau Initiativen, um
die Sanktionen seitens der USA und der EU aufzuheben. So fanden im Januar
erstmals seit der Annexion der Krim direkte Verhandlungen in Kiew zwischen
Poroschenko und dem russischen Vertreter Gryzlow (aus dem inner circle von
Putin) über das weitere Vorgehen im Donbass statt. Diesem Treffen gingen
ausführliche Konsultationen des wichtigsten Kreml-Unterhändlers in Sachen
Ukraine mit der ranghohen US-Diplomatin Victoria Nuland voraus. Für die
russische Regierung ist die Aufhebung der Sanktionen essentiell, um sich mit
dringend benötigtem Geld auf dem Anleihenmarkt versorgen zu können. Dies
könnte dazu führen, dass die bisherige Abhängigkeit vom Rohölpreis nun durch
eine neue ersetzt wird, nämlich von den internationalen Finanzmärkten.

 

So oder so werden wir erhebliche Neuerungen in Russland erleben und ein Ende
des Putin-Regimes -- zumindest in der Form, wie wir es während der fetten
Jahre hoher Rohstoffpreise erlebt haben.

 

 

Übersetzung aus dem Französischen: MiWe

 

 

 

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Aus:   Inprekorr Nr. 2/2016    (Internationale Pressekorrespondenz)

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[1] Brasilien, Russland, Indien, China -- d. Red.

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