[IPK] Venezuela: "Man muss die Einmischung verurteilen"

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So Mär 3 11:09:04 CET 2019


Venezuela:

"Man muss die Einmischung verurteilen"

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Venezuela macht Momente kritischer Spannungen durch, nachdem es an der
Staatsspitze zweierlei Macht gibt. Franck Gaudichaud, Spezialist für
Lateinamerika und Dozent an der Universität Grenoble-Alpes sowie Mitglied
der NPA, beleuchtet für uns die Lage.

 

 

?? Im Gegensatz zur Lima-Gruppe, die sich hinter Juan Guaidó gestellt hat,
sind Mexiko und Uruguay, die Nicolás Maduro unterstützen, der Auffassung,
dass "die beabsichtigte Dualität von Mächten in Venezuela ein direkter Weg
zum Chaos und zur Zerstörung des venezolanischen Staats" ist. Teilen Sie
diese Ansicht?

 

*Franck Gaudichaud:* Die Länder der Lima-Gruppe, zu der zehn
lateinamerikanische Länder sowie Kanada zählen, haben sich weitgehend hinter
Donald Trump aufgereiht, dessen Ziel ist es, sich die Krise in Venezuela
zunutze zu machen, um mit der Regierung Maduro Schluss zu machen. Die
Besessenheit der US-amerikanischen Neokonservativen mit Interventionen
beschwört offenkundig das Risiko herauf, dass es in Venezuela Chaos und noch
mehr Gewalt geben wird. Durch die Anerkennung des selbsternannten
Präsidenten Guaidó, der Teil einer Strategie des Staatsstreichs ist, haben
wir es mit einer neuen Stufe in dieser Agenda zu tun.

 

Die geopolitische Lage ist komplex. Während die Europäische Union (mit
Ausnahme von Ländern wie Griechenland), Emmanuel Macron oder die Lima-Gruppe
Juan Guaidó anerkannt haben, unterstützen China, Russland, Iran, Kuba und
Bolivien Nicolás Maduro, während Mexiko und Uruguay den Vorschlag für einen
Dialog zwischen den Protagonisten gestartet haben. Es gibt eine große
politische Polarisierung. Jedes Lager bemüht sich, seine Anhängerschaft im
Lande zu mobilisieren (wie vor kurzem bei den Massendemonstrationen pro und
contra Maduro zu sehen gewesen ist), aber ebenso auf internationaler Ebene.
Der Dialogvorschlag und die Nichtanerkennung von Guaidó sind auch die
Position der Vereinten Nationen.

 

 

?? Hat die Wahl von Jair Bolsonaro in Brasilien die Bereitschaft der USA
gefördert zu intervenieren?

 

Das ist nicht auszuschließen. Es gibt insgesamt so etwas wie eine
Konstellation der Gestirne. Die Wahl dieses extrem-rechten Präsidenten hat
auf die gesamte Region eine Auswirkung gehabt; hier dominieren insbesondere
nach der Wahl von Ivan Duque in Kolumbien, aber auch von Mauricio Macri in
Argentinien und Sebastián Piñera au Chili von nun an die rechten und
konservativen Kräfte.

 

 

?? Bislang steht die Armee hinter dem gegenwärtigen Präsidenten. Was würde
geschehen, falls sie eine Kehrtwende vollziehen würde?

 

Nicolás Maduros Stärke beruht in diesem Stadium im wesentlichen darauf, dass
er die Streitkräfte kontrolliert. Diese Institution ist aber nicht
monolithisch. Es gibt reale Unterschiede zwischen den Generälen, die eng an
die bestehende Macht gebunden sind, und den einfachen Truppen, die aus der
armen Bevölkerung stammen und die die dramatischen Schwierigkeiten der
tagtäglichen Existenz mitbekommen.

 

 

?? Kann man die Lage unter dem Blickwinkel des Klassenkampfs analysieren,
wobei die wohlhabende Klasse Juan Guaidó unterstützen, während Nicolás
Maduro sich auf die ärmeren Klassen stützen würde?

