[IPK] Venezuela: Zum Verständnis der aktuellen Krise

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
Sa Jan 26 14:52:30 CET 2019


Venezuela:

Zum Verständnis der aktuellen Krise

-------------------------------------------------------------------

 

Die derzeitige gesellschaftspolitische Situation in Venezuela ist zerrissen,
tief zerrüttet und höchst chaotisch.

 

 

Von Emiliano Terán Mantovani

 

 

Es ist unmöglich, die derzeitige Krise in Venezuela zu verstehen, ohne den
Zusammenhang einiger Faktoren, die sich "im Inneren" abspielen und von den
großen Medien nicht erklärt werden, zu analysieren. Wir stellen sieben
Schlüsselfaktoren der aktuellen Krise vor, durch die sich herausstellen
wird, dass das aktuelle Geschehen im Land nicht nachvollzogen werden kann,
wenn man die Eingriffe des Auslandes nicht berücksichtigt. Zudem wird
deutlich, dass der Begriff "Diktatur" weder auf Venezuela zutrifft, noch
eine regionale Besonderheit dieses Landes ist. Zugleich erläutern wir, dass
der Sozialvertrag, die Institutionen und die Rahmenbedingungen der formellen
Wirtschaft aus dem Ruder laufen. Die Zukunft und die politischen Auslegungen
der aktuellen Situation werden mittels Gewalt gelenkt. Dies geschieht anhand
einer ganzen Reihe von informellen, ungewöhnlichen und nicht
offensichtlichen Mechanismen. Außerdem stellen wir fest, dass der gemeinsame
Horizont beider politischer Lager neoliberal ist und das Land vor einer
historischen Krise des eigenen Rentenkapitalismus steht; und dass die
Gemeinden, die popularen Organisationen und die sozialen Bewegungen mit
einer zunehmenden Aushöhlung des Sozialgefüges konfrontiert sind.

 

Der Umgang, den Venezuela in den großen internationalen Medien erfährt, ist
zweifelsohne einzigartig auf der Welt. Außer Frage steht, dass es zu viel
Schwarzweißmalerei, zu viele Verfälschungen, Parolen, Manipulationen und
Auslassungen gibt.

 

Fern der törichten Darstellungen, in denen mithilfe des medialen Neusprechs
alles, was im Land passiert mit Schlagworten wie "humanitäre Krise",
"Diktatur" oder "politische Gefangene" betitelt oder aus der heroischen
Erzählweise eines Venezuela des "Sozialismus" und der "Revolution", die alle
Ereignisse im Land als "Wirtschaftskrieg" oder "imperialen Angriff"
interpretiert, gibt es viele Themen, Subjekte und Prozesse, die unsichtbar
und weit weg, aber für die Zusammensetzung des nationalen politischen
Szenario von grundlegender Bedeutung sind. Es ist unmöglich, die derzeitige
Krise in Venezuela zu verstehen, ohne die Faktoren, die sich "im Inneren"
entwickeln, insgesamt zu analysieren.

 

Das Kriterium des Handelns und Interpretierens, das auf der
"Freund-Feind"-Logik fußt, steht eher für einen Disput zwischen den Eliten
der politischen Parteien und Wirtschaftsgruppen als für die fundamentalen
Interessen der Arbeiterklasse und die Verteidigung der Gemeingüter. Es ist
notwendig, die Entwicklung der Krise und des Konflikts umfassend zu
betrachten, um so die Koordinaten für die Überwindung der derzeitigen
Situation zu finden.

 

Wir stellen sieben Schlüsselfaktoren für ein Verständnis vor, indem wir
nicht nur den Disput zwischen Regierung und Opposition, sondern auch die
Entwicklung von Prozessen innerhalb der politischen Institutionen, der
sozialen Strukturen und der ökonomischen Gefüge analysieren. Gleichzeitig
werden die Komplexitäten des Neoliberalismus und der Staats- und
Regierungsführung im Land verdeutlicht.

