[IPK] Dürre, Hitzewelle und Revolution

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Do Aug 25 11:37:23 CEST 2022


Ökosozialismus:
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Dürre, Hitzewelle und Revolution

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Globale Erwärmung, extreme Dürre in Europa, Hitzewellen, Lawineneffekte
(oder Kettenreaktionen) zwischen all diesen Krisenfaktoren, die Gefahr einer
plötzlichen Veränderung der Meeresströmungen mit unabsehbaren Folgen …
Dieser Artikel behandelt drei Punkte: die Erklärung dieser unbestreitbaren
Tatsachen, die mögliche Entwicklung und die erforderlichen Gegenmaßnahmen.

 

 

Von Daniel Tanuro

 

 

Es ist überflüssig, in diesem Artikel Fakten und Zahlen aufzuführen, die die
extreme Dürre auf dem europäischen Kontinent zeigen. Sogar wer den
Nachrichten nur wenig folgt, hat die erschreckenden Bilder des
ausgetrockneten Po, der auf ein Rinnsal reduzierten Loire, der an der Quelle
und auf acht Kilometern ausgetrockneten Themse und des Rheins gesehen,
dessen Wasserstand so niedrig ist, dass die Schifffahrt unmöglich wird.
Diese beispiellose Situation ist das Ergebnis eines schweren
Niederschlagsdefizits, das sich seit dem Ende des Winters nach mehreren
aufeinanderfolgenden Jahren der Dürre akkumuliert hat. Wasser ist knapp
geworden und in einigen Regionen sehr knapp.

 

Genauso wenig ist es nötig, Daten über die Hitzewelle anzuführen. Zu sagen,
dass die Temperaturen „über dem langjährigen Mittel liegen“, wie es im
Fernsehen heißt, ist eine starke Untertreibung: sie liegen weit darüber. Die
40 °C-Marke wurde in vielen Regionen mehrfach überschritten – auch in
Gebieten mit gemäßigtem Meeresklima wie Großbritannien. Die Hitzewelle
verschärft natürlich die Dürre. Die derzeitige Kombination der beiden
Phänomene ist in ihrer geografischen Größe, Intensität und Dauer
außergewöhnlich.

 

Drei Punkte sollen kurz angesprochen werden: die Erklärungen und Ursachen,
die mögliche Entwicklung und die erforderlichen Gegenmaßnahmen.

 

 

ERKLÄRUNGEN UND KAUSALITÄTEN

 

Beginnen wir mit den Erklärungen. Wir werden uns sinnvoll auf diesen guten
populärwissenschaftlichen Artikel der Website „RTBF-Info“
[https://www.rtbf.be/article/le-double-jet-stream-un-phenomene-a-l-origine-d
es-vagues-de-chaleur-en-europe-11045816] beziehen. Er erklärt einfach und
mit Grafiken, wie die Aufspaltung des polaren Jetstreams in zwei Äste einen
Antizyklon (ein Hochdruckgebiet) in einer geografischen Region umschließt,
so dass eine warme Luftmasse dauerhaft blockiert bleibt.

 

Die Beschreibung des Doppel-Jets mit Verschiebung des Azorenhochs nach
Norden ist Gegenstand von Debatten unter Wissenschaftlern. Wie der Autor
dieses Artikels sagt: für einige „ist es der Antizyklon, der den Doppel-Jet
verursacht“, für andere ist es „die Verdopplung, die die Verschiebung des
Antizyklons fördert“. Eines ist sicher: „Die Verdopplung ist wirklich eine
Realität, die das Ausmaß von trockenen und heißen Perioden in unseren
Breiten erhöht.“

 

Eine weitere Gewissheit: Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die globale
Erwärmung die zugrunde liegende Ursache für den doppelten Jetstream ist.
Denn seine Stabilität wird durch die Temperaturdifferenz zwischen Pol und
Äquator bedingt. Da die Erwärmung in der Arktis stärker ist als der globale
Durchschnitt, schwächt sich die Differenz ab und der Jetstream wird
unregelmäßiger, langsamer, launischer, was zu seiner Verdoppelung führen
kann.

