[IPK] Revolution in Deutschland

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Revolution in Deutschland

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Der folgende Artikel erschien vor 50 Jahren in der Zeitschrift /Quatrième
Internationale/ und arbeitet auf der Basis der seinerzeit verfügbaren
Quellen und Untersuchungen in nach wie vor lesenswerter Art und Weise den
Charakter und die Perspektiven der agierenden politischen und
gesellschaftlichen Kräfte in den Monaten Oktober 1918 bis Januar 1919
heraus.

 

 

Von Fernand Charlier

 

 

Am 9. November 1918 wurde in Deutschland die Republik proklamiert und Kaiser
Wilhelm II. floh mit seinem Sohn in die Niederlande. Er wurde von dem
revolutionären Seegang mitgerissen, der über sein Land brandete und der bis
1923, eine Welle nach der anderen, ein ums andere Mal revolutionäre
Situationen entstehen ließ. Gegenstand dieses Artikels ist es nicht, die
Geschichte der deutschen Revolution von 1918 bis 1923 nachzuzeichnen. Es
geht vielmehr, bescheidener, darum, den sozialistischen Charakter dieser
Revolution und den Charakter der politischen und gesellschaftlichen Kräfte
herauszuarbeiten, die in dieser Revolution die Akteure waren. Zu einem
Zeitpunkt, wo die Armee der Verleumder aus Anlass eines Gedenkjahres wach
wird, um zu ihrer Arbeit der Entstellung der Geschichte zu schreiten, kann
solch ein Vorhaben nicht unnütz sein.

 

 

AUFSTAND DER MATROSEN

 

Die deutsche Revolution war direktes Produkt des militärischen
Zusammenbruchs des Kaiserreichs und nicht, wie es die Oberbefehlshaber des
Heeres wie General Groener [1] nachher glauben machen wollten, deren
Ursache. Die unhaltbare militärische Lage September/Oktober 1918 -- nach der
französischen Gegenoffensive, den Siegen der britischen Tanks, dem
Zurückgehen der Front auf die Siegfried-Linie -- drängte die Admiralität
dazu, dass sie eine Entscheidungsschlacht gegen die britische Flotte
provozieren und 80 000 Mann in eine verzweifelte militärische
Auseinandersetzung werfen wollte. Dies war die unmittelbare Ursache für die
Matrosenrevolte in Kiel. [2] Eintausend Matrosen verweigerten sich dem Krieg
und wurden in Ketten gelegt, dies hatte eine Solidaritätsbewegung ihrer
Kameraden zur Folge, die die Erfahrung der Matrosenrevolte vom März 1917
hinter sich hatten. [3] Die Bewegung dehnte sich rasch auf alle Zentren der
Flotte aus, insbesondere auf Hamburg [4] und Bremen, während in Kiel selber
erst Soldaten- und dann auch Arbeiterräte gebildet wurden.

 

Die Bewegung dehnt sich von der Küste auf das übrige Land aus. Dort geht die
Vereinigung der Soldaten und der Arbeiter, die von dem Krieg und dem Elend
genug haben [5], noch schneller vor sich.

 

Am 7. November übernehmen Arbeiter- und Soldatenräte in Köln, Hannover,
Braunschweig, Bremen, Hamburg, Wittmund, Wilhelmshaven, Cuxhaven,
Brunsbüttelkoog, Lokstedt, Rendsburg, Kiel, Lübeck, Altona, Rostock,
Schwerin, Lehe, Geestemünde und München die Macht. [6] Diese Arbeiter- und
Soldatenräte waren nicht spontan oder willkürlich entstanden: Wenn die
Arbeiter und Soldaten diese Organisationsform übernahmen, folgten sie dem
Beispiel der russischen Revolution und dem Beispiel ihrer eigenen Erfahrung
der Streiks im April 1917 in Leipzig und in Berlin, die von den
"Revolutionären Obleuten" und den "unabhängigen Sozialisten" angeführt
wurden, und der Streiks vom Januar 1918 in Kiel und in Berlin. [7]

