[IPK] USA: Grand Theft Election -- Schwerer Wahldiebstahl?

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Di Jan 12 16:32:35 CET 2021


Grand Theft Election -- Schwerer Wahldiebstahl?

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Von David Finkel

 

 

In den kommenden Wochen wird viel über die "Stärke und Widerstandsfähigkeit
der demokratischen Verfassungsinstitutionen Amerikas" zu hören sein
angesichts der hartnäckigen Bemühungen des besiegten Präsidenten, das
Ergebnis der Novemberwahlen zu kippen und eines von Donald Trump
angestifteten "Aufstandsversuchs". Man kann ziemlich sicher annehmen, dass
sich das Chaos bei der formellen Ratifizierung des Siegs der Wahlleute von
Biden und Harris durch den Kongress bei der Amtseinführung am 20. Januar
nicht wiederholen wird -- sowohl weil Trump jetzt isoliert und diskreditiert
ist, als auch weil Polizei und Sicherheitskräfte im Gegensatz zum gestrigen
Debakel dann massiv anwesend sein werden.

 

Doch die Realität ist komplizierter und weit weniger rosig. Diese heiligen
"Institutionen" sind tatsächlich ziemlich anfällig für antidemokratische
Manipulationen, auch weil sie überhaupt nicht als demokratisch konzipiert
wurden. Das Trump-Spiel "Grand Theft Election" [1] (Schwerer Wahldiebstahl)
zerschellte aus mehreren Gründen, hätte aber unter anderen, doch durchaus
denkbaren Umständen viel bedrohlicher sein können.

 

 

SCHAUEN WIR UNS EINIGE BESONDERS WICHTIGE FAKTEN AN:

 

(1) Die US-amerikanische Demokratie, so wie sie ist, wurde durch massive
Wahlbeteiligung von schwarzen -- und in entscheidenden Swing-Staaten von
lateinamerikanischen und indigenen -- Wähler*innen gerettet, die Trump mit
zu großen Gewinnspannen besiegten, als dass man dies glaubwürdig bestreiten
konnte. Insbesondere in Einzelstaaten wie Georgia ist dies der Erfolg einer
langjährigen Organisation vor Ort, die den systematischen Ausschluss von
Wähler*innen durch rechtsgerichtete gesetzgebende Körperschaften überwunden
hat. Obwohl wir sagen würden, dass diese heldenhaften Bemühungen einer
besseren Sache würdig wären als dieser elenden, neoliberal geführten
Demokratischen Partei, haben sie zweifellos einen historischen Unterschied
in der US-Politik bewirkt.

 

(2) Dieser langfristige Kampf ist keineswegs vorbei. Während republikanische
Gestalten Trumps sinkendes Schiff verlassen -- viele von ihnen waren seine
berüchtigsten Unterstützer*innen --, wird ihre Partei über Trumps
"Vermächtnis" gespalten sein und darüber, ob sie mit der in der politischen
Mitte angesiedelten und neoliberalen Biden-Regierung koexistieren und
kooperieren oder ihre Obstruktionspolitik wie nach der Wahl von Barack Obama
fortsetzen soll. Worin sich die Republikaner, insbesondere auf Ebene der
Einzelstaaten, einig sein werden, ist die Einschränkung des Wahlrechts, der
einzigen Möglichkeit, wie sich diese Partei an der Macht halten kann, wenn
der weiße Anteil der US-Wähler*innen altert und abnimmt.

 

Das ist keine leere Drohung. Nachdem sich der Rauch am Abend verzogen hatte,
sagten einige Republikaner -- wenn man ihnen genau zuhörte --in Reden, die
angeblich das Wahlergebnis stützen sollten, es sei nicht Sache des
Kongresses, "in das Recht der Einzelstaaten einzugreifen, ihre Wahlen
abzuhalten". Einer von ihnen war Senator Rand Paul, der vor der Stichwahl in
Georgia der Meinung war, dass es "das Wahlergebnis verändern könnte", wenn
man mehr Menschen zur Stimmabgabe ermutigt. Das ist kein Scherz!