 

 

I. ÄUSSERE FAKTOREN

 

Die üppigen Bodenschätze des Landes, seine geostrategische Lage, seine
ursprüngliche Kampfansage an die Politik im Rahmen des Konsenses von
Washington, sein Einfluss auf die regionale Integration und auch die
Allianzen mit China, Russland oder dem Iran: Venezuela wird eine enorme
geopolitische Bedeutung beigemessen. Und trotzdem gibt es Intellektuelle und
Medienschaffende, die ständig versuchen, die einfließenden internationalen
Aktivitäten, die sich auf die politische Entwicklung im Land auswirken und
diese bestimmen, zu ignorieren, unter denen das ständige
interventionistische Handeln der US-Regierung und der verschiedenen
faktischen Mächte der USA hervorsticht.

 

In dem Sinn machen diese Teile die Kritik am Imperialismus lächerlich und
stellen die Regierung als einzigen politischen Akteur in Venezuela dar und
letztlich als einzige Instanz für politische Fragen.

 

Von Beginn der Bolivarischen Revolution an hat sich ein starker
US-Interventionismus gegenüber Venezuela entwickelt. Dieser hat sich seit
dem Tod von Präsident Chávez im Jahr 2013 und vor dem Hintergrund der
Erschöpfung des progressiven Zyklus und der konservativen Restauration in
Lateinamerika verschärft und wurde noch aggressiver. Es sei noch einmal an
den Erlass von Barack Obama vom März 2015 erinnert, mit dem Venezuela zu
einer "ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung für die nationale
Sicherheit der USA" erklärt wird. [1] Was mit den Ländern passiert ist, die
auf diese Weise von der Macht im Norden eingestuft wurden, wissen wir ja.

 

Aktuell kommt zu den aktuellen Drohungen von Admiral Kurt W. Tidd (am 6.
April 2017), Befehlshaber des Südkommandos der US-Streitkräfte, wonach die
"humanitäre Krise" in Venezuela eine regionale Antwort erforderlich machen
könnte) [2], und der durch die jüngsten Luftangriffe auf Syrien
offensichtlich gewordenen aggressiven Außenpolitik Donald Trumps der Versuch
Luis Almagros, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten
(OAS), zusammen mit anderen Ländern der Region die Demokratiecharta
anzuwenden, um einen Prozess zur "Wiederherstellung der Demokratie" im Land
einzuleiten.

 

Die Ideologen und Medienakteure der konservativen Restauration in der Region
zeigen sich sehr besorgt über die Lage der Menschenrechte in Venezuela,
schaffen es aber nicht, in ihren Analysen zu erklären, warum komischerweise
keine supranationale Anstrengung gleicher Art angesichts der entsetzlichen
Krise der Menschenrechte in Ländern wie Mexiko und Kolumbien unternommen
wird. Insofern ist die moralische Empörung scheinbar relativ und sie ziehen
es vor zu schweigen.

 

Mögen dem politisch motivierte Absichten oder analytische Unzulänglichkeit
zugrunde liegen: Diese Sektoren entpolitisieren die Rolle supranationaler
Organisationen, indem sie die geopolitischen Kräfteverhältnisse, aus denen
heraus sie gebildet werden und die Teil ihres Wesens sind, verkennen. Die
eine Sache ist die paranoide Lesart sämtlicher von diesen globalen
Organismen durchgeführten Operationen, und eine vollkommen andere ist eine
rein verfahrensmäßige Interpretation ihres Handelns, indem man die
Mechanismen internationaler Herrschaft und der Kontrolle der Märkte und der
Bodenschätze ignoriert, die mit Hilfe dieser Institutionen der globalen und
regionalen Steuerung gelenkt worden sind.

 

Man muss jedoch etwas Wichtiges hinzuzufügen. Wenn wir von Intervention
sprechen, können wir nicht nur die USA erwähnen. In Venezuela nehmen die
chinesischen Eingriffe in die Politik und die wirtschaftlichen Maßnahmen
stetig zu. Dies führt zum Verlust der Souveränität, zu einer Zunahme der
Abhängigkeit von der asiatischen Macht und der wirtschaftlichen
Flexibilisierung. Ein Teil der Linken hat es vorgezogen, über diese
Entwicklungen zu schweigen, da die einzig erwähnenswerte Einmischung jene
der USA zu sein scheint. Diese Interventionen von außen entwickeln sich
jedoch gleichermaßen, um eine transnationale Kapitalakkumulation und die
Aneignung der Bodenschätze zu begünstigen, und sie haben überhaupt nichts
mit den Forderungen des Volkes zu tun.