 

In der Nacht vom 7. auf den 8. November wird in München die Republik
proklamiert. [8]

 

Berlin erreicht diese Bewegung erst ganz zuletzt, erst am 9. November ruft
der Arbeiter- und Soldatenrat dort den Generalstreik aus, nachdem der
Beschluss unter dem Druck der zentristischen Führung der Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei (USPD) andauernd auf später aufgeschoben worden
war. [9] Der Beschluss war dann der Gnadenstoß für das Kaiserreich: Prinz
Max von Baden übergab seine Vollmacht als Kanzler dem Sozialdemokraten Fritz
Ebert, dessen Partei, die SPD, die einzige Kraft war, die die Bewegung
bremsen konnte, der Kaiser musste abdanken.

 

 

REVOLUTIONÄRE OBLEUTE

 

Kern der Aktivitäten in Berlin waren die "Revolutionären Obleute", ein
Netzwerk von Delegierten, die eine Avantgarde ausmachten; es hatte sich
während des Kriegs gebildet und seither bei allen großen Aktionen des
Berliner Proletariats die Rolle eines "Zünders" gespielt. [10]

 

Die Bewegung der Obleute entstand in der Metallindustrie. Ihre wichtigste
Führungsperson war Richard Müller, der Leiter der Dreherbranche im Deutschen
Metallarbeiterverband Berlin. So gut wie alle Mitglieder -- anfangs nicht
mehr als etwa 50 -- waren Arbeiter, Ausnahmen waren Ernst Däumig, bis 1916
Redakteur des Vorwärts, und der unabhängige sozialdemokratische
Reichstagsabgeordnete Georg Ledebour. [11] Ihre Mittel waren Streiks und
Straßendemonstrationen, damit unterschieden sie sich von der USPD, sie
machten deren äußerste Linke aus. Ihr charakteristisches Merkmal war die
Verbindung zu den proletarischen Massen, sie war deren Repräsentantin par
excellence; das unterschied sie von der Mehrzahl der Spartakisten und
Spartakistinnen.

 

Erst am 26. Oktober 1918 wurden drei Mitglieder der "Gruppe Internationale",
Karl Liebknecht (der drei Tage vorher freigelassen worden war), Wilhelm
Pieck und Ernst Meyer in die Leitung der Obleute kooptiert. [12] Die
Obleute, die tief in die Berliner Arbeiterklasse integriert waren, lösten
den Generalstreik vom November aus. Auf ihre Initiative hin wurde die Wahl
von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Berlin beschlossen; sie fand am 10.
Dezember auf der Grundlage "ein Delegierter pro 1000 Beschäftigte" bzw.
"eines Delegierten pro Bataillon" statt, sie versammelten sich am gleichen
Tag im Zirkus Busch zur Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte von
Groß-Berlin.

 

Auf dieser Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte von Groß-Berlin
wurde ein Vollzugsausschuss eingesetzt, der zusammen mit der Vollversammlung
selber zur permanenten Organisationsform der Rätemacht wurde und die neue
Regierung einsetzte, die "Rat der Volksbeauftragten" genannt wurde. Sie
bestand aus drei Mitgliedern der SPD (Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann,
Otto Landsberg) und drei Mitgliedern der USPD (Hugo Haase, Erwin Barth,
Wilhelm Dittmann) und war am Morgen gebildet worden. Die sozialdemokratische
Partei hatte sich sehr darum bemüht, die Beteiligung der Unabhängigen vor
dem Zusammentreten der Räte zu erreichen, so dass diese die Zusammensetzung
des Rats der Volksbeauftragten nur noch zu billigen hatten.