 

Tatsächlich wird eine strenge Bundesgesetzgebung zum Wahlrecht genau dort
benötigt, wo Gesetzgeber oder Verwaltungen der Einzelstaaten -- nicht nur im
tiefen Süden -- Säuberungen der Wählerlisten durchführen, die
Wahlregistrierung behindern, Früh- oder Briefwahl einschränken, die dazu
beigetragen haben, dass die Wahlbeteiligung im November mitten in der
Coronavirus-Krise historisch hoch war, die Zahl der Wahllokale in schwarzen
Wohngebieten offensichtlich reduzieren und Wahlkreise rassistisch motiviert
zuschneiden. Es ist eine sehr wichtige Frage, ob die Biden/Harris-Regierung
um das Wahlrecht kämpfen und nicht nur darüber sprechen wird. (Darüber
hinaus ist die größere verfassungsrechtliche Frage die der Beseitigung der
"heiligen Institution" des Wahlkollegiums, die das nationale
Abstimmungsergebnis des Volkes [2] entwertet und böswilligen Unfug in hart
umkämpften Einzelstaaten ermöglicht.)

 

(3) Politiker*innen und Medien beschreiben das, was gestern passiert ist,
als "insurrection" (Aufstand). Das ist ziemlicher Unsinn, der den guten
Namen des Aufstands besudelt.

 

Als vorsätzliche und potenziell mörderische Aktion eines Mobs ist der
Angriff auf das Kapitol in der Tat sehr schwerwiegend und eine ernste
Bedrohung durch einen sich möglicherweise entwickelnden Rechtsterrorismus.
Niemand kann den Kontrast zwischen der brutalen Reaktion auf viele Proteste
von Black Lives Matter gegen die Brutalität der Polizei und der Tatsache
übersehen, dass anscheinend nur wenige Eindringlinge gestern im Gebäude
festgenommen wurden. (Spätere Verhaftungen erfolgten wegen Verstößen gegen
die Ausgangssperre nach den Ereignissen des Tages.)

 

Bei seiner Kundgebung am Mittwochmorgen wiederholte Trump Lügen über seinen
gestohlenen "Erdrutschsieg" und forderte die Menge auf, "zum Kapitol zu
marschieren", damit machte deutlich, er werde bei ihnen sein. Natürlich zog
er sich dann in seinen mit Fernsehern gespickten Bunker im Weißen Haus
zurück. Als er die Leute aufforderte, am 6. Januar nach Washington zu
kommen, hatte er gesagt, der Tag werde "wild" werden. Abgesehen davon, dass
all dies Virus-Superspreader-Ereignisse waren, war es mit Sicherheit eine
Anstiftung zur Zusammenrottung.

 

Aber ein "Aufstand" im Sinne eines Versuchs der Machtübernahme? So etwas
erfordert mehr als halb-spontane Angriffe auf Regierungsbüros. Von links
erfordern Aufstände gegen repressive Regime Massenbewegungen, die
Generalstreiks führen und Spaltungen im Militärapparat erzwingen können. Von
rechts können Staatsstreiche Gewalt von Mobs als Hilfsmittel einsetzen, aber
die eigentliche Aktion sind Panzer auf den Straßen, Razzien und Verhaftungen
sowie organisierter Terror gegen Dissidenten. Nichts davon gab es gestern in
Washington DC auch nur annäherungsweise, ganz zu schweigen vom Rest des
Landes. Damit soll nicht unterschätzt werden, welche wirkliche Bedrohung von
rechtsextremen weißen Rassisten und den Heerscharen von Trump-Wähler*innen
ausgeht, die in einem realitätsfreien ideologischen Universum leben und
glauben, ihre Wahl sei "gestohlen" worden.

 

(4) Die Gefahr des "Grand Theft Election" von Trump und den Republikanern,
die vom Transition Integrity Project [3] und vielen anderen im Voraus
verstanden und ausführlich diskutiert wurde, war kein Scherz. Wir dürfen uns
von der chaotischen Art und Weise, wie das zusammengebrochen ist, nicht
täuschen lassen.

 

Wenn der Ausgang der Novemberwahlen knapper gewesen wären, wenn die Schritte
der Trump-Bande nach der Wahl kompetenter organisiert und koordiniert worden
wären, wenn die juristischen Manöver nicht in den Händen des halbtoten Rudy
Giuliani gelegen hätten, wenn einige Einzelstaats- und Bundesrichter*innen
genauso korrupt gewesen wären wie Trump selbst -- und wenn die
Gouverneursposten in Michigan, Pennsylvania und Wisconsin nach 2018 in
republikanischen Händen geblieben wären --, hätten die Vereinigten Staaten
möglicherweise vor einer existenziellen Bedrohung der
Verfassungsinstitutionen gestanden, die ihren Eliten mehr als zwei
Jahrhunderte so gut gedient haben.