 

 

II. DER BEGRIFF "DIKTATUR" ERKLÄRT DIE SITUATION IN VENEZUELA NICHT

 

Fast von Anfang der Bolivarischen Revolution an hat man Venezuela als eine
Diktatur bezeichnet. Dieser Begriff ist weiterhin Gegenstand ausführlicher
Debatten der politischen Theorie, da er, vor allem in der gegenwärtigen
Epoche der Globalisierung, durch die politischen Umwälzungen und die
komplizierter werdenden modernen Formen der Regierung und der Ausübung von
Macht überdacht werden musste. Ernsthafte Lücken und Unstimmigkeiten in
seinen Definitionen sind die Folge.

 

Die Diktatur wird üblicherweise mit politischen Regimes oder
Regierungsformen in Verbindung gebracht, in denen sämtliche Macht unbegrenzt
auf eine Person oder eine Gruppe von Personen konzentriert ist;
Gewaltenteilung, Freiheitsrechte, Meinungs- und Parteienfreiheit existieren
nicht; mitunter ist der Begriff sogar vage als "das Gegenteil von
Demokratie" definiert worden.

 

Gegen Venezuela ist der Begriff im Medienjargon massenhaft und auf sehr
oberflächliche, irrationale und moralisierende Weise angewandt worden. Er
wurde praktisch als eine Art venezolanische Besonderheit dargestellt und das
Land so von den anderen Ländern der Region unterschieden, in denen es der
Theorie nach "demokratische" Regierungen gebe.

 

Der Punkt ist, dass man in der aktuellen Situation in Venezuela schwer sagen
kann, sämtliche Macht konzentriere sich unbeschränkt auf eine einzige Person
oder eine Gruppe von Personen, da wir es mit vielen politischen Akteuren zu
tun haben, die, obwohl von Hierarchien geprägt, zugleich zersplittert und
unbeständig sind -- vor allem seit dem Tod von Präsident Chávez. Genauso
gibt es verschiedene Machtblöcke, die sich verbünden oder auch einander
gegenüberstehen können und dies geht über die Zweiteilung Regierung --
Opposition hinaus.

 

Trotz einer Regierung mit einem bedeutenden Anteil von Militärs, gestiegenem
Autoritarismus und einer bestimmten Fähigkeit zur Zentralisierung, ist das
Szenario höchst beweglich. Es gibt keine totale Herrschaft von oben nach
unten und es existiert eine gewisse Gleichstellung zwischen den einzelnen
streitenden Machtgruppierungen. Dieser Konflikt wiederum könnte ausufern und
die Lage noch chaotischer werden lassen.

 

Die Tatsache, dass die venezolanische Opposition die Kontrolle über die
Nationalversammlung hat, die sie überzeugend bei Wahlen gewann, ist
ebenfalls Ausdruck dafür, dass es statt einer fehlenden der Gewaltenteilung,
vielmehr einen politischen Streit zwischen den Staatsgewalten gibt, bislang
zugunsten der Kombination Exekutive -- Judikative.

 

Wir stehen eher einem breiten und konfliktgeladenen Geflecht verschiedener
Kräfte gegenüber, als dass von einem einheitlichen politischen Regime
gesprochen werden kann. Die wuchernde Korruption trägt auch dazu bei, dass
die Machtausübung sich noch weiter dezentralisiert oder ihre Zentralisierung
durch die Staatsmacht erschwert wird.

 

Was allerdings mit dem römischen Konzept einer Diktatur zu tun hat, ist,
dass die venezolanische Regierung mittels Dekreten und speziellen Maßnahmen
im Rahmen eines erklärten "Notstandes" regiert, der seit Anfang 2016 in
Kraft ist. Im Namen des Kampfes gegen den Wirtschaftskrieg, gegen die
Zunahme der Kriminalität und des Paramilitarismus und das subversive
Vorgehen der Opposition werden viele institutionelle Mediationen und
demokratische Verfahren übergangen. Aufgrund ihrer Tragweite stechen vor
allem sicherheitspolitische Maßnahmen hervor, wie etwa die Operation zur
Befreiung des Volkes (OLP). Sie besteht aus direkten konfrontativen
Interventionen der staatlichen Sicherheitskräfte in verschiedenen
Territorien des Landes (ländliche, städtische, Barrios am Stadtrand), um
"das Verbrechertum zu bekämpfen", und ihre Bilanz an Todesfällen steht in
der Kritik; das Aussetzen des Referendums über eine Abwahl des Präsidenten;
die Verschiebung der Gouverneurswahlen 2016, bei denen noch immer unklar
ist, wann sie durchgeführt werden; ein Anstieg der Repression und exzessives
Vorgehen der Polizei angesichts der sozialen Unzufriedenheit, die Produkt
der Situation im Land ist; und zunehmende Militarisierungsprozesse, vor
allem an der Grenze und in den Gebieten, die wegen ihrer Bodenschätze als
"strategisch wichtig" erklärt wurden.