 

Der neu gewählte Vollzugsauschuss (Vorsitzende waren Richard Müller, USPD,
und Hermann Molkenbuhr, SPD) war strikt paritätisch zusammengesetzt: 6
Mitglieder der USPD, 6 von der SPD, 12 Soldaten), dies geschah auf Druck der
SPD, die bei den Soldaten eine überwältigende Mehrheit bekam. Wenn die USPD
nachgab und in die Ebert-Regierung eintrat, so geschah das unter dem Druck
der Soldatenvertreter. [13] Die Spartakisten hatten auf der Vollversammlung
zu erreichen versucht, dass die Sozialdemokraten draußen gehalten würden,
doch war es ihnen nur mit Müh und Not gelungen, sich überhaupt Gehör zu
verschaffen. Die Obleute waren Gefangene des Legalismus der USPD.

 

Die Spartakisten nannten sich noch bis zum 11. November "Gruppe
Internationale", an diesem Tag wurde die Bezeichnung der Gruppe auf ihrer
Konferenz, die im [Hotel Exzelsior am] Anhalter Bahnhof in Berlin stattfand,
in "Spartakusbund" geändert. [14] Sie bildeten eine recht kleine Tendenz. Es
wird geschätzt, dass es Anfang November nicht mehr als eintausend aktive
Mitglieder des Spartakusbunds gab. Gruppen existierten in Stuttgart,
Braunschweig, Dresden, Chemnitz, Hanau, Duisburg, Düsseldorf und Berlin; in
vielen deutschen Städten gab es also noch keine Gruppen. Bei dem
Generalstreik vom Januar 1918 hatten die Spartakisten nur eine Rolle am
Rande gespielt. [15]

 

Es mag paradox erscheinen, dass die in der Spartakusgruppe organisierte
radikale Linke so schwach und dass die SPD ein so ausschlaggebendes Gewicht
hatte, die Arbeiterklasse sich aber an einer Revolution beteiligt hat,
Organe vom Typ der Sowjets, was die Räte ja waren, durchgesetzt und eine
Phase der Doppelmacht eingeleitet hat. Dies fand bereits am 9. November 1918
symbolischen Ausdruck in dem Umstand, dass zum Zeitpunkt, als Scheidemann
von der SPD vom Balkon des Reichstags die Republik ausrief, Karl Liebknecht
einen Kilometer entfernt davon im Kaiserpalast die sozialistische Republik
ausrief.

 

Die SPD hatte nach wie vor den Rückhalt einer Mehrheit. Ihre Ziele waren am
9. November erreicht und mehr als das. Schon im Oktober hatte die Ernennung
der Regierung des Prinzen Max von Baden mit einer Beteiligung der SPD die
Einführung eines parlamentarischen Systems vom bürgerlichen Typus angezeigt.
Erst am 31. Oktober sprach sich der Vorwärts, die Tageszeitung der SPD, für
den Abtritt des Kaisers aus. Als der Rücktritt am 9. November erreicht war,
hielt die Revolution in ihrem Schwung an. Die Revolution vom November 1918
war Frucht der spontanen Erhebung der Soldaten und der Arbeiter*innen gegen
die Fortsetzung des Kriegs. Es war eine Revolte gegen eine Situation, die
unerträglich geworden war. Doch haben die Soldaten und die Arbeiter*innen,
die der Mehrheitssozialdemokratie folgten, nicht in einem gewissen Sinn die
Revolution gegen sich selber gemacht?

 

 

SECHS STRÖMUNGEN

 

Die Lage ist ohne eine genauere Untersuchung der Kräfte, die sich in der
Arbeiterbewegung gegenübertreten, und ohne in Betracht zu ziehen, ein wie
tiefer Graben zwischen den Führungen und der Basis in sämtlichen Tendenzen
der Arbeiterbewegung existierte. Die deutsche Arbeiterbewegung war im
November/Dezember 1918 nicht in zwei Tendenzen gespalten (SPD und USPD),
auch nicht in drei Tendenzen (der Spartakusbund war bis zum
Gründungsparteitag der KPD am 30. und 31. Dezember 1918 und 1. Januar 1919
formell noch innerhalb der USPD). Die Arbeiterbewegung insgesamt teilte sich
in Wirklichkeit in sechs Strömungen auf.

