[IPK] Die Proteste in Hongkong verschärfen sich

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
So Sep 1 14:32:37 CEST 2019


Hongkong:

Die Proteste in Hongkong verschärfen sich

-------------------------------------------------------------------

 

"Jacobin"-Mitarbeiter Kevin Lin sprach mit dem langjährigen Sozialisten und
Autor Au Loong Yu über die zunehmenden Demonstrationen, die inhaltliche
Ausrichtung der Protestbewegung, die Rolle der Gewerkschaften und die
Auswirkungen verschiedener geopolitischer Beziehungen (Peking--Hongkong,
USA--China) auf die sich zuspitzende Revolte. Das Interview ist am 1. August
erschienen.

 

 

Interview mit Au Loong Yu

 

 

Massenproteste in Hongkong haben die Regierung gezwungen, eine
Gesetzesvorlage zurückzustellen, die kritische Stimmen zum Schweigen bringen
soll. Trotzdem sind die Demonstrant*innen weiterhin auf der Straße -- und
sie fordern den Rücktritt von Hongkongs Regierungschefin.

 

Die anhaltenden Demonstrationen in Hongkong rufen uns eindrucksvoll in
Erinnerung, dass sich scheinbar unabwendbare Gesetze durch Massenproteste
verhindern lassen.

 

Die millionenstarken Kundgebungen im Juni haben die Regierung von Hongkong
gezwungen, ein Gesetz, das Auslieferungen an China ermöglichen soll, vorerst
auf Eis zu legen. Kritiker*innen gehen davon aus, dass Peking mit diesem
Gesetz Andersdenkende in der ehemaligen britischen Kolonie zum Verstummen
bringen könnte. Die Protestierenden wollten sich mit dem bloßen
Zurückstellen der Vorlage nicht zufrieden geben, sondern forderten ihre
vollständige Aufhebung sowie den Rücktritt der von Peking gestützten
Regierungschefin Carrie Lam.

 

Anders als Hongkongs Regenschirm-Bewegung von 2014, die verschiedene
Wortführer hatte, lehnen die jungen Demonstrant*innen jede Führung ab und
scheinen nicht daran interessiert, ihren Protest in Richtung Wahlen zu
kanalisieren. Stattdessen haben sie ihre direkten Aktionen ausgeweitet. Sie
lieferten sich Schlachten mit der Polizei, besetzten vorübergehend den
Legislativrat (Parlament der chinesischen Sonderverwaltungsregion) und
demonstrierten in Hongkongs internationalem Flughafen.

 

Chinas Regierung hat die Protestierenden davor gewarnt, die Grundformel "Ein
Land, zwei Systeme" infrage zu stellen (dieses von Deng Xiaoping in den
frühen 1980er-Jahren erstmals formulierte Prinzip betrachtet Hongkong als
Teil von China, gewährt der Sonderverwaltungszone jedoch ein gewisses Maß an
Autonomie). Peking deutete sogar eine mögliche Militärintervention an,
verzichtete bislang aber darauf, direkter einzugreifen. Trotzdem schwebt die
Gefahr eines harten Durchgreifens über den Kämpfen, deren physische Gewalt
bedrohlich ansteigt. Seit den Demonstrationen der letzten zwei Monate sind
zum ersten Mal vierundvierzig Protestierende wegen Ausschreitungen
angeklagt.

 

Weder Hongkong und Peking noch die Demonstrant*innen zeigen Anzeichen von
Schwäche. Und angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit in der
Bevölkerung Hongkongs -- die noch immer keine Möglichkeit hat, ihre
Regierung ohne Beteiligung Pekings zu wählen -- ist anzunehmen, dass selbst
der Rücktritt von Carrie Lam die Pattsituation nicht lösen könnte. 

 

 

?? Kevin Lin: Nach den Massenkundgebungen im Juni führten Gruppen von
Demonstrierenden vermehrt militante Aktionen gegen die Hongkonger Behörden
durch. Was ist von dieser Eskalation zu halten?