 

Der klapprige Zustand der US-Demokratie ist ebenso anfällig für Zerstörung
von innen wie seine Regierungs- und Firmencomputersysteme für russische
Hackerangriffe. Würde man das Szenario des "Grand Theft Election" bis ins
Extreme treiben, könnte das Land möglicherweise auseinanderbrechen, nicht
jetzt, aber irgendwann in der Zukunft. /Yes, it could happen here/ -- ja,
das könnte hier passieren.

 

 

TRUMPISMUS OHNE TRUMP

 

(5) Das gestrige gewaltsame Debakel hat das, was von der
Trump-Präsidentschaft übriggeblieben ist, zerstört und wahrscheinlich
(obwohl man nie sicher sein kann) seine eigenen zukünftigen politischen
Perspektiven und die seiner kriminellen Familie zerstört. [Der
rechtskonservativer Radiomoderator] Rush Limbaugh bringt es tatsächlich auf
den Punkt: "Wenn Sie heute ein Leben in Washington DC führen wollen, müssen
Sie Trump jetzt verurteilen" (Radiosendung, 7. Januar). Man muss kein
Limbaugh-Fan sein, um die Heuchelei dieser plötzlichen republikanischen
Wendehälse zu würdigen.

 

Zu guter Letzt stimmten auch führende Kreise der herrschenden
Unternehmerklasse ein: Twitter und Facebook sperrten Trumps Zugang zu den
Anhängern seines Kults, der Unternehmerverband National Association of
Manufacturers forderte seine Absetzung nach dem 25. Zusatz zur Verfassung,
führende Vertreter*innen der Finanzbranche wie CEO David Solomon von Goldman
Sachs, Jamie Dimon und andere, die sich dank Trumps Politik obszön
bereichern konnten, wandten sich gegen ihn. Er ist für sie nicht mehr
nützlich.

 

Eine erneute Kandidatur Trumps im Jahr 2024 könnte die Republikanische
Partei endgültig zerstören. Das bedeutet nicht das Ende des sogenannten
Trumpismus, auch wenn der jetzt ohne Trump auskommen muss.

 

In diesem Zusammenhang ist die am 3. Januar in /Jacobin/ veröffentlichte
Analyse von Samuel Farber "Trumpism Will
Endure"[http://www.inprekorr.de/https://www.jacobinmag.com/2021/01/donald-tr
ump-white-working-class-trumpism] sehr zu empfehlen. [4] Farber trifft,
obwohl er diesen Artikel bereits vor der gestrigen Selbstimplosion Trumps
geschrieben hat, den kritischen Punkt: "Der vielleicht nützlichste Weg, den
Trumpismus zu verstehen, ist, ihn als rechtsgerichtete Antwort auf die
objektiven Bedingungen des wirtschaftlichen Verfalls und eines gefühlten
moralischen Verfalls zu sehen."

 

In diesem Zusammenhang geht es bei dem "gefühlten moralischen Verfall" um
rechtsgerichteten Ärger darüber, dass Ansehen und Privilegien, die zu viele
weiße Männer als gegeben betrachtet haben, jetzt in Frage gestellt werden.
Dies erfordert eine tiefere Diskussion als hier möglich, bringt jedoch eine
Realität der US-Gesellschaft und insbesondere das zentrale Problem der
sozialistischen Linken auf den Punkt: Ein großer Teil der
Arbeiter*innenklasse, insbesondere die weißen Arbeiter, wurde für
autoritäre, rechte rassistische Politik rekrutiert.

 

Es bleibt abzuwarten, ob ihre Loyalität vom Trump-Kult auf einen neuen
Bannerträger überführt werden kann. Dies ist jedoch zweitrangig gegenüber
der Tatsache, dass der "Trumpismus" der Arbeiterklasse ein Haupthindernis
für Kämpfe um ernsthafte Reformen bleiben wird, die gewonnen und gefestigt
werden können.