 

Das ist die politische Landschaft, die zusammen mit den verschiedenen Formen
ausländischer Einmischung das Szenario für einen Krieg niederer Intensität
schafft, der praktisch alle Bereiche des alltäglichen Lebens der Venezolaner
durchzieht. Dies ist also der Rahmen, in dem sich die individuellen
Freiheitsrechte, die Opposition und Parteienvielfalt, der Aufruf zu und die
Durchführung von Protestmärschen, Äußerungen von Uneinigkeit und Kritik in
den Kommunikationsmedien und andere Formen mehr der sogenannten Demokratie
in Venezuela entfalten.

 

 

III. SOZIALE UND WIRTSCHAFTLICHE DESINTEGRATION

 

Wenn es etwas gibt, das als Besonderheit des Falles Venezuela definiert
werden könnte, dann, dass das derzeitige gesellschaftspolitische Szenario
zerrissen, tief korrumpiert und höchst chaotisch ist. Wir haben behauptet,
dass das Land vor einer der schwersten institutionellen Krisen in ganz
Lateinamerika [3] steht, und nahmen dabei Bezug auf die Gesamtheit der
juristischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen,
welche die Republik Venezuela bilden.

 

Im Wirtschaftsbereich hat Die historische Krise des Ölrenten-Modells, die
grassierende Korruption im Land, tiefe Risse im Sozialgefüge seit der
"neoliberalen Periode" und speziell seit 2013, und die Intensität der
politischen Attacken und Auseinandersetzungen haben zusammen die Rahmen der
Institutionen in sämtlichen Gesellschaftsbereichen gesprengt und ein
Großteil der sozialen Entwicklungen wurde mittels informeller, versteckter
oder illegaler Mechanismen gesteuert.

 

Im Wirtschaftsbereich hat sich die Korruption zu einem durchgehenden
Mechanismus entwickelt, der gleichzeitig der Motor für die Verteilung der
Öleinnahmen ist. Enorme Summen an Devisen werden nach Ermesssen einiger
Weniger umgeleitet und somit das Fundament der formellen Rentenökonomie
untergraben. Hauptsächlich geschieht das über die PDVSA [4], das
bedeutendste Industrieunternehmen des Landes, und über wichtige Fonds wie
den China-Venezuela-Fonds oder zahlreiche verstaatlichte Unternehmen.

 

Der Kollaps des formellen Wirtschaftssektors machte aus dem informellen
praktisch einen der "Motoren" der gesamten nationalen Wirtschaft. Die
Quellen sozialer Chancen, sei es sozialer Aufstieg oder höhere
Verdienstmöglichkeiten, sind häufig im sogenannten Bachaqueo [5] von
Lebensmitteln (illegaler Handel zu Höchstpreisen auf dem Schwarzmarkt) [6]
und anderen Formen von Geschäften auf den verschiedenen Parallelmärkten zu
finden, wie Devisen, Medikamente, Benzin etc.

 

Im politisch-juristischen Bereich mangelt es dem Rechtsstaat an Respekt und
Anerkennung seitens der wichtigsten politischen Akteure. Sie erkennen sich
gegenseitig nicht nur nicht an, sondern reizen alle verfügbaren politischen
Spielräume aus, um auf Biegen und Brechen den jeweils anderen zu besiegen.
Die venezolanische Regierung konfrontiert jene, die sie für "feindliche
Kräfte" hält, mit Schock- und Sondermaßnahmen, während Gruppen des
reaktionärsten Flügels der Opposition gewalttätige Konfrontationen, Aktionen
des Vandalismus oder Angriffe auf die Infrastruktur durchführen. In diesem
Szenario ist der Rechtsstaat stark untergraben worden und dies macht die
venezolanische Bevölkerung sehr verwundbar.