 

*Au Loong Yu:* Im Lager der "Gelben Bänder", die demokratische Reformen
anstreben, gibt es zwei Gruppen: einerseits die radikale Jugend (die die
führende Rolle übernimmt) und andererseits die erwachsenen Anhänger*innen
und die Pan-Demokrat*innen (die liberale Opposition seit den 1980er-Jahren,
die sich für ein allgemeines Wahlrecht unter Beibehaltung des "freien
Marktes" von Hongkong einsetzt). Die junge Generation fordert entschlossener
als die ältere, dass die Regierung das umstrittene Auslieferungsgesetz
zurückzieht. Unter den Jungen machen sich Sorge und Verzweiflung breit --
und die Angst, dass sie in Zukunft immer verlieren werden, wenn sie jetzt
nicht gewinnen.

 

Nach dem 6. Juli fanden drei große Kundgebungen in verschiedenen Bezirken
statt. Dabei waren auch einige Gewaltakte zwischen den beiden Seiten zu
beobachten. Es ist allerdings immer die Polizei, die am provokantesten und
gewalttätigsten auftritt. Trotz der Ausschreitungen werden die Jugendlichen
vom größten Teil der Gelben Bänder weiterhin unterstützt. 

Wie groß ist das Lager der Gelben Bänder?

An den Kundgebungen vom 9. Juni, 16. Juni und 1. Juli betrug die
Teilnehmerzahl eine Million, zwei Millionen resp. eine halbe Million. Im
Gegensatz dazu konnte das Pro-Peking-Lager der Blauen Bänder höchstens 150
000 mobilisieren.

 

Auch unter den älteren Bürger*innen nimmt die Unzufriedenheit zu. Sie sind
frustriert, dass Peking sein Versprechen, ein universelles Wahlrecht
einzuführen, nicht eingehalten hat. Und nun werden wohl auch ihre Kinder auf
die gleiche Weise enttäuscht und erleben vielleicht noch schlimmere
gesellschaftliche Unsicherheiten (z. B. soziale "Durchlässigkeit" nach
unten).

 

 

?? Wie würden Sie die Beziehung zwischen den Regierungen in Peking und
Hongkong charakterisieren?

 

Die Situation ist völlig absurd: Jeder weiß, dass es Pekings Entscheidung
war, das Auslieferungsgesetz durchzupeitschen, aber sowohl Peking wie auch
Carrie Lam tun weiterhin so, als ob es sich ausschließlich um die
Entscheidung der Regierungschefin gehandelt und Peking nur unterstützend
gewirkt hätte.

 

Peking und Carrie Lam sind selbst schuld, dass nur wenige an sie glauben.
Seit Xi Jinping 2012 an die Macht gekommen ist, agiert das Verbindungsbüro
in Hongkong nicht mehr so zurückhaltend wie zuvor. Es ist in allen Bereichen
der Lokalpolitik sichtbar geworden und mischt sich auch in die Wahlen ein.
Carrie Lam hat die Intervention Pekings seit ihrem Amtsantritt vor zwei
Jahren freudig und öffentlich unterstützt. Außerdem betrifft das
Auslieferungsgesetz auch Taiwan, es geht also über die normale Zuständigkeit
der Regierung Hongkongs hinaus. Wie kann man da behaupten, das Gesetz werde
allein von Carrie Lam vorgelegt?

 

Viele gehen davon aus, dass Peking den Gesetzesentwurf als Trumpfkarte in
Xis Verhandlungen mit Trump über den Handelskrieg nutzen will. Deshalb die
Eile. Die chinesische Zentralregierung versuchte, die Situation zu
entschärfen, indem sie Carrie Lam anwies, das Auslieferungsgesetz am 15.
Juni auf Eis zu legen. Peking will aber nicht, dass Lam noch weiter
zurückkrebst und das Gesetz aufhebt.