 

Erstens gab es das politische Führungspersonal der SPD mit Ebert und
Scheidemann und auf der äußersten Rechten Männer wie Eduard David und Gustav
Noske, die seit Jahren ganz eng mit der Bourgeoisie zusammenarbeiteten; das
am Abend des 10. November abgeschlossene Geheimabkommen zwischen General
Groener und Ebert war nur die Fortsetzung dieser Praxis. [16] Diese
Führungsgruppe der SPD hat mit ihrem Bündnis mit dem Heer verhindert, dass
die Novemberrevolution, die sich unter Verwendung der russischen Bezeichnung
als "Februarrevolution" eingestuft werden kann, auf eine siegreiche
"Oktoberrevolution" hinausläuft.

 

Zweitens gab es die Masse der Basismitglieder der SPD, die in den Arbeiter-
und Soldatenräten, zu deren Bildung sie beigetragen hatten (in Kiel
beteiligte sich die SPD ab den ersten Tagen an der Revolution), ein
Instrument zur Bildung eines sozialistischen Deutschlands erblickten,
zusammen mit weiteren Instrumenten wie dem Rat der Volksbeauftragten (oder
Ministerrat), der von SPD und USPD gestellt wurde. Die Mehrheit dieser
Lohnabhängigen nahm im November und Dezember 1918 den Widerspruch noch nicht
wahr, der zwischen der Politik ihrer Führungen, und ihren eigenen
Bestrebungen bestand.

 

Drittens sind eine Minderheit in der SPD und die politische Leitung der
unabhängigen Partei zu nennen, die eine Theorie der Koexistenz der
Arbeiterräte und der verfassunggebenden Nationalversammlung entwickelten;
der SPD gelang es, die Einberufung der Nationalversammlung als originelles
System auszugeben, das den Übergang zu einem sozialistischen Deutschland
sicherstellen werde. [17]

 

Der linke Flügel der unabhängigen Partei repräsentierte zusammen mit den
Revolutionären Obleuten eine vierte Tendenz, die sich unzweideutig für das
Rätesystem aussprach. [18] Diese Tendenz repräsentierte die Vorhut der
Klasse, die radikalisierten Arbeiter [und Arbeiterinnen], die im Oktober
1918 in einigen Berliner Fabriken die Idee einer Regierung Haase-Ledebour
[19] lancierten. [20] Auf dem Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte,
der vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin stattfand, brachte Richard
Müller in seiner Eröffnungsrede ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass auf diesem
Kongress "das Fundament der deutschen sozialistischen Republik" gelegt wird.
[21] Aber sie waren auf diesem Kongress unterlegen, die Räte unternahmen
Harakiri, indem sie die Übertragung der gesetzgebenden und der ausführenden
Macht an die Volksbeauftragten beschlossen, indem sie ihnen auch das
Kommando über das Heer und die Marine anvertrauten und indem sie die Wahl
für eine verfassunggebende Versammlung für den 19. Januar ansetzten.

 

Für eine fünfte Tendenz stand die spartakistische Führung -- Rosa Luxemburg,
Paul Levi und Leo Jogiches; sie war der Auffassung, die Revolution müsse den
Sieg der Arbeiterräte über eine Abfolge von sehr harten und sehr gewaltsamen
Kämpfen, auf die es sich vorzubereiten galt, sicherstellen. Dies belegt der
folgende Auszug aus dem Programm von Spartakus, das Rosa Luxemburg auf dem
Gründungsparteitag der kommunistischen Partei vorgestellt hat:

 

"Der Spartakusbund wird es auch ablehnen, zur Macht zu gelangen, nur weil
sich die Scheidemann-Ebert abgewirtschaftet haben und die Unabhängigen durch
die Zusammenarbeit mit ihnen in eine Sackgasse geraten sind. -- Der
Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den
klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse
in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den
Aussichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes. -- Die
proletarische Revolution kann sich nur stufenweise, Schritt für Schritt, auf
dem Golgathaweg eigener bitterer Erfahrungen, durch Niederlagen und Siege
zur vollen Klarheit und Reife durchringen. -- Der Sieg des Spartakusbundes
steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Revolution". [22]

