[IPK] Schweden: Wird die Corona-Krise zur Rache des Sozialstaats?

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So Mai 10 16:31:54 CEST 2020


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Covid-19-Pandemie/Schweden:

Wird die Corona-Krise zur Rache des Sozialstaats?

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Warum vertraut Schweden darauf, dass die Bürger*innen den Ratschlägen der
Expert*innen folgen? Warum muss die Bevölkerung nicht eingesperrt und
überwacht werden? Als Zeitgeschichtler könnte ich eine Antwort vorschlagen:
Hier spiegelt sich trotz seiner jahrzehntelangen Erosion das tiefe Vertrauen
in den schwedischen Sozialstaat wider, und nicht zuletzt gegenüber seinen
Verwaltern - den Sozialingenieuren.

 

 

Von Kjell Östberg

 

 

Yvonne Hirdman hat den Aufstieg der Sozialingenieur*innen [1] anschaulich
beschrieben. [2] Als die Sozialdemokratie in den 1930er Jahren ihre lange
Regierungszeit begann, bestand ein dringender Bedarf an intellektueller und
praktischer Unterstützung für die neue Politik. Eine Gruppe radikaler
Intellektueller bot ihre Dienste an. Wissenschaft, Rationalität und
Objektivität; der Wille, Dinge zu erledigen und Vertrauen in den guten
Staat, so fasst Hirdman deren Programm zusammen. Das Ziel war es, den
Menschen zu befreien.

 

Es wurde eine Erfolgsgeschichte. Die Gruppe um Gunnar und Alva Myrdal
vereinigte die Rollen von Wissenschaftler*innen, Agitator*innen, politischen
Akteur*innen, Forscher*innen und Regierungsbeamt*innen. Und nicht zuletzt
stand die öffentliche Gesundheit im Mittelpunkt.

 

 

AUFBAU DES SOZIALSTAATS ...

 

Als der Sozialstaat nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, stieg der Bedarf an
zuverlässigen Wohlfahrtsbürokrat*innen. Die Bildungsrevolution produzierte
Student*innen mit einem anderen Hintergrund als dem der traditionellen
Beamt*innen. Die Ministerien und Behörden waren voll von jungen Männern und
Frauen mit gesellschaftsverändernden Ambitionen. Viele hatten ihre Karriere
mit Kaffeekochen oder Kopieren im [sozialdemokratischen Jugendverband] SSU
begonnen.

 

Diese Generation spielte, oft in enger Zusammenarbeit mit alten und neuen
sozialen Bewegungen, eine entscheidende Rolle beim Aufbau des Sozialstaats,
der in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt fand.

 

Unter dem Druck der neuen Frauenbewegung bekamen wir feministische
Bürokratinnen, Femokraten, innerhalb der Arbeitsmarktverwaltung und des
Sozialministeriums, die kontinuierlich Reformen zur Gleichstellung der
Geschlechter vorantrieben.

 

Die öffentliche Gesundheit stand wieder im Mittelpunkt. Das Gesundheitswesen
war in öffentlichem Besitz und wurde öffentlich finanziert und betrieben.
Die Apotheken wurden verstaatlicht. Vorbeugung und Information, oft in
Zusammenarbeit mit Volksbewegungen, waren wichtig.

 

Sicherlich lebte der Behördenstaat noch. Sicherlich erlebten die Bürger
Rechtsverletzungen und Übergriffe, aber unter dem Druck der sozialen
Bewegungen in geringerem Maße. Das schwedische Amt für Gesundheit und
Wohlfahrt bezeichnete nicht länger Homosexualität als Krankheit. Frauen
bekamen das Recht, selbst über Abtreibungen zu entscheiden.
Zwangssterilisationen wurden abgeschafft.

 

 

... UND SEINE ZERSCHLAGUNG

 

Die neoliberale Konterrevolution hat alles verändert. Jetzt waren nicht
länger Sozialingenieur*innen gefragt, um den Sozialstaat zu entwickeln.
Stattdessen sollten Ökonom*innen ihn abspecken und für die Privatisierung
öffnen (und die Sozialingenieur*innen durften auf bürgerlichen Kultur- und
Leitartikelseiten Spießruten laufen). Das Ergebnis sehen wir heute. Der
kollektive Sozialstaat wird ausverkauft. Apotheken werden privatisiert. Das
Gesundheitswesen wird von Bostoner Ökonomen gestaltet, nicht von den eigenen
Fachleuten.

 

Doch gleichzeitig ist die Unterstützung der Bevölkerung für die Idee des
solidarischen Sozialstaats in vielerlei Hinsicht ungebrochen. Das
SOM-Institut [3] hat kürzlich gezeigt, dass der Widerstand gegen Gewinne im
Sozialwesen - der Motor der Privatisierungswellen - bis weit in die
bürgerlichen Kerntruppen hinein massiv bleibt. Das Gesundheitswesen, die
schwedische Steuerbehörde und das Alkoholmonopol (Systembolaget) sind die
Unternehmen, denen wir am meisten vertrauen. Mehr als 99 Prozent aller
Eltern bringen ihre Kinder immer noch zur Kindergesundheitspflege, obwohl
dies freiwillig ist.