 

Im Moment befindet sich Hongkong in einer Sackgasse. Carrie Lam hat bereits
angekündigt, dass "das Gesetz tot ist", aber weil ihre Regierung keine
Glaubwürdigkeit genießt und jeder weiß, dass nicht sie, sondern das
Verbindungsbüro das Sagen hat, wird ihr niemand glauben, solange sie das
Gesetz nicht offiziell zurückzieht.

 

Laut Medienberichten kann Carrie Lam das Gesetz aber nicht aufheben, denn
dies würde implizieren, dass auch die chinesische Regierung Fehler gemacht
hat -- etwas Unmögliches, denn für Peking ist die Gesichtswahrung stets von
zentraler Bedeutung. Bei der Führung der Kommunistischen Partei Chinas
(KPCh) führt der Zwang, einen Gesichtsverlust um jeden Preis zu vermeiden,
zu extremer Starrheit. Doch weil Peking überhaupt nicht transparent ist,
stellt dies für die KPCh kein großes Problem dar. Hongkong hingegen hält
immer noch an bestimmten Elementen der liberalen Staatsführung fest --
Rechenschaftspflicht, Meinungsfreiheit, Verfahrensgerechtigkeit,
Unabhängigkeit der Justiz. Dies gibt der Bevölkerung mehr Möglichkeiten,
herauszufinden, was hinter den verschlossenen Türen des Verbindungsbüros und
der Regierungschefin passiert.

 

Vor diesem Hintergrund wirken die starre Haltung und die Lügen der
Regierungen von Hongkong und Peking umso lächerlicher und verwerflicher. Die
jungen Demonstrant*innen zögerten denn auch nicht, ihrer tiefen Verachtung
für die KPCh Ausdruck zu verleihen: Am Abend des 21. Juli besprühten sie das
nationale Emblem im Verbindungsbüro mit Farbe. Unter dem Zwang der
Gesichtswahrung bleibt sowohl dem Verbindungsbüro als auch Carrie Lam
offenbar keine andere Wahl, als an der alten Politik festzuhalten und bei
der radikalen Jugend hart durchzugreifen.

 

Viele vermuten, dass Peking den Demonstrant*innen Fallen stellt. Tatsächlich
ist es ziemlich merkwürdig, dass das Hongkonger Parlament am 1. Juli besetzt
werden konnte. Die Polizei zog sich während der Belagerung zurück, sodass
die jungen Protestierenden eindringen konnten. Auch im Anschluss an die
große Kundgebung vom 21. Juli erfolgte plötzlich aus dem Nichts der Aufruf,
zum Verbindungsbüro weiterzumarschieren. Bevor der Zug dort ankam, waren die
Polizeikräfte vor dem Gebäude schon abgezogen worden. Die Demonstrant*innen
konnten ungehindert Farben und Graffiti an die Wände sprühen. In derselben
Nacht griffen Banden wahllos Passagiere in der Yuen Long West Rail an und
ein weiterer Jugendlicher beging Selbstmord. All dies hat das Lager der
Gelben Bänder zusätzlich angestachelt und könnte die Bewegung weiter
radikalisieren.

 

Die KPCh provozierte in der Vergangenheit schon mehrmals überraschende
Ausschreitungen in der Bevölkerung, um später das blutige Durchgreifen zu
legitimieren. Wir sollten also genau hinschauen, ob dies zurzeit wieder der
Fall ist. Die beunruhigende Seite der Geschichte: Wenn das Pekinger Regime
standhaft bleibt, wird ein Volksaufstand in Hongkong wahrscheinlich nicht
gut enden.

 

 

?? Eine der ermutigendsten Aktionen während der Proteste war der
Streikaufruf der Gewerkschaften. Leider gelang es ihnen aber nicht, die
Arbeiter*innen zu überzeugen. Wie erklären Sie sich diesen Misserfolg?