 

Schließlich sind sechstens die Basis von Spartakus sowie die Gruppe
"Internationale Kommunisten Deutschlands" (IKD) aus Bremen [23] zu nennen;
sie neigten zu sofortigen revolutionären Initiativen und lehnten auf dem
Gründungsparteitag die Beteiligung an den Wahlen zur verfassunggebenden
Versammlung ab. Auf diesem Parteitag gab es 62 Stimmen für den Boykott
gegenüber nur 23 für die Beteiligung, deswegen wollte Paul Levi sich
weigern, in die Zentrale zu gehen, während Leo Jogiches sich fragte, ob man
in der soeben gegründeten neuen Partei bleiben solle oder nicht. Es bedurfte
der ganzen Überzeugungskraft von Rosa Luxemburg, um Clara Zetkin zum
Beitritt zu überreden. [24]

 

Anders ausgedrückt, der Krieg, der großartige Beschleuniger der Geschichte,
hatte der deutschen Arbeiterklasse, die nicht über eine revolutionäre Partei
verfügte, die Aufgabe gestellt, ohne eine kampferprobte und anerkannte
Führung, wie die russische Arbeiterklasse sie hatte, vom "Februar" zum
"Oktober" überzugehen; nur solch eine Führung hätte die Ereignisse
vorantreiben oder sie bremsen können, je nach den Erfordernissen des
Augenblicks und nach Grad der mangelnden Vorbereitung der Gesamtklasse. Das
Gegenteil war der Fall, die deutsche Arbeiterklasse folgte mehrheitlich noch
der SPD, dem "konterrevolutionärsten Faktor in der Weltgeschichte", wie Leo
Trotzki es ausgedrückt hat. [25]

 

 

JANUARTAGE 1919

 

Von daher ließ die Arbeitervorhut sich provozieren, sie ging die
"Marneschlacht" der Revolution an, wie es gelegentlich genannt worden ist
[26], die Januartage 1919 nach der Absetzung des unabhängigen
sozialistischen Polizeipräsidenten Emil Eichhorn. Er war unabhängiger
sozialistischer Abgeordneter und hatte in den Novembertagen den Berliner
Polizeipräsidenten Heinrich von Oppen abgelöst. Die SPD begann Anfang Januar
1919 mit einer Verleumdungskampagne gegen Eichhorn und warf ihm Missbrauch
von öffentlichen Mitteln vor. Am 3. Januar verlangte die Regierung seinen
Rücktritt, am 4. Januar wurde er entlassen. Eichhorns Absetzung war eine
richtiggehende Provokation, die nur zum Ziel hatte, die Repression gegen die
KPD (Spartakusbund) und den linken Flügel der USPD einleiten zu können. [27]

 

Die USPD, die KPD und die Obleute riefen die Arbeiter*innen auf, am 5.
Januar für Eichhorn zu demonstrieren. In Anbetracht des Erfolgs der
Demonstration beschloss ein Revolutionsausschuss unter Leitung von Karl
Liebknecht, Georg Ledebour und Paul Scholze, einen frontalen Kampf gegen die
Ebert-Regierung aufzunehmen, mit dem Ziel, die Macht zu übernehmen. Das war
die von der Regierung erhoffe verfrühte Schlacht.