 

Hitzewellen und Dürre sind daher ganz klar auf den Klimawandel
zurückzuführen, vor dem der Weltklimarat (IPCC) seit dreißig Jahren warnt.
Laut dem jüngsten IPCC-Bericht (AG1) „ist es praktisch sicher, dass die
Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen seit 1950 (auf globaler Ebene)
zugenommen hat und in Zukunft weiter zunehmen wird, selbst wenn die globale
Erwärmung bei 1,5 °C stabilisiert wird“. In dem Bericht heißt es, dass „die
Kombination von Hitzewellen und Dürre wahrscheinlich zugenommen hat“ und
dass „sich dieser Trend fortsetzen wird“. In Bezug auf Europa prognostiziert
der Bericht (mit hohem Vertrauen) eine Zunahme der
Starkregen-Überschwemmungen im Nordosten des Kontinents und eine Zunahme der
Dürren im Mittelmeerraum mit einer Verringerung der Sommerniederschläge im
Südosten.

 

Keine Überraschungen: Die beobachtete Realität stimmt mit den
wissenschaftlichen Projektionen überein. Abgesehen davon, und das ist keine
Kleinigkeit, geht sie weit darüber hinaus. Sehr weit.

 

In Wirklichkeit geht alles viel schneller, als mathematische Modelle
vorhergesagt haben. Die von der Presse interviewten Klimaforscher verbergen
nicht ihre Überraschung angesichts der Temperaturen, die plötzlich 4 oder 5
°C über die saisonalen Durchschnittswerte springen. Solche Extreme wurden
eher gegen 2030 oder später erwartet – für den Fall, dass die Regierungen
(fast) nichts getan hätten.

 

Diese Feststellung muss man im Hinterkopf haben, um den zweiten Punkt
anzugehen: die mögliche Entwicklung.

 

 

WAS DIE ZUKUNFT FÜR UNS BEREITHÄLT UND WELCHE RISIKEN

 

Wie andere auch habe ich oft auf eine relativ neue wissenschaftliche
Publikation [https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1810141115] aufmerksam
gemacht, die viel Aufsehen erregt hat. Unterzeichnet von führenden
Persönlichkeiten des Fachgebiets, befasst sie sich mit den positiven
Rückwirkungen der Erwärmung (d. h. den erwärmungsfördernden Auswirkungen der
Erwärmung). Ihre Originalität besteht darin, zu untersuchen, wie sich
positive Rückkopplungen in einer Art Lawineneffekt oder Kettenreaktion
gegenseitig antreiben könnten.

 

Das folgende Zitat macht es deutlich: „Eine Kaskade von Rückkopplungen
könnte das Erdsystem zu einer planetaren Schwelle treiben, deren
Überschreiten die Stabilisierung des Klimas bei mittleren
Temperaturanstiegen verhindern und eine kontinuierliche Erwärmung in
Richtung eines ‘Treibhaus Erde’ verursachen könnte, selbst wenn die
menschlichen Emissionen reduziert werden.“

 

Den Autor*innen des Artikels zufolge könnte der Prozess bei einer relativ
niedrigen Erwärmung zwischen +1 °C und +3 °C beginnen.

 

Eine der wahrscheinlichsten Rückkopplungen, die den Prozess auslösen, ist
die Destabilisierung des grönländischen Eisschildes. Diese Kappe ist ein
besonders empfindlicher Punkt. Experten gehen davon aus, dass der Kipp-Punkt
ihrer Auflösung irgendwo zwischen +1° (+1,5 °C nach IPCC) und +3 °C
durchschnittlicher Erwärmung liegt. Wir wären also bereits in der
Gefahrenzone oder nähern uns ihr schnell an (bei unveränderter Politik
werden die +1,5 °C nach Angaben des IPCC vor 2040 überschritten).

 

Was wären die Folgen beim Überschreiten dieses Kipp-Punkts? Einerseits würde
der Zustrom von Wasser in den Ozean den Anstieg des Meeresspiegels
beschleunigen. Der Prozess würde lange dauern, bis er an sein Ende kommt,
ein neues Gleichgewicht, aber er wäre unumkehrbar. Auf der anderen Seite
könnte dieser Zustrom zu einem abrupten, plötzlichen Zusammenbruch der
Ozeanzirkulation namens AMOC (Atlantic Middle Ocean Circulation) führen, die
das Klima der Regionen am Atlantik beeinflusst. Und dann wären die Folgen
sofort spürbar.

 

Hier ist es, was der jüngste Bericht der IPCC-Arbeitsgruppe 1 über das
Risiko des Zusammenbruchs der AMOC sagt: „Die Abnahme der AMOC wird nicht zu
einem abrupten Zusammenbruch vor 2100 (mittleres Vertrauen) führen. Ein
solcher Zusammenbruch könnte aber möglicherweise (might) durch einen
unerwarteten Zustrom (von Wassermassen) aus der grönländischen Eiskappe
verursacht werden. Im Falle eines Zusammenbruchs würde dieser
höchstwahrscheinlich zu abrupten Umwälzungen des regionalen Klimas und des
Wasserkreislaufs führen: eine Verschiebung des tropischen Regengürtels nach
Süden, eine Schwächung der Monsune in Afrika und Asien, eine Verstärkung der
Monsune in der südlichen Hemisphäre und eine Austrocknung in Europa“ (AG1,
Technical summary, S. 73, eigene Hervorhebung).