 

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt in Hongkong bei 25 Prozent
(2017), was keineswegs niedrig ist. Aber diese Zahl wird durch lächerlich
niedrige Gewerkschaftsbeiträge erreicht -- so niedrig, dass sich die
Finanzen der wichtigsten Gewerkschaften nicht auf Mitgliederbeiträge
stützen, sondern auf laufende, von der Regierung finanzierte
Umschulungsprogramme, auf den Betrieb gewinnorientierter Unternehmen oder
auf Mittel aus dem Ausland, insbesondere aus den Vereinigten Staaten. Nur
wenige Mitglieder sind wirklich aktiv. Obwohl es viele
"Industriegewerkschaften" gibt, sind die meisten von ihnen entweder sehr
klein oder betreffen nur Einzelarbeitsplätze.

 

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass der Streikaufruf
(Montag, 17. Juni) keinen Erfolg hatte. Am Tag des Aufrufs rief der
Hongkonger Gewerkschaftsverband (HKCTU) auch zu einer Kundgebung in der Nähe
der Regierungszentrale auf, aber nur ein paar Hundert Menschen nahmen daran
teil.

 

Die HKCTU-Führung ist zwei Jahrzehnte lang kritiklos der Linie der
Pan-Demokraten gefolgt, die für eine Demokratie innerhalb der Grenzen des
Grundgesetzes eintreten. Auch als der HKCTU-Führer Lee Cheuk-yan 2011 eine
kleine Labour Party gründete, hielt diese an der Politik der liberalen
Rechten fest.

 

In Sachen Arbeitsrechte sind sowohl die Labour Party als auch der HKCTU in
den letzten zehn Jahren offener geworden und ein wenig näher zur linken
Mitte gerückt.

 

Doch eine Verbindung mit der aufstrebenden jungen Generation war aufgrund
der langjährigen politischen Ausrichtung schwierig. Die Jungen stehen den
Pan-Demokraten eher ablehnend gegenüber. Die Unfähigkeit, während der
Regenschirm-Bewegung von 2014 einen erfolgreichen Streik zu lancieren, trug
zweifellos zum Scheitern bei. Schließlich verloren Lee und ein anderer
Abgeordneter der Labour Party in den Parlamentswahlen 2016 ihre Sitze, und
Lee konnte dies auch bei den Nachwahlen 2018 nicht korrigieren. Diese
Niederlagen haben dazu geführt, dass sowohl der HKCTU wie auch die Labour
Party in der jetzigen Bewegung bisher nur eine marginale Rolle spielen
konnten.

 

 

?? Die Protestbewegung hat in Hongkong erneute Diskussionen über das
Verhältnis der Sonderverwaltungszone zum chinesischen Festland ausgelöst.
Dabei spielen die sogenannten Lokalist*innen, die dem Festland mit
Verachtung begegnen, eine wichtige Rolle. Welche Politik verfolgen sie und
wie einflussreich sind sie innerhalb der Bewegung?

 

Westliche Mainstream-Medien tendieren dazu, die Hongkonger Lokalist*innen
positiv zu beurteilen, denn sie betrachten sie als demokratische
Kämpfer*innen gegen Peking. In Wahrheit ist die Sache aber weit
komplizierter. Als die sozialen Bewegungen den chinesischen Begriff
"Lokalismus" neu übernahmen, verwendeten ihn vor allem die Linken. Doch dann
wurde der rechte Flügel immer größer und größer, und diese Lokalist*innen
sind eher wie Nativist*innen, nämlich sehr fremdenfeindlich.

 

Einige Jahre vor der Regenschirm-Bewegung fand diese Strömung unter jungen
Menschen immer mehr Anhänger*innen. Ihre Sprecher waren Raymond Wong und der
Wissenschaftler Chin Wan-kan. Zusammen mit Raymond Wongs Schützling Wong
Yeung-tat bildeten sie ein fremdenfeindliches Trio. Ihre Aktionen in den von
der Bewegung besetzten Stadtteilen bestanden darin, die Stimmen anderer
Demokrat*innen zum Schweigen zu bringen, unter Anwendung oder Androhung von
Gewalt. Sie äußerten sich rassistisch über das chinesische Volk
("Heuschrecken", die man entfernen sollte) und griffen chinesische
Einwanderer in Hongkong mit der Behauptung an, sie seien nur auf staatliche
Sozialleistungen aus.