 

Die Lage an jenem Anfang des Januars 1919 lässt sich auf folgende Weise
charakterisieren: Ende Dezember hatten die revolutionären Kräfte der
Volksmarinedivision, die zusammen mit anderen Vorhutkräften Berlin seit
November kontrollierten, ihre vorherrschende Position dadurch verloren, dass
Ebert das "reguläre" Heer nach Berlin hatte einrücken lassen; auf dem
Rätekongress, der vom 16. bis 21. Dezember abgehalten worden war, waren die
revolutionären Kräfte unterlegen und die Macht war wieder der Regierung
übertragen worden. Sowohl militärisch als auch gesetzlich gesehen hatte die
revolutionäre Linke die Macht verloren. Auf der anderen Seite vollzog sich
jedoch innerhalb der unabhängigen Partei eine rasche Differenzierung: Die
Minister mussten am 29. Dezember aus der Regierung austreten. Das Kalkül der
Regierung war es also, sich den Vorteil zunutze zu machen, den ihr die
beiden ersten Elemente gaben, um zu verhindern, dass die linken Unabhängigen
stärker wurden und sich mit den Spartakisten zusammentaten.

 

In einem Kontext dieser Art hätte die ganze Kunst einer kampferprobten
Führung im Januar 1919 darin bestanden, einen vorzeitigen Zusammenstoß zu
vermeiden, wie es den Bolschewiki im Juli 1917 gelungen war Karl Liebknecht
und die Obleute zogen jedoch die Zentrale der KPD mit sich. Erst am 8.
Januar, als es bereits zu spät ist, beschloss die Leitung ohne Karl
Liebknecht und Wilhelm Pieck, dass die KPD das Vorgehen des
Revolutionsausschusses nicht mehr billigen konnte. Rosas Artikel, der am 8.
Januar in der Roten Fahne veröffentlicht wurde, klingt eher wie eine Polemik
an die Adresse von Liebknecht denn wie ein Aufruf zum Handeln: "Die
Regierung Ebert-Scheidemann hinwegräumen heißt nicht, ins Reichskanzleramt
stürmen und die paar Leute verjagen oder festnehmen, es heißt, vor allem,
sämtliche tatsächliche Machtpositionen ergreifen und sie auch festhalten und
gebrauchen." [28]

 

Doch war die Regierung Herrin der Lage. Am 15. Januar wurden Liebknecht und
Rosa in ihrer letzten Zuflucht im Bezirk Wilmersdorf festgenommen, ihre
Leichname zogen eine Blutspur zwischen der SPD von Ebert-Noske-Scheidemann
auf der einen und den revolutionären Arbeiterinnen und Arbeitern auf der
anderen Seite. [29]

 

Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar
erhielt die USPD nur 7,6 % der Stimmen, weniger als ein Fünftel der Stimmen
für die SPD (37,9 %). Zusammen erhielten die beiden Parteien 45,5 % der
Stimmen. Berücksichtigt man, dass die KPD sich gegen die Beteiligung an der
Wahl ausgesprochen hatte und dass viele Soldaten keine Gelegenheit zur
Stimmabgabe gehabt hatten, kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass eine
absolute Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung und des deutschen Volks
sich im Januar 1919 zu Parteien bekannten, die sich als sozialistisch
verstanden. Aber die Macht steckte nicht in den Wahlurnen, sie befand sich
in den Betrieben und auf der Straße. Um sie zu erobern, hieß es eine
revolutionäre Massenpartei schmieden. An diese Aufgabe hat sich die Führung
der KPD im Verlaufe der Kämpfe in den folgenden Jahren herangemacht.

 

 

 

Aus dem Französischen übersetzt, bearbeitet und mit einigen zusätzlichen
Anmerkungen versehen von Wilfried Dubois

 

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2018 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

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[1] Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg,
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1957, S. 466--491 [Kapitel "Revolution
über Deutschland"].

[2] Bernhard Rausch, Am Springquell der Revolution. Die Kieler
Matrosenerhebung, Kiel: Chr. Haase & Co., (Schleswig-Holsteinische
Volks-Zeitung), 1918, [Faksimile-Nachdruck in: Zur Geschichte der Kieler
Arbeiterbewegung. Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler
Stadtgeschichte, Nr. 15, Kiel: Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte,
1983, (Reprints zur Kieler Stadtgeschichte, Bd. 2)].

