[IPK] Covid-19-Pandemie/Frankreich: Holt zurück, was Euch gehört!

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Covid-19-Pandemie/Frankreich:

Holt zurück, was Euch gehört!

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Ein Interview mit Olivier Besancenot, geführt von Julia Hamlaoui für
/l'Humanité/ vom 7. April 2020

 

 

 

?? Inwiefern zeigt sich in der Corona-Krise einmal mehr, dass wir das
kapitalistische System stürzen müssen?

 

Jetzt geht es ums Überleben. Jetzt geht es ums Überleben. Bereits zuvor war
zu spüren, dass die neoliberale Globalisierung der letzten 30 Jahre --
eigentlich ein Hort für die Stabilität der Finanzmärkte  -- an ihre Grenzen
gestoßen war. Mit der Globalisierung hat der Kapitalismus schließlich die
ganze Welt erobert. Aber er ist nicht unerschöpflich, wie wir bei der
Finanzkrise von 2008, bei der Klimakrise und jetzt bei der Gesundheitskrise
gesehen haben. 

Das System ist auf dramatische Weise mit seinen eigenen Widersprüchen
konfrontiert. Aber, um Walter Benjamins Formulierung zu zitieren, der
Kapitalismus wird niemals eines natürlichen Todes sterben,  sondern unser
Anliegen muss sein, ihm beim Sterben zu helfen. Denn was danach kommt, ist
möglicherweise, wenn man die Herrschenden gewähren lässt, schlimmer als was
davor war.

 

 

?? Wie können wir verhindern, dass die sich abzeichnende Wirtschaftskrise
auf dem Rücken der Bevölkerung abgeladen wird?

 

Entscheidend wird sein, wer das künftige Wirtschaftsmodell bestimmt. Wie
können wir uns die Produktionsmittel wieder kollektiv aneignen, besonders
damit die Industrie für die sozialen Bedürfnisse produziert? Es reicht
nicht, die Privatisierung der öffentlichen Dienste wieder rückgängig zu
machen, sondern man muss die private Verfügungsgewalt über bestimmte
Schlüsselsektoren, die nicht der irrsinnigen Logik der Marktwirtschaft
überlassen werden dürfen, beseitigen. Diese Logik sorgt dafür, dass die
Airbus-Beschäftigten Kampfhubschrauber produzieren müssen, zugleich aber die
einzige Fabrik in Europa (Luxfer im Zentralmassiv), die medizinische
Sauerstoffflaschen herstellte, vor ihrer Schließung nicht verstaatlicht
werden konnte. Andernfalls werden die Arbeiter*innen, die Ausgebeuteten und
Unterdrückten unweigerlich die verheerenden sozialen Folgen tragen müssen.
Dies zeichnet sich bereits hinsichtlich des bezahlten Urlaubs und der
Wochenarbeitszeit ab. Auch die Folgen für die Umwelt werden katastrophal
sein, denn das Wirtschaftswachstum wird wieder fröhliche Urständ feiern. Die
neoliberalen Politiker*innen basteln bereits an einer Schockstrategie, um
unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. Der Obrigkeitsstaat ist bloß die
Kehrseite des Kapitalismus und dagegen müssen wir unsere geballte
Solidarität setzen.

 

 

?? Worin konkret besteht diese geballte Solidarität?

 

Wir müssen uns bereits jetzt für die Zeit danach rüsten. Vorrang, v. a. in
finanzieller Hinsicht, hat die Solidarität und zwar zunächst im
Gesundheitswesen. Hier brauchen wir unverzüglich mehr Betten, tausende neue
Stellen und genug Schutzkleidung. Die Diskrepanz zwischen den Ankündigungen
und den lebenswichtigen Erfordernissen ist unerträglich. Allein für die
Pflegeheime bräuchten wir 2 Millionen Masken pro Tag. Dabei sind noch nicht
einmal neben den Pflegekräften diejenigen berücksichtigt, deren Tätigkeit
weiterhin unerlässlich ist. Es muss umgehend dafür gesorgt werden, dass die
Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt, der von den Steuer- und
Beitragspflichtigen, also von uns, finanziert wird, für den medizinischen
Notstand aufgewendet werden. Wenn dieses Geld stattdessen an die Konzerne
und Banken fließt, dann ist es definitiv für die Zukunft verloren. Die
Regierung verkennt, wie sehr sich blinde und massive Wut breitmacht. Es ist
schlicht unvorstellbar, auch nur einen Moment zu glauben, dass es ein weiter
so geben kann mit dem Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge im
Gesundheits-, Transport- und Erziehungswesen etc. Die Herrschenden selbst
erkennen, dass das Wirtschaftssystem vor einer Systemkrise steht. Damit
gesteht die Regierung ihren Bankrott ein, wo sie noch vor Wochen mit ihrer
Rentenreform der Versicherungswirtschaft unser Solidarsystem zum Fraß
vorgeworfen hat.

 

 

 

?? Die Krise offenbart die Machtkonzentration in wenigen Händen. Welche
demokratischen Forderungen müssen wir dem entgegenstellen?

 

Zunächst einmal muss das Notstandsgesetz sofort aufgehoben werden, weil die
Exekutive dadurch per Dekret durchregieren kann und ihre Machtfülle weiter
zunimmt. In politischer Hinsicht stehen wir vor dem Scheideweg: Entweder
werden die herrschenden Klassen eine Politik der eisernen Hand betreiben
oder wir schaffen eine Gesellschaft, die von unten nach oben funktioniert.
Dies bedeutet auch, dass die Fünfte Republik abdanken und in einem
Verfassungsgebenden Prozess alle demokratischen Grundsätze neu überdacht
werden müssen. Dabei müssen auch die Menschen in den Betrieben involviert
werden. Die Beschäftigten im öffentlichen Sektor wie auch in der
Privatwirtschaft haben praktisch kein Aufsichtsrecht. Allein die
Gesundheitskrise zeigt exemplarisch, dass sie am besten wissen, welche
Schutzmaßnahmen sie brauchen.

 

 

?? Wie lässt sich im Lichte der beispiellosen Protestbewegung im vergangenen
Winter ein Kräfteverhältnis herstellen, das für eine fortschrittliche
Zukunft steht?

 

Um eine Politik, die auf geballter Solidarität fußt und für Emanzipation,
Gleichheit und Umweltschutz steht, umzusetzen, muss zu allererst die
Vernichtungsmaschinerie der neoliberalen und autoritären Politik gestoppt
werden können. Voraussetzung dafür ist, dass sich alle sozialen, politischen
und gewerkschaftlichen Kräfte in diesem Sinn vereinen.

 

 

Übersetzung: MiWe

Olivier Besancenot trat 1991 mit 17 Jahren in die Ligue Communiste
Révolutionnaire (LCR) ein und war 2002 und 2007 ihr Kandidat für die
Präsidentschaft, er erhielt beide Male über 1 Mio. Stimmen (über 4 %), 2009
war er an der Gründung der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA)
beteiligt, er wollte kein Berufspolitiker werden und verzichtete 2011 auf
seine Funktion als Sprecher der NPA, seit 1997 arbeitet er bei "La Poste"
als Briefträger, inzwischen an einem Schalter eines Postbüros in Paris.

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2020 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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