 

------------ KASTEN -----------------------------------------------

[Bild herunterladbar unter https://www.inprekorr.de/568-ven-gaud_400.jpg]

 

So wie in Genf hat es auch in London eine Demonstration gegeben, auf der die
Einmischung der USA und der EU in Venezuela verurteilt wurden. (Foto:
Socialist Appeal)

 

 

 

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Das ist viel differenzierter zu sehen. Hat der Klassenkonflikt (und ein
"Rassen"konflikt) in der Tat die Ära von Hugo Chávez geprägt, mit dem
Gegensatz zwischen denen unten, zu denen sowohl die armen Klassen wie die
afrikanischstämmige und die indigene Bevölkerung gehört, auf der einen und
der wohlhabenden weißen Klasse und der traditionellen Oligarchie auf der
anderen Seite, so ist inzwischen alles neu sortiert. Wir sehen, wie die
Menschen in historisch chavistischen Stadtteilen auf die Straße gehen, um zu
protestieren oder die Aufrufe der Opposition zu befolgen, nachdem die
Hyperinflation oder die Korruption die chavistischen Sozialprogramme
zunichte gemacht haben. Die ärmeren Klassen zeigen, dass sie unzufrieden
sind mit der Staatsmacht. Sie haben jedoch so gut wie keine Illusionen in
Juan Guaidó, dessen Partei "Voluntad Popular" (Volkswille) der
Sozialistischen Internationale angeschlossen ist; sie ist offen rechts,
selbst wenn sie in leuchtenden Farben eine Besserung der Kaufkraft ausmalt.
Juan Guaidó rechnet mit der Unterstützung durch bestimmte Teile der
Unternehmer, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen.

 

 

?? Was bleibt gegenwärtig von diesen Sozialprogrammen?

 

Wegen des allgemeinen Mangels hat Nicolás Maduro ab 2016 versucht, die CLAP,
Örtliche Komitees für Versorgung und Produktion, einzuführen; sie sind
allerdings klientelistisch und aufgrund des gegenwärtigen wirtschaftlichen
Desasters ganz schlecht organisiert. Das Ergebnis ist, dass über zwei
Millionen Venezolaner und Venezolanerinnen aus dem Land geflohen sind.

 

 

?? Wie beurteilen Sie die Haltung der Europäischen Union, die Nicolás Maduro
ein Ultimatum gestellt und verlangt hat, dass es schnell Neuwahlen für die
Präsidentschaft gibt?

 

Diese Haltung läuft auf Paternalismus und Neokolonialismus hinaus. Macron
hat übrigens mit einer Tradition, die von De Gaulle bis Mitterrand reicht,
gebrochen und entschieden, eine Regierung anzuerkennen, während Frankreich
bisher nur Staaten anerkannt hat. Auch wenn man eine kritische Bilanz von
Nicolás Maduro ziehen muss, ist auch diese äußere Einmischung zu
verurteilen.

 

 

?? Ist der Umstand, dass Juan Guaidó und Nicolas Maduro beide von
Großmächten unterstützt werden, nicht Grund zu denke, dass eine direkte
bewaffnete Konfrontation unwahrscheinlich ist?

 

Mehrere russische Strategen, die in der Presse zitiert werden, haben die
Einschätzung, ihr Land sei nicht imstande, in Venezuela tätig zu werden, und
noch weniger sei es dazu gewillt. Es sollte angesprochen werden, dass China
und Russland für Nicolás Maduro nicht nur eine politische Stütze sind,
sondern vor allem eine ökonomische. Venezuela ist bei diesen beiden Ländern
tief verschuldet, sie könnten im Fall eines Konflikts ihre Einlagen
verlieren.

 

 

?? Welche Wege aus der Krise heraus sind möglich?

 

Im Moment ist ein Weg aus der Krise heraus schwierig vorstellbar. Mexiko und
Uruguay haben die Bildung einer Kontaktgruppe mit den Protagonisten
vorgeschlagen. Während Nicolás Maduro sich dazu bereit erklärt hat, sieht es
so aus, als würden weder Trump noch Juan Guaidó diese Option wollen. Dieser
Vorschlag ist auch von der Europäischen Union abgetan worden, sie verlangt
außerdem, dass schnell Präsidentschaftswahlen durchgeführt werden.

 

Bestimmte venezolanische Intellektuelle haben über eine Plattform den
Vorschlag gemacht, einen konsultativen Volksentscheid durchzuführen, wie er
in der Verfassung zugelassen ist, und das Volk zu befragen, ob es allgemeine
Neuwahlen haben will oder nicht, damit würden die staatlichen Stellen
"relegitimiert". Diese Plattform, verurteilt die ausländische Einmischung
und den Autoritarismus, sie sucht zugleich, einem möglichen Bürgerkrieg und
jeglicher Militärintervention entgegenzuwirken. Es würde darum gehen, eine
demokratische und friedliche Lösung für das Land zu stärken; diese Option
scheint derzeit schwer vorstellbar zu sein.

 

 

Aus dem Französischen übersetzt von Wilfried

 

 

Dieses Interview ist am 7. Februar auf der Website der in Genf erscheinenden
Wochenzeitung /Gauchebdo/ erschienen und in /L'Anticapitaliste,/ der
Wochenzeitung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), nachgedruckt
worden.

 

 

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 2/2019 

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