[IPK] Schweden: Linke gegen Aufhebung der Mietbindung

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Mi Jun 23 10:47:30 CEST 2021


Schweden:

Linke gegen Aufhebung der Mietbindung

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Online: https://www.inprekorr.de/596-sp.htm

 

Die schwedische Sozialdemokratie unterstützt das Lieblingsprojekt der
Liberalen: die Freigabe der Mieten. Konsequenter Widerstand ist nötig -- bis
hin zum Sturz der rot-grünen Regierung.

 

Könnte man es deutlicher zeigen? Bei der [am 4.6. vorgelegten] Studie zur
Freigabe der Mieten im Neubau geht es nicht um mehr Wohnraum, nicht um
gerechtere Mieten, nicht um mehr Angebot. In der Mindestbedingung von
Zentrumspartei und Liberalen beim Abschluss des Januar-Abkommens ging es nur
um eines: um den kalkulierten Gewinn der Grundstückseigentümer*innen, oder
in den Worten der Studie: um "Berechenbarkeit" Daher sollen alle Neubauten,
plus Umwandlungen von Büros in Wohnungen, plus Mieterwechsel künftig ohne
die bisherige Gebrauchswertfeststellung in Verhandlungen mit organisierten
Mieter*innen, sprich dem Mieter*innenbund, vermietet werden. Stattdessen
werden großzügig freie Verhandlungen zwischen Vermieter*in und Mieter*in
vorgeschlagen -- also zwischen Großunternehmen mit Millionenressourcen und
dem Einzelnen ohne Dach über dem Kopf. Hat da jemand "Machtgleichgewicht"
gesagt?

 

Alle scheinen sich einig zu sein, dass das Ganze eine reine Auftragsarbeit
der Immobilienfirmen ist und eine Öffnung für den gesamten Mietbestand - von
den Bauherren über das Bürgertum bis hin zu den Wohnungsexperten. Alle,
außer dem sozialdemokratischen Justizminister Morgan Johansson. Seine
verlogene Verschleierung der des Entwurfs auf der Regierungspressekonferenz
sucht seinesgleichen. Die von ihm herausgestellte Abmilderung der Folgen für
die Mieter*innen des Landes, auf die sich wiederholende Mietschocks zukommen
werden, glich dem Ruf des Diebes: "Haltet den Dieb!" Das sei es, "wovor
Vänsterpartiet-Mieter Angst haben sollten", nicht die Marktmieten, warnte
Johansson. Denn wenn es der Vänsterpartiet gelänge, die Regierung zu
stoppen, dann warte [der konservative Parteichef] Kristersson im Foyer mit
"echten" Marktmieten.

 

 

BREITER WIDERSTAND

 

Mit diesen Nebelkerzen soll das drohende Attentat der Regierung auf einen
Großteil der sozialdemokratischen Wählerbasis, die ja eben Mieter*innen
sind, verschleiert werden. Im Wahlkampf vor gerade einmal drei Jahren hat
sich die Sozialdemokratie noch gegen jeden Versuch ausgesprochen,
Marktmieten einzuführen. Der Mieter*innenbund gehört zur klassischen, von
der Partei dominierten "Volksbewegungsfamilie". Viele führende
Sozialdemokrat*innen lehnen eine Öffnung zur Einführung von Marktmieten ab.
Karin Wanngård, Chefin der Sozialdemokratie in Stockholm, hat scharf
protestiert und örtliche Gegenwehr versprochen. Philip Botström,
Vorsitzender der schwedischen Jusos (SSU), bezeichnet den Entwurf als
"Scheißidee". Die Mieter*innenbundsvorsitzende Marie Linder, ebenfalls
Sozialdemokratin, fordert die Vänsterpartiet (Linkspartei) sogar auf, die
Regierung zu stürzen, wenn der Entwurf auf den Tisch des Reichstags kommt.