 

Während der Regenschirm-Bewegung attackierte das fremdenfeindliche Trio auch
den Studentenverband HKFS (Hong Kong Federation of Students). Nach einem
Aufruf von Chin Wan-kan gingen die Lokalist*innen am 12. Oktober 2014 in den
Stadtteil Mong Kok, um die Straßenforen des HKFS zu stören. Dass dies in der
Folge zur Zerstörung seiner Redetribünen, zu Angriffen auf seine
Sicherheitsleute und schließlich zur Demontage des HKFS führte, ist nicht
verwunderlich.

 

Das fremdenfeindliche Trio gab sich radikaler als andere Strömungen. Sein
Slogan lautete "Der HKFS vertritt uns nicht", zudem lehnte es jegliche
Führungszeichen oder -symbole ab, insbesondere Tribünen, Fahnen und
Versuche, Versammlungen einzuberufen. Wann immer der HKFS ein
Diskussionsforum mit einer Redetribüne veranstaltete, waren sie vor Ort, um
"Chaidatai" bzw. den "Abbruch der Tribüne" zu fordern und in die Praxis
umzusetzen.

 

Bei den Wahlen 2016 musste sich das Trio aber geschlagen geben,
wahrscheinlich aufgrund seiner Plumpheit. Stattdessen wurde eine jüngere
Generation von fremdenfeindlichen Lokalist*innen gewählt, zum Beispiel aus
der Partei Youngspiration. Obwohl diese etwas niveauvoller waren, übernahmen
sie die Grundidee des Trios. Ihre Forderung "Abbruch der Tribüne!" hat auch
die junge Generation in der Bewegung gegen das Auslieferungsgesetz
beeinflusst. Viele junge Radikale bevorzugen eine "führerlose" Bewegung,
ohne "zentrale Tribüne, die Anweisungen erteilt".

 

Der rechte Flügel der Lokalisten-Strömung wird von bestimmten sozialen
Schichten unterstützt. Im April 2016, zwei Jahre nach den Besetzungen,
zeigte eine Studie, dass die Lokalist*innen 8,4 Prozent Unterstützung
genossen, bei Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 29 waren es sogar noch
mehr.

 

Menschen, die den Begriff "Lokalismus" bevorzugen, meinen allerdings nicht
immer das Gleiche. So zeigt die Bewegung gegen das Auslieferungsgesetz viel
weniger fremdenfeindliche Tendenzen als die Regenschirm-Bewegung. Der Grund
dafür ist wohl, dass das alte Trio heute unmodern wirkt. Außerdem haben
Lokalist*innen wie jene von Youngspiration erlebt, wie ihre zwei
Abgeordneten nach dem von der Regierung erzwungenen Ausschluss aus dem
Legislativrat in Untätigkeit verharrten und die jungen Radikalen weitgehend
im Stich ließen. Ein Teil der Jungen hegt zwar Vorurteile gegenüber den
Festlandchines*innen, aber dies hat sich nicht in einem politischen Programm
oder Projekt niedergeschlagen. Anstatt von außen Kritik zu üben, sollte sich
die Linke in der Bewegung engagieren und versuchen, die Jungen für sich zu
gewinnen.

 

 

?? Was halten Sie von der Solidarität der Festlandchines*innen mit der
Hongkonger Protestbewegung respektive vom Fehlen einer solchen
Unterstützung?

 

Die Repression in Festlandchina unterbindet und isoliert die Solidarität mit
dem Widerstand in Hongkong. Neben diesem direkten Vorgehen ist das
chinesische Regime aber auch sehr geschickt darin, die öffentliche Meinung
zu manipulieren. Selektive Berichterstattung oder komplette Falschmeldungen
über Hongkong sind die plumpsten Tricks in diesem Spiel.