 

Um zu verstehen, warum und wie dies geschehen ist, müssen wir uns mit der
zweiten Realität unserer Verhältnisse auseinandersetzen: der objektiven
Unermesslichkeit der Krisen, die auf Biden und die nur knapp von den
Demokraten kontrollierten Häuser des Kongresses warten. Die
Covid-Katastrophe, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems und das
Durcheinander bei der Impfstoffeinführung; -zig Millionen arbeitender und
Mittelschicht-Familien, die von Räumung, dauerhafter Arbeitslosigkeit,
Insolvenz, Überschuldung und explodierende Gesundheitskosten betroffen sind;
einzelstaatliche und lokale Regierungen, denen das Wasser bis zum Hals
steht. Und über allem der anhaltende Klimawandel und die Umweltkatastrophen,
die durch vier Jahre Trump noch schlimmer geworden sind.

 

Die Situation erfordert unbedingt große Maßnahmen: groß angelegte
wirtschaftliche Anreize und Erleichterungen, eine Mobilisierung der
Ressourcen des Gesundheitswesens und möglicherweise des Militärs zur
Durchführung von Impfungen, ein Ausstieg aus der Nutzung fossiler
Energieträger in "Warp-Geschwindigkeit" [5], ein echter "Green New Deal" und
"Medicare for All" [6] sowie die sofortige Schließung der obszönen,
profitorientierten Abschiebeknäste für Einwanderer*innen und vieles mehr.
Was kann man von den bejubelten "gemäßigten" Kräften in beiden Parteien
erwarten, wenn die Demokraten noch darüber nachdenken, wie sie die ihnen
übertragene Macht nutzen, und diejenigen auf republikanischer Seite noch
überlegen, ob sie kooperativ oder obstruktiv sein sollen?

 

Für die Linke und die sozialen Bewegungen ist es umso wichtiger, aktiv zu
bleiben und für das zu kämpfen, was wir brauchen, nicht für ein paar Krümel.
Trumps Selbstzerstörung zu feiern, ist sicherlich in Ordnung. Linke
Blütenträume darf man von Biden aber mit Sicherheit nicht erwarten.

 

 

David Finkel schrieb diesen Text am 7. Januar 2021, einen Tag nach dem Sturm
auf das Kapitol, für das National Comitee der US-amerikanischen Organisation
"Solidarity".

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Björn Mertens

Quelle: https://solidarity-us.org/grand-theft-election/

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 1/2021 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1]  Anspielung an das bekannte Videospiel "Grand Theft Auto" (schwerer
Autodiebstahl)

[2]  Wegen des Mehrheitswahlrechts entspricht das Kräfteverhältnis bei den
Wahlleuten der Einzelstaaten nicht notwendig dem Stimmenergebnis auf
nationaler Ebene. 2016 unterlag Donald Trump zwar bei den Stimmen auf
nationaler Ebene (46 % gegenüber 48 % für Hillary Clinton, lag aber bei der
Abstimmung der Wahlleute mit 304:227 vorne und wurde dadurch Präsident. Auch
George W. Bush wurde 2000 gewählt, obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen
auf nationaler Ebene bekommen hatte.

[3]  Das Transition Integrity Project unter Leitung der Juraprofessorin Rosa
Brooks untersuchte im Juni 2020 verschiedene Szenarien, wie die Wahlen im
November 2020 möglicherweise gestört oder verfälscht werden könnten.

[4] Samuel (oder Sam) wuchs in Kuba auf, kam 1958 in USA und war in den
1960er Jahren in dem Free Speech Movement aktiv; er hat zahlreiche Bücher
und Artikel über die kubanische Revolution veröffentlicht und ist Mitglied
von Solidarity.

[5]  Unter einem Warp-Antrieb (to warp: "verzerren", "krümmen") versteht man
einen hypothetischen Antriebsmechanismus, der Reisen mit
Überlichtgeschwindigkeit durch gezieltes Krümmen der Raumzeit ermöglicht.
Warp-Antriebe sind in verschiedener Ausführung aus der
Science-Fiction-Literatur bekannt, wo sie Voraussetzung für interstellare
Raumfahrt sind. (Nach Wikipedia.)

[6]  "Medicare" ist eine minimale staatliche Gesundheitsversorgung für
Personen über 65 Jahre

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