 

 

LINKSPARTEI: KONSEQUENTE OPPOSITION

 

Bei den Demonstrationen am vergangenen Wochenende wurde die Vänsterpartiet
(Linkspartei) nachdrücklich aufgefordert, von ihrer Drohung gegen die
Regierung nicht abzuweichen. Alles andere als ein solcher Rückzug war die
Rede ihrer Vorsitzenden Nooshi Dadgostars: Sie zerriss der Studie förmlich
mit dem Versprechen, den Widerstand nicht aufzugeben. Auch die Stockholmer
Vorsitzende, Ebba Elena Karlström, warnte die Regierung davor, den Entwurf
einzubringen und antwortete Morgan Johansson: "Keine Mieter*in sollte Angst
vor der Linkspartei haben, es ist Morgan Johansson, der sich fürchten
sollte!"

 

Dass die Vänsterpartiet den Entwurf so eindeutig angreift und die
Protestbewegung unterstützt, ist von größter Bedeutung, sowohl um den
Entwurf zu stoppen als auch für das Vertrauen der Partei in der
Arbeiter*innenklasse. Die Mehrheit der Schwed*innen lebt in
Einfamilienhäusern oder Eigentumswohnungen, aber die Mehrheit der
Arbeiter*innenklasse, Lohnabhängige mit mittleren und kleinen Einkommen,
mieten ihre Wohnungen. In der nationalen Politik und den Medien, die von
bürgerlichen Lebensverhältnissen und Perspektiven durchzogen sind, können
unerträgliche Mieten für andere hinter Villenfinanzierungen und
Amortisationssorgen in den Hintergrund treten. Stefan Löfvens Aussage, dass
"normale Leute" sich keine Sorgen um steigende Wohnkosten durch eine neue
Grundsteuer machen müssen, verdeutlicht die Priorität. Bei drei Millionen
Mieter*innen, deren Mieten bereits jetzt zu teuer sind und durch die
Einführung der Marktmieten explodieren werden, herrscht nicht dieselbe
Sorglosigkeit. Für die Linke gilt es dann, das aufrecht bis zum bitteren
Ende oder bis zum Sieg durchzustehen -- als Loyalitätserklärung an die
Arbeiter*innenklasse, der das Establishment seit dreißig Jahren seinen
neoliberalen Finger zeigt.

 

 

KLASSENFRAGE

 

Hier sollte es keinen Zweifel geben, dass im Reichstag das Misstrauen
ausgesprochen wird, wenn die Regierung einen scharfen Entwurf einbringt.
Christdemokraten und Konservative (Moderaterna) haben schon erklärt, dass
ihnen die Interessen der Immobilienunternehmen wichtiger seien als ein
Misstrauensvotum. Und? Sie folgen nur ihrem Klasseninteresse - und wenn dies
mit dem der Regierung übereinstimmt, umso erhellender. Um einen
Misstrauensantrag einzubringen, reichen die Parlamentsmandate der
Vänsterpartiet nicht aus, es braucht etwa zehn weitere. Ob diese von den
[rechtspopulistischen] Schwedendemokraten oder vom Teufel und seiner
Großmutter kommen, ist in der jetzigen Situation unerheblich. Bei der
eigentlichen Abstimmung ist, wenn sie so überhaupt stattfindet, jede*r
gezwungen, Farbe zu bekennen.

 

Eine solche Abstimmung würde dann im Frühjahr 2022 erfolgen. [1] Wenn die
Regierung mit Unterstützung der Bourgeoisie gewinnt, wird die Linkspartei
alleinige Verteidigerin von drei Millionen Mietern sein. Wenn die Regierung
stürzt und Kristersson eine rechte Regierung bildet, muss sie sich nach
wenigen Monaten einer Reichstagswahl stellen, bei der die politischen Kräfte
gemessen werden.

 

Bis zu diesem Kräftemessen braucht es eine Linkspartei, die ohne Angst
standhaft an der Seite der Mieter*innen und der Arbeiter*innenklasse steht

 

 

Socialistisk Politik, 7. Juni 2021

Die schwedische Sektion der Vierten Internationale benannte sich 2019 von
"Socialistisk Partiet" in "Socialistisk Politik" (SP) um; seither wirkt sie
als Strömung innerhalb der "Vänsterpartiet".

Übersetzung aus dem Schwedischen (und "Zeittafel"): Björn Mertens

 

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[1]  Tatsächlich erfolgte sie wegen unbeantworteten Ultimatums der
Vänsterpartiet bereits am 21. Juni -- siehe "Zeittafel"

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