 

Die Straffreiheit nimmt immer mehr zu und hat sich mittlerweile auf alle
Bereiche der Bevölkerung ausgebreitet. Das trägt nicht nur dazu bei, dass
sich die Korruption unaufhaltsam weiter einnistet, sondern beinhaltet auch,
dass das Volk nichts mehr vom Rechtssystem erwartet und es zunehmend in die
eigenen Hände nimmt.

 

Der Zusammenbruch des Sozialvertrages schafft in der Bevölkerung die Tendenz
des "Rette sich, wer kann". Die Zersplitterung der Macht hat ebenfalls dazu
beigetragen, dass sich diverse territoriale Machtgruppierungen gebildet
haben, wachsen und erstarken, wie zum Beispiel die "Bergbaugewerkschaften",
die mit Waffen Goldminen im Bundesstaat Bolívar kontrollieren, oder
kriminelle Banden, die Gebiete in Caracas wie etwa El Cementerio oder La
Cota 905 [7] beherrschen.

 

Der geschilderte Rahmen bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass sich
die Zukunft und die politischen Bestimmungen der aktuellen Situation im Land
zu einem guten Stück auf dem Weg der Gewalt entwickeln.

 

 

IV. DIE LANGFRISTIGE KRISE DES VENEZOLANISCHEN RENTENKAPITALISMUS

 

Der Absturz der internationalen Ölpreise war entscheidend in der Entwicklung
der Krise in Venezuela, aber er ist nicht der einzige Faktor, der den
Prozess erklärt. Seit den 1980er-Jahren gibt es immer stärkere
Erschöpfungssymptome des Akkumulationsmodells, das auf der Ölförderung und
der Verteilung der daraus generierten Einkünfte basiert. Die aktuelle Phase
der Chaotisierung der Wirtschaft (2013 bis heute) ist auch ein Produkt der
wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen 30 Jahre im Land. Warum?

 

Es gibt mehrere Gründe dafür. Ungefähr 60 Prozent des venezolanischen Erdöls
sind Schweröl oder Schwerstöl. Diese sind aus wirtschaftlicher Sicht
kostspieliger und erfordern für ihre Weiterverarbeitung, um vermarktet
werden zu können, einen höheren Arbeitsaufwand und Energieverbrauch. Die
Rentabilität des Geschäftes, von dem das Land zehrt, geht gegenüber früheren
Zeiten, als herkömmliches Öl überwog, zurück. Gleichzeitig fordert dieses
Modell immer mehr der Einnahmen und immer mehr Sozialinvestitionen, nicht
nur um die Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung zu bedienen.

 

Die extreme Konzentration der Bevölkerung in den Städten (mehr als 90
Prozent) fördert den Gebrauch der Einkünfte im Wesentlichen für den Konsum
(von importierten Waren) und sehr wenig für Produktives. Die Boom-Zeiten
befördern den (primären) extraktiven Sektor -- die Auswirkungen der
sogenannten "Holländischen Krankheit" -- was wiederum den sowieso schon
schwachen produktiven Sektoren merklich schadet. Nach dem Ablauf einer
solchen Aufschwungphase (wie Ende der 70er-Jahre und seit 2014 erneut) ist
die Wirtschaft noch abhängiger und gegen neue Krisen noch weniger gewappnet.

 

Die sozio-politische Korruption des Systems ermöglicht ebenso Kapitalflucht
und betrügerische Verschiebung der Einnahmen, was die Entwicklung einer
vernünftigen Verteilungspolitik verhindert, um die Krise zu lindern.

 

Zunehmende Schwankungen der internationalen Ölpreise haben ebenso
weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschaft Venezuelas wie die
Veränderungen im globalen Machtgefüge hinsichtlich des Erdöls (zum Beispiel
verliert die OPEC zunehmend an Einfluss).

 

Während dieses ganzen ökonomischen Auf und Ab werden die ökologischen
Ressourcen weiter abgegraben und aufgebraucht, was in der Gegenwart und
Zukunft die Lebensgrundlagen von Millionen Venezolanern bedroht. Die
aktuelle Lösung, die die Regierung vorantreibt, ist eine deutliche Erhöhung
der Auslandsverschuldung, eine rückläufige Verteilung der Ölrente an die
Bevölkerung, die Ausweitung der Rohstoffförderung und die Begünstigung
ausländischen Kapitals gewesen.