 

Peking hat aber auch auf raffiniertere Weise versucht, das Band zwischen der
Bevölkerung Hongkongs und den Festlandchines*innen zu zerschneiden. Manche
glauben, dass das fremdenfeindliche Trio und seine wichtigsten
Anhänger*innen Provokateure der Kommunistischen Partei sind. Im Jahr 2016
sprachen zwei frisch gewählte Abgeordnete von Youngspiration bei ihrer
Vereidigung das Wort China als Chee-na aus, eine abwertende Bezeichnung für
die Chines*innen. Danach bewirkte Peking ihren Ausschluss, nebst vier
weiteren Unabhängigkeitsbefürwortern. Die unkluge und rassistische Aktion
der beiden Lokalist*innen löste in der Folge eine Diskussion über ihre
wirkliche Identität aus.

 

Es ist schwierig zu sagen, inwieweit die Bewegung tatsächlich von
Provokateuren infiltriert ist. Objektiv gesehen haben die Lokalist*innen
Peking tatsächlich geholfen, Hongkong noch fester in den Griff zu nehmen:
Mit ihrer rassistischen Politik und ihren Angriffen auf Besucher*innen vom
chinesischen Festland, auf Immigrant*innen und auf demokratische Kräfte
haben sie China unnötig provoziert. Zudem haben sie Peking geholfen, die
Entfremdung zwischen den Festlandchines*innen und Hongkonger*innen
voranzutreiben.

 

 

?? Wie stark hat die Rivalität zwischen China und den USA die
Protestbewegung beeinflusst und welche strukturellen Wurzeln hat diese
Rivalität?

 

Einer der Gründe, warum Peking Carrie Lam dazu brachte, den Gesetzesentwurf
am 15. Juni zurückzustellen, war, dass Präsident Xi Jinping am zwei Wochen
später stattfindenden G20-Gipfel in Osaka nicht schlecht dastehen wollte.
Was die Vereinigten Staaten betrifft, so hatten diese sicher Grund genug,
schwierige Fragen zum Auslieferungsgesetz zu stellen. Es soll ja für alle
Menschen in Hongkong gelten, auch für ausländische Investor*innen oder für
ausländische Besucher*innen auf der Durchreise.

 

Pekings Entscheidung, den Gesetzesentwurf auf Eis zu legen, erleichtert zwar
die Verhandlungen von Xi mit Trump, die Hongkonger Demonstrant*innen haben
sich dadurch aber nicht besänftigen lassen. Generell herrscht in den
liberalen Medien Hongkongs große Sympathie für die US-Regierung,
insbesondere in der /Apple Daily/. Diese Zeitung ist zwar sehr wichtig, um
die Ansichten der Opposition zu verbreiten, gleichzeitig sympathisiert sie
aber auch ganz klar mit der US-Regierung und manchmal sogar mit Trump. Die
Logik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" könnte Hongkongs
Demokratiebewegung in eine unerwünschte Richtung lenken.

 

Chinas Kapitalismus ist eine Art "bürokratischer Kapitalismus", in dem die
herrschende Klasse die Zwangsbefugnisse des Staates und die Macht des
Kapitals vereint. Diese Art von Kapitalismus ist sehr ausbeuterisch,
monopolistisch und insbesondere auch expansionistisch. Daher die Rivalität
zwischen den USA und China. Wir müssen dabei aber beachten, dass sich China
in vielen Bereichen noch lange nicht auf gleicher Augenhöhe mit den USA
befindet.