[3] Icarus [Ernst Schneider]: The Wilhelmshaven Revolt. A Chapter of the
Revolutionary Movement in the German Navy 1918-1919, London: Freedom Press,
1944 [neue Ausgabe: Honley, West Yorkshire: Simian, 1975]. Zu der
"Marinemeuterei" von 1917 siehe: /Illustrierte Geschichte der
Deutschen//Revolution/, Berlin: Internationaler Arbeiter-Verlag, 1929, S.
157--160 (unveränderter Nachdruck: Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik,
1970).

[4] Richard A. Comfort, Revolutionary Hamburg. Labor Politics in the Early
Weimar Republic, Stanford, California: Stanford University Press, 1966, S.
35--40.

[5] Vgl. Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte der Überproduktionskrisen
in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin: Akademie-Verlag, 1963, (Die Geschichte
der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 15), S. 4/5.

[6] Siehe die Karte in: /Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution/,
S. 191.

[7] Eberhard Kolb, /Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik
1918-1919/, Düsseldorf: Droste, 1962, S. 57/58; /1918 -- Erinnerungen von
Veteranen der deutschen Gewerkschaftsbewegung an die Novemberrevolution
/(1914--1920), hrsg. von Arbeitskreis Verdienter Gewerkschaftsveteranen beim
Bundesvorstand des FDGB, [1. Ausg.], Berlin: Tribüne, 1958 (2. Ausg. 1960).

[8] Allan Mitchell, Revolution in Bayern 1918/1919. Die Eisner-Regierung und
die Räterepublik, München: C. H. Beck, 1967, S. 80--94 [Originalausgabe:
Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1965].

[9] Wilhelm Pieck, "Die Gründung der KPD. Erinnerungen an die
Novemberrevolution" [zuerst veröffentlicht als Broschüre, 1928], in: /1918
-- Erinnerungen von Veteranen der deutschen Gewerkschaftsbewegung an die
Novemberrevolution/, 1958, S. 28--34.

[10] Peter von Oertzen, /Betriebsräte in der Novemberrevolution./ Eine
politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der
betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution
1918/19, Düsseldorf: Droste, 1963, S. 71--78 [2. Ausg. 1976].

[11] [Zu Georg Ledebour liegt eine ältere Biographie vor: Ursula Ratz, Georg
Ledebour, 1850--1947. Weg und Wirken eines sozialistischen Politikers,
Berlin: Walter de Gruyter, 1969. Leo Trotzki hat ihn 1932 in dem Buch Was
nun? als den "besten Vertreter des Zentrismus" und zugleich als "alten
Revolutionär" charakterisiert (Schriften über Deutschland, hrsg. von Helmut
Dahmer, Bd. I, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1971, S. 245,
246).]

[12] Siehe Wilhelm Piecks Beitrag [S. 28].

[13] Vgl. die zitierten Arbeiten von Wilhelm Pieck und Eberhard Kolb.

[14] Hermann Duncker, "Ein Geleitwort zum 9. November", in: 1918 --
Erinnerungen von Veteranen der deutschen Gewerkschaftsbewegung an die
Novemberrevolution, 1958, S. 21 (2. Ausg., 1960, S. 23/24); sowie Artikel
von W. Pieck [S. 46].

[15] E. Kolb, /Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919/, S.
47, 48, 59.

[16] W. Groener, Lebenserinnerungen, S. 467

[17] Siehe den Bericht von Max Cohen in: Bericht über Nationalversammlung
oder Rätesystem, in: /Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte
Deutschlands. /Vom 16. bis 21 Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin.
Stenographische Berichte, Berlin: Zentralrat der sozialistischen Republik
Deutschlands, 1919, S. 105--112.

[18] Siehe den Bericht von Ernst Däumig im gleichen Band [S. 115--118].