 

Zusammengefasst: Welche politische Elite auch immer in den kommenden Jahren
regiert, sie wird so oder so den historischen Grenzen gegenüberstehen, die
mit dem alten Ölrenten-Modell erreicht wurden. Es wird nicht ausreichen, auf
einen Glückstreffer zu hoffen, auf dass die Ölpreise wieder steigen. Es
werden Veränderungen großen Ausmaßes kommen und man muss auf sie vorbereitet
sein.

 

 

V. EIN PROZESS DER ZUNEHMENDEN WIRTSCHAFTLICHEN ANPASSUNG UND
FLEXIBILISIERUNG

 

Im Land entwickelt sich gerade ein zunehmender Anpassungs- und
Zersplitterungsprozess der Wirtschaft, wobei vorherige Kapitalregulierungen
und -beschränkungen flexibilisiert werden. Dabei werden die zuvor in der
Bolivarischen Revolution erreichten sozialen Fortschritte allmählich
demontiert. Diese Änderungen treten maskiert im Namen des Sozialismus und
der Revolution auf, stellen aber eine Politik dar, die von der Bevölkerung
immer mehr abgelehnt wird.

 

Politische Maßnahmen wie die Gründung von Sonderwirtschaftszonen stechen
hervor. Sie stellen umfassende Öffnungen von Teilen des Staatsgebietes dar
und damit wird die Souveränität an ausländisches Kapital und Investoren
übergeben, die praktisch ohne Schranken in diesen Zonen operieren können. Es
handelt sich um eine der neoliberalsten Maßnahmen seit der "Agenda
Venezuela", die auf Empfehlung des Internationalen Währungsfonds in den
1990er Jahren von der Regierung Rafael Calderas vollzogen wurde.

 

Es gibt noch weitere Beispiele dafür: die stufenweise Flexibilisierung der
Abkommen mit ausländischen Ölgesellschaften im Orinoco-Gürtel; die Freigabe
der Preise einiger Grundbedarfsgüter; die zunehmende Ausgabe von
Staatsanleihen; die Abwertung der Währung, indem eine Art frei schwankender
Wechselkurs geschaffen wurde (Simadi); die Billigung einiger direkt in
US-Dollar getätigter Handelsgeschäfte, beispielsweise in der
Tourismusbranche; oder die zuverlässige Begleichung der Auslandsschulden und
Leistungen, was eine Senkung der Importe und somit Probleme der Knappheit
bei Artikeln des Grundbedarfs mit sich bringt.

 

Die Wiederbelebung der flexibilisierten Rohstoffförderung wird angeschoben,
man zielt auf die neuen Grenzen der Förderung. Besonders mit dem Megaprojekt
Arco Minero del Orinoco, das auf einem Gebiet von 111 800 Quadratkilometern
einen gigantischen Bergbau nie zuvor gekannten Ausmaßes entstehen lassen
soll, was die Existenzgrundlagen der Venezolaner und vor allem der indigenen
Völker bedroht. Diese Projekte verfestigen zudem langfristig die
Abhängigkeit von den Schemata, die der Extraktivismus schafft. [8]

 

Zu betonen ist, dass diese Reformen verbunden sind mit der Aufrechterhaltung
einiger Sozialhilfepolitiken, stetigen Erhöhungen der nominalen Löhne,
einigen Zugeständnissen hinsichtlich der Forderungen der Basisorganisationen
und einem revolutionären und antiimperialistischer Diskurs. All dies zielt
offensichtlich vor allem darauf ab, die verbliebene Unterstützung bei den
Wahlen aufrechtzuerhalten.

 

Gegenwärtig erleben wir also einen "mutierten Neoliberalismus", wie wir ihn
nennen, insoweit Formen der Kommerzialisierung, Finanzialisierung und der
Deregulierung mit Mechanismen staatlicher Interventionen und Sozialhilfe
kombiniert werden.