 

Angesichts des enormen US-Handelsdefizits gegenüber China klagt Trump
permanent über die Ausbeutung der USA durch China. Dieser Vorwurf ist recht
einseitig. Tatsächlich stammt die Hälfte der chinesischen Exporte von
ausländischen Unternehmen, die in China investieren, darunter auch
US-Unternehmen. Insofern dürfen wir nicht davon ausgehen, dass von diesem
US-Handelsdefizit ausschließlich chinesische Unternehmen profitieren. Trumps
Handelskrieg wird daher beiden Seiten schaden. Handel Jones hat vor einiger
Zeit ein Buch mit dem Titel /Chinamerica/ geschrieben, das die engen
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern beschreibt. Trumps
Handelskrieg gegen China gleicht m. E. eher einer doppelköpfigen Schlange,
die sich selbst bekämpft: Keiner der beiden Köpfe kann sich vor dem Angriff
des anderen verstecken. So verkaufte General Motors in China mehr Autos als
in den USA. Laut einem JP Morgan-Bericht von 2015 sind die Umsätze der im
S&P 500 vertretenen Technologieunternehmen und namentlich der
Komponentenhersteller stark von China abhängig.

 

Trump will das Handelsdefizit gegenüber China drastisch senken, aber das ist
schwer zu erreichen, wenn die Sparquote in den USA weiterhin so niedrig
bleibt. Selbst wenn es Trump gelingt, das Defizit zu verringern, bedeutet
das nur, dass andere Länder in die entstehende Lücke springen werden und das
Handelsdefizit weiter bestehen wird. Die Arbeitsplätze dadurch zu sichern,
wird erstrecht schwer fallen. Denn wenn der Handel schrumpft, werden als
erstes die Arbeitsplätze betroffen sein. 

 

In den Verhandlungen mit China erheben die USA viererlei Forderungen: kein
erzwungener Technologietransfer, Streichung staatlicher Subventionen für
Staatsunternehmen, besserer Marktzugang für ausländische Investoren und mehr
Schutz für geistiges Eigentum. Peking lehnte letztlich diese Forderungen ab.
Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua teilte am 25. Mai mit, dass diese
Forderungen der USA Chinas wirtschaftliche Souveränität bedrohten. Die
Handelsgespräche wurden ausgesetzt. 

 

Ihren letzten Handelskrieg begannen die USA in den 1980er-Jahren mit Japan,
der (damals noch) zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Die
Auseinandersetzung endete im Wesentlichen mit dem Zustandekommen des von den
USA vermittelten Plaza-Abkommens. Es erzwang eine deutliche Aufwertung des
japanischen Yen, gefolgt von einem Strafzoll von 100 Prozent auf Importe aus
Japan. Der japanischen Wirtschaft wurde so ein harter Schlag versetzt,
trotzdem blieb die Allianz zwischen den USA und Japan intakt. 

 

Doch diesmal ist es anders, zum Teil weil Peking aus dem japanischen Fall
gelernt hat. Seit den 1980er-Jahren haben chinesische Ökonom*innen,
Strateg*innen und Nationalist*innen immer wieder über den japanischen Fall
diskutiert. Das Argument der Nationalist*innen zog dabei immer am stärksten:
China kann sich als Entwicklungsland keine von den USA zugefügte Niederlage
im Stil Japans leisten und China muss sich gegen die USA wehren, wenn
Washington seine Zähne zeigt. Genau das hat Xi bisher getan.

 

Im Verständnis der Pekinger Hardliner folgt aus der Geschichte noch eine
weitere Lektion: Will ein zweitrangiges Land nicht überfallen oder
schikaniert werden, so kann es nur versuchen, selbst die führende
Hegemonialmacht zu werden. Im Gegensatz zu Japan wird es die KPCh unter Xi
nicht ewig akzeptieren, in der zweiten Reihe zu stehen. Anders als Japan
will Xi die "westliche" Version der Globalisierung durch seine "chinesische"
Version ersetzen, und zwar hier und jetzt.

 

Während die früheren US-Regierungen China als "strategischen Partner"
bezeichnet haben, gilt China nun laut US National Defence Strategy Report
vom vergangenen Jahr als "strategischer Wettbewerber". Sicherlich hat auch
G.W. Bush einmal den gleichen Begriff in Bezug auf China verwendet. Aber das
war bloße Taktik in dem sog. "Spannungs- und Stabilisierungskreislauf" in
den Beziehungen zwischen den USA und China in den letzten vier Jahrzehnten. 