 

Jetzt, da die neoliberale Weltordnung vor unseren Augen zusammenbricht,
können wir sogar hören, wie bürgerliche Privatisierungsfanatiker*innen die
Folgen der Privatisierungen beklagen.

 

Ich denke, es ist ein Spiegelbild der Idee des solidarischen Sozialstaats,
das wir im Vertrauen in Anders Tegnell und in der Unterstützung der
Empfehlungen der Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten) sehen.

 

 

ZEIT FÜR EINE NEUE WELT

 

Aber der Sozialstaat unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Staat, der
seit Jahrzehnten von Neoliberalismus und New Public Management geprägt ist.
Und die heutigen Expert*innen haben keine erkennbare Sympathie für
Sozialreformprogramme.

 

Die Zerschlagung des solidarischen Sozialstaats läuft seit langem. Parteien
und Bewegungen, die ihn aufgebaut haben, sind geschwächt oder haben ihre
Ideale gewechselt.

 

Lange Zeit waren es große Gruppen junger radikaler
Gesellschaftverbesserer*innen, die zur Sozialdemokratie zogen, um ihre Ideen
zu verwirklichen. Aber die Generation, die jetzt regiert, wurde bereits beim
SSU geschult, eine Politik zu verteidigen, die tiefere soziale Spaltungen
verursacht, als wir es ein halbes Jahrhundert lang kannten.

 

Doch die jetzt entstandene Situation bietet sich für kollektive Lösungen an.
Für gemeinsames demokratisches Eigentum. Für Bedürfnisse statt Profitjagd.

 

Oder wie Annie Ernaux in ihrem Brief an Emmanuel Macron schreibt: "Herr
Präsident, achten Sie auf die Folgen dieser Zeit der Ausgangssperre, dieser
Umkehrung des Laufs der Dinge. Die Zeit ist günstig, Dinge infrage zu
stellen. Eine Zeit, um sich eine neue Welt zu wünschen. Nicht die Ihre!
Nicht die Welt [...], deren eklatante Ungleichheiten die Epidemie enthüllt."
[4]

 

Doch die Kraft, dorthin zu gelangen, wird nicht durch Neuaushandlung der
Januar-Vereinbarungen [5] oder durch bedingungsloses Ausschütten von
Milliarden über die Wallenberg-Unternehmen gewonnen. Sie liegt in den
Erfahrungen des kämpfenden Gesundheitspersonals; der Bewegungen, die den
Sozialstaat hartnäckig verteidigen und Privatisierungen und
Mietspekulationen bekämpfen; in der Solidarität der Flüchtlingsbewegung; im
Engagement junger Klimaaktivist*innen.

 

 

 

 

Kjell Östberg ist Historiker und aktiv in der Organisation "Socialistisk
Politik" (IV. Internationale).

Übersetzung und Anmerkungen: Björn Mertens

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 3/2020 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1]  Social Engineering (engl. "angewandte Sozialwissenschaft", wörtlich
soziale Ingenieurwissenschaft) oder Sozialtechnik nennt man ...
Anstrengungen zur Schaffung oder Verbesserung gesellschaftlicher Strukturen.
Der Begriff wurde 1945 von Karl Popper ... eingeführt. Populär wurde der
Begriff in den frühen 1970er Jahren als Ausdruck des Optimismus, mit dem man
damals glaubte, die menschliche Gesellschaft mit rationalen bzw.
ingenieurmäßigen Methoden zum Besseren umgestalten zu können. [Nach
de.wikipedia.org].

Im Schwedischen wird dieser Begriff mit der Schaffung des schwedischen
"Wohlfahrtsstaats" verbunden. Elende Wohnverhältnisse, Tuberkulose,
Arbeitslosigkeit und Armut sollten durch umfassende Wohnungsbauprojekte,
Hygiene, Hausbesuche, Gemeindeschwestern, Informationsprogramme im Radio
oder Volksbildung ausgerottet werden. [Nach sv.wikipedia.org]

[2]  Yvonne Hirdman, /Att lägga livet till rätta/, Ohrid, Macedonia:
Carlssons Bokförlag, 2000.

[3]  Das SOM-Institut in Göteborg beschäftigt sich mit medien- und
gesellschaftspolitischen Fragen. Die Abkürzung steht für "Samhälle, Opinion
och Medier" (Gesellschaft, Meinung und Medien).

[4] https://taz.de/Offener-Brief-an-Emmanuel-Macron/!5675850/

[5]  Im "Januariavtalet" wurden im Januar 2019 die Bedingungen festgehalten,
unter denen Zentrumspartei und Liberale die Regierung aus Sozialdemokraten
und Grünen unterstützen. Ein zentraler Punkt war, dass die
linkssozialistische Vänsterpartiet, keinen Einfluss auf die schwedische
Politik haben dürfe. Seither wird immer wieder gefordert, insbesondere von
den Gewerkschaften, diese Vereinbarungen müssten neu ausgehandelt werden.

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