 

Ein Teil der Linken war sehr darauf fokussiert, konservative Regierungen an
der Macht zu verhindern, um so die "Rückkehr zum Neoliberalismus" zu
vermeiden. Sie vergessen dabei jedoch zu erwähnen, wie auch progressive
Regierungen verschiedene selektive, abgeänderte und gemischte Maßnahmen mit
neoliberalem Profil vorangetrieben haben, die letztlich dem Volk und der
Natur schaden. [9]

 

 

VI. DIE ALTERNATIVE?

 

Der rechtsgerichtete Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) ist das derzeit
vorherrschende Parteienbündnis der Opposition zur venezolanischen Regierung,
auch wenn eine linke Oppositionsbewegung gerade langsam heranwächst und es
gut möglich ist, dass sie das weiterhin tut. Diese kritische Linke,
zumindest diejenige im engeren Sinn, identifiziert sich nicht mit dem MUD
und organisiert sich daher politisch nicht mit ihm.

 

Der MUD ist kein homogener Block, es finden sich dementsprechend Sektoren
wieder, die von einflussreichen radikalen Gruppierungen der extremen Rechten
-- die als "Uribistas" [10] bezeichnet werden könnten -- bis hin zu
gemäßigten Konservativen und Vertretern eines elitären Liberalismus reichen.
Diese verschiedenen Gruppen stehen in einer konflikthaften Beziehung
zueinander, mit möglichen Konfrontationen und gegenseitige Abfuhren.

 

Trotz ihrer Differenzen sind die Gruppierungen des MUD mindestens durch drei
wesentliche Faktoren geeint: das ideologische Raster, die Grundlagen ihres
Wirtschaftsprogramms und die reaktionäre Agenda gegenüber der Regierung und
angesichts der Möglichkeit einer tiefgreifenden Transformation. Wir werde
uns auf die beiden erstgenannten beziehen.

 

Ihr ideologisches Raster wird zutiefst von der neoklassischen Theorie und
vom konservativen Liberalismus bestimmt; das Privateigentum, das Ende der
"Ideologisierung" durch den Staat und ein Mehr an unternehmerischen und
individuellen Freiheiten werden obsessiv gepriesen.

 

Diese ideologischen Grundpfeiler sind in der Programmatik dieses Blocks
klarer als in seinen eigenen Mediendiskursen, wo die Rhetorik einfach,
oberflächlich und voller Parolen ist. Das umfassendste Konzept seines
ökonomischen Modells findet sich in den "Richtlinien für das Programm einer
Regierung der Nationalen Einheit (2013-2019)" [11] wieder. Im Verhältnis zu
dem Projekt der derzeitigen venezolanischen Regierung handelt es sich
hierbei um eine orthodoxere neoliberale Version der Ölförderung.

 

Obwohl man sich den "Wandel" und ein "produktives Venezuela" auf die Fahnen
schreibt, sieht der Vorschlag eine Steigerung der Ölförderung auf bis zu
sechs Millionen Barrel täglich vor und betont dabei den Anstieg der
Fördermengen im Orinoco-Gürtel. Auch wenn sie sich gegenseitig beschuldigen,
zanken und öffentlich mit dem Finger aufeinander zeigen, verbrüdern sich
Henrique Capriles Radonski ("Öl für deinen Fortschritt") [12] und Leopoldo
López ("Öl im besseren Venezuela") [13] in ihren Vorschlägen und stimmen mit
dem von der Regierung angestoßenen "Plan für das Vaterland" (2013-2019)
überein. Der angekündigte Wandel ist nichts weiter als ein erneutes
Festhalten am Extraktivismus, mehr Rentismus und Entwicklung und die
wirtschaftlichen Konsequenzen und sozial-ökologischen sowie kulturellen
Folgen, die dieses Modell mit sich bringt.

 

 

VII. DIE FRAGMENTIERUNG DES "VOLKES"

 

Die arbeitende Bevölkerung ist in dem stattfindenden Krieg niederer
Intensität und dem systematischen Chaos die Leidtragende. Der starke
sozialpolitische Zusammenhalt, der sich in den ersten Jahren der
Bolivarischen Revolution gebildet hatte, hat sich nicht nur abgenutzt,
sondern ist zunehmend zerlegt worden. Das führt sogar soweit, dass das
kommunitäre Gefüge im Land bis ins Mark getroffen ist.