[19] [Zu Hugo Haase (1863--1919), ab 1897 Abgeordneter im Reichstag, im
September 1911 zu einem der beiden gleichberechtigten Vorsitzenden der SPD
gewählt (nach dem Tod von August Bebel im August 1913 mit Friedrich Ebert),
im April 1917 Mitbegründer und Vorsitzender der USPD, starb an den Folgen
eines Attentats vom Oktober 1919, siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Haase und die dort verzeichnete
Literatur.]

[20] E. Kolb, Die Arbeiterräte, S. 29.

[21] [Richard Müller, Eröffnungsansprache, in: /Allgemeiner Kongreß der
Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands/, S. 1.]

[22] ["Que veut Spartacus? (Programme de la Ligue Spartacus)", zitiert
nach:] André u. Dori Prudhommeaux, /Spartacus et la//Commune de Berlin/,
Paris: Spartacus, René Lefeuvre, 1949, S. 98. [Rosa Luxemburg, "Was will der
Spartakusbund?", in: dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz Verlag,
1974, S. 448/449.]

[23] [Zu den "Bremer Linksradikalen", ihrem führenden Kopf Johann Knief
(1880--1919) und den IKD siehe außer Wikipedia-Einträgen vor allem
zahlreiche Arbeiten des DDR-Historikers Gerhard Engel, darunter: /Johann
Knief -- ein unvollendetes Leben/, Berlin: Karl Dietz Verlag, 2011,
(Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. XV); "The
International Communists of Germany, 1916--1919" (aus dem Deutschen
übersetzt von Joe Keady), in: Ralf Hoffogge / Norman LaPorte (Hrsg.):
/Weimar Communism as Mass//Movement/, 1918--1933, London: Lawrence and
Wishart, 2017, S. 25--44.]

[24] Paul Levi, Was ist das Verbrechen? Die Märzaktion oder die Kritik
daran? Rede auf der Sitzung des Zentralausschusses der V.K.P.D. am 4. Mai
1921, Berlin: A. Seehof, 1921, [S. 33/34?].

[25] Léon Trotsky, "Une révolution qui traîne en longueur" (zuerst
veröffentlicht in Prawda, 23. April 1919), in: Rosa Luxembourg / Léon
Trotsky, /La révolution allemande de//1918-1919/, Beilage zu La Vérité.
Mensuel trotskyste, Nr. 515, 1. Februar 1959), S. 12.[Auf Englisch: Leon
Trotsky, "A Creeping Revolution", in: ders., /The First Five Years of the
Communist International/, 2. Ausg., Bd. 1, aus dem Russischen übersetzt von
John G. Wright, New York: Monad Press, 1972, S. 45; andere Übersetzung: Leon
Trotsky, "A Creeping Revolution", in: ders., How the Revolution Armed, Bd.
III: The Year 1920, aus dem Russischen übersetzt von Brian Pearce, London:
New Park Publications, 1981, S. 340.]

[26] [Vgl. Arthur Rosenberg, /Geschichte der Weimarer Republik,/2. Ausg.,
hrsg. von Kurt Kersten, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1961,
S. 60/61.]

[27] Siehe Emil Eichhorn über die Januar-Ereignisse. Meine Tätigkeit im
Berliner Polizeipräsidium und mein Anteil an den Januarereignissen, Berlin:
Verlagsgenossenschaft "Freiheit", 1919.

[28] ["Versäumte Pflichten", in: Rosa Luxemburg, /Gesammelte//Werke/, Bd. 4,
Berlin: Dietz, 1974, S. 520 (Hervorhebungen in der Vorlage)]

[29] Siehe Elisabeth Hannover-Drück u. Heinrich Hannover, Der Mord an Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967 [2. Ausg., Göttingen: Lamuv, 1989]; W.
Pieck, "Die Gründung der KPD. Erinnerungen an die Novemberre volution", [S.
67]. [Aus der neueren Literatur: Klaus Gietinger, Eine Leiche im
Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L., Berlin: Verlag 1900, 1995;
Annelies Laschitza / Klaus Gietinger (Hrsg.), Rosa Luxemburgs Tod.
Dokumentare und Materialien, Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, 2010,
(Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 7).]

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