 

In der Regel wettern US-Präsidenten während des Wahlkampfs gegen China, und
sobald sie im Amt sind, treiben sie mit dem Land wieder Geschäfte. Doch
dieses Muster scheint nun vorbei zu sein. Wahrscheinlich wird uns Trump in
naher Zukunft mit taktischen Wendungen überraschen, besonders wenn die
Wahlen von 2020 näherrücken. Der allgemeine Trend einer sich verschärfenden
Rivalität zwischen den USA und China dürfte jedoch anhalten, denn diesmal
sind sich die Demokraten und die Republikaner in der China-Politik einig.

 

Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen Handelskrieg, sondern um
die erste Schlacht in einem länger dauernden USA-China-Wettbewerb, eine
Schlacht, die sich verheerend auf die Welt auswirken könnte.

 

 

?? Was sollten fortschrittliche Kräfte in Festlandchina, Hongkong, den USA
und anderswo tun, um demokratische Bewegungen in Hongkong zu unterstützen
und den Spannungen zwischen den USA und China entgegenzuwirken?

 

Die beiden rivalisierenden Lager verlangen von den Menschen, sich zu
entscheiden: "entweder für Washington oder für Peking". Alle
fortschrittlichen Kräfte, sei es in oder außerhalb von Honkong, sollten sich
dieser Forderung verweigern. Für die arbeitende Bevölkerung in Hongkong,
China oder den USA kann dies keine echte Wahl sein. Für die Arbeiter*innen
gibt es in diesem Wettbewerb nichts zu gewinnen.

 

Trump verfolgt das Projekt, die amerikanische Armee und ihre Unternehmen
wieder groß zu machen und dafür die Arbeitnehmer*innen und die Umwelt zu
opfern, in den USA, in China und im Rest der Welt. Xis Projekt der
Modernisierung Chinas, das im Namen des Volkes durchgeführt wird, entspricht
nicht den Interessen der Arbeitnehmer*innen. Xi verteidigt seine Interessen
im Südchinesischen Meer und setzt gleichzeitig die Zukunft Chinas aufs Spiel
-- seine natürlichen Ressourcen, sein ökologisches Gleichgewicht und die
Gesundheit seiner Bevölkerung. Er kämpft für die Vermögen und die Stellung
der Mandarine und zerstört gleichzeitig die Lebensgrundlagen der Menschen.
Hongkong war für den Aufstieg Chinas von zentraler Bedeutung, und nun
begleicht Peking seine Schuld, indem es sein Versprechen bricht, Hongkong
das allgemeine Wahlrecht zu gewähren.

 

Wir dürfen nicht in die nationalistische Falle tappen, die Aggression der
USA oder die Aggression Chinas zu unterstützen. Das ist der erste Schritt,
um der Rivalität zwischen den USA und China entgegenzutreten und zu
verhindern, dass sie zu einem Krieg führt.

 

 

Aus: Jacobin, 01.08.2019,
[http://www.inprekorr.de/https://www.jacobinmag.com/2019/08/hong-kong-protes
t-china-carrie-lam-umbrella-movement-extradition-bill-xi-jinping], ergänzt
um einige Passagen aus einem anderen Artikel des Autors

Au Loong Yu ist Autor und Aktivist in verschiedenen NGOs. Der Titel seines
neuesten Buchs lautet "China's Rise: Strength and Fragility".

Kevin Lin setzt sich für Arbeitsrechte ein und forscht zu China.

Übersetzung: Alena W.

 

-------------------------------------------------------------------

Aus:   die internationale Nr. 5/2019 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

-------------------------------------------------------------------

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listen.jpberlin.de/pipermail/inprekorr-l/attachments/20190901/99e65d03/attachment-0001.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l