 

Die Unsicherheit bei der Deckung der täglichen Grundbedürfnisse; die Anreize
zur individuellen und wettbewerbsfähigen Lösung der sozio-ökonomischen
Probleme der Bevölkerung; die wuchernde Korruption; das Steuern von
Konflikten und sozialen Streitigkeiten mittels Gewalt; der Verlust von
ethisch-politischen Bezügen und der Verschleiß der Polarisierung durch in
Misskredit geratene Parteien; die direkte Aggression gegenüber starken oder
bedeutenden kommunitären Erfahrungen und Anführern seitens verschiedener
politischer oder territorialer Akteure: All diese Erfahrungen tragen dazu
bei, dass das Sozialgefüge geschwächt wird und die wirklichen Eckpfeiler
eines möglichen emanzipatorischen und von der Bevölkerung getragenen
Transformationsprozesses eingerissen werden. Auch die Widerstandsfähigkeit
der Menschen gegenüber einem weiteren Vormarsch regressiver Kräfte im Land
wird dadurch geschwächt.

 

Inzwischen drängen landesweit verschiedene Basisorganisationen und soziale
Bewegungen darauf, von ihren Gebieten ausgehend eine Alternative zu
schaffen. Die Zeit wird zeigen, wie viel Anpassungs- und
Widerstandsfähigkeit sie besitzen, und vor allem, ob sie die kollektive
Fähigkeit aufbringen, sich untereinander zu organisieren und mit größerem
Nachdruck den Kurs des politischen Projekts des Landes bestimmen können.

 

Sollte es eine bedingungslose Solidarität geben, die von der Linken in
Lateinamerika und weltweit angeschoben werden müsste, so mit diesem
kämpfenden Volk, das historisch die Ausbeutung und die Kosten der Krise
geschultert hat. Es ist oftmals auf die Straße gegangen, um seinen
Forderungen Gehör zu verschaffen. Und in der aktuellen Situation ist es mit
komplexen Problemen konfrontiert, die die Zeiten der Regression mit sich
bringen. Die Solidarität mit diesem kämpfenden Volk sollte das Hauptanliegen
der Linken sein. Der Preis, sich auf eine Strategie für den Machterhalt zu
konzentrieren und diesen popularen antihegemonialen Kräften den Rücken zu
kehren, könnte sehr hoch sein.

 

Emiliano Terán Mantovani aus Venezuela ist Soziologe, Experte für
ökologische Wirtschaft und Autor; Mitarbeiter in der ständigen Arbeitsgruppe
"Alternativen zur Entwicklung" der Rosa-Luxemburg-Stiftung und im
Lateinamerikanischen Rat für Sozialwissenschaften (Clacso). Aktiv im
Netzwerk gegen Ölförderung in tropischen Ländern (Red Oilwatch)

 

Übersetzung: Sebastian Schebler (amerika21)

 

 

 

-------------------------------------------------------------------

Aus:   die internationale Nr. 5/2017 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

-------------------------------------------------------------------

 

-----

[1]
https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2015/03/09/executi...
(http://tinyurl.com/y9pz3ceu)

[2]
http://www.southcom.mil/Portals/7/Documents/Posture%20Statements/SOUTHCO...
(http://tinyurl.com/y7s32bdf)

[3] http://www.rebelion.org/noticia.php?id=207450

[4]
http://www.correodelorinoco.gob.ve/maduro-hay-que-ira-sanear-profundame...
(http://tinyurl.com/y8pdheq8)

[5] A. d. Ü.: Produkte werden zum staatlich regulierten Normalpreis gekauft
und unter Ausnutzung von Engpässen zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt
weiterverkauft

[6]
http://www.eluniversal.com/noticias/economia/leon-bachaquero-invierte-40...
(http://tinyurl.com/y7lxc68p)

[7]
http://efectococuyo.com/principales/van-al-menos-24-fallecidos-en-enfrentami
entos-entre-cicpc-y-bandas-delincuenciales

[8] http://www.alainet.org/es/articulo/175893

[9] http://www.alainet.org/es/articulo/172285

[10] A. d. Ü.: Anhänger des ultrachrechten Politikers und Ex-Präsidenten von
Kolumbien, Álvaro Uribe

[11]
http://static.telesurtv.net/filesOnRFS/opinion/2015/12/09/mud_government_pla
n.pdf

[12]
http://www.eluniversal.com/noticias/politica/plan-petroleo-para-progreso...
(http://tinyurl.com/ycqbqnnm)

[13]
http://www.leopoldolopez.com/en-la-mejor-venezuela-duplicaremos-la-produ...
(http://tinyurl.com/y8eouzls)

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listen.jpberlin.de/pipermail/inprekorr-l/attachments/20190126/7ff50351/attachment-0001.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l