 

Alles steckt offensichtlich in diesem „aber“, das die Möglichkeit eines
„abrupten Kippen“ eröffnet. Fest steht: Die Folgen dieses Kippens wären für
Ökosysteme und Populationen äußerst gravierend. Vor allem für die verarmen
Massen in Asien und Afrika. Hunderte Millionen Menschen würden vor einer
dramatischen Situation stehen.

 

Wie wir gelesen haben, wird Europa nicht verschont bleiben. Besonders
gefährdet ist die Iberische Halbinsel. Die Wüstenbildung schreitet dort seit
Jahren voran. Sie würde eine qualitative Schwelle überschreiten, die nach
menschlichen Maßstäben irreversibel ist.

 

Was ist der mögliche Zusammenhang mit der aktuellen Dürre und Hitzewelle,
wenn man bedenkt, dass Grönland nicht vom doppelten Jetstream umflossen
wird, der diese erklärt? Die Verbindung besteht darin, dass die Erwärmung in
der Arktis aus einer Reihe von Gründen doppelt so groß ist wie die im
globalen Mittel. Laut IPCC ist es „praktisch sicher“, dass die grönländische
Kappe seit 1990 an Masse verliert: Experten schätzen, dass zwischen 1992 und
2020 4890 (± 460) Gigatonnen (Milliarden Tonnen) Eis geschmolzen sind, was
zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 13,5 mm führte.

 

Der IPCC unterstreicht (wieder einmal!) einen wichtigen Punkt: diese
Projektionen basieren ausschließlich auf Schätzungen der Eisschmelze: sie
schließen keine dynamischen Prozesse ein, die den Massenverlust
beschleunigen würden (die Ablösung riesiger Bruchstücke der Kappe, die in
den Ozean gleiten), weil ihre „Quantifizierung sehr unsicher ist“, schreibt
der IPCC.

 

Angesichts dessen, was sich anderswo auf der Welt abspielt, ist es nicht
unvernünftig zu befürchten, dass sich die Entwicklung auch in Grönland
schneller vollzieht, als von den Modellen projiziert. Das ist eine
Untertreibung! In der Tat gibt es eine Reihe von Hinweisen, die eindeutig in
diese Richtung weisen.

 

So lag Ende Juli 2022 die Temperatur in Grönland weit über den langjährigen
Durchschnittswerten. Die Eisschmelze war im gleichen Zeitraum doppelt so
hoch wie in den anderen Jahren. Innerhalb von drei Tagen wurden
schätzungsweise 18 Milliarden Tonnen Eis in Wasser umgewandelt.
Wissenschaftler haben berechnet, dass diese Menge an freigesetztem Wasser
das Gebiet von West Virginia (62 259 km²) mit einer Wasserschicht von etwa
dreißig Zentimetern bedecken würde. Diese Beschleunigung der Schmelzprozesse
ist beispiellos.

 

Man muss dies nicht weiter vertiefen: die Zukunft des Klimas ist
bedrohlicher denn je. Die Lichter leuchten rot und blinken eindringlich; die
Ärmsten und die Schwächsten laufen Gefahr, das voll abzubekommen.

 

 

WAS TUN? (BEKANNTES MUSTER)

 

Kommen wir nun zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen. Die Katastrophe
entwickelt sich und der IPCC sagt uns, dass sie weiter voranschreiten wird,
„auch wenn die Erwärmung auf 1,5 °C begrenzt wird“. Übrigens ist die
gegenwärtige Katastrophe das Produkt einer Erwärmung von „nur“ 1,2 °C im
Vergleich zum vorindustriellen Niveau. Es ist nicht schwer, sich die weitere
Entwicklung vorzustellen …

 

Angesichts der Situation kann man sich natürlich nicht damit begnügen,
radikale Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu fordern:
diese Maßnahmen sind unabdingbar – mehr denn je! – aber sie müssen mit einer
unmittelbaren und sehr konkreten Politik zur Anpassung an die beobachtete
und vorhersehbare Erwärmung einhergehen.

 

Was ist angesichts der immer häufigeren und intensiveren Kombination von
Dürre und Hitzewelle zu tun, um Menschen, Pflanzen und Tiere zu schützen?
Eine kurz-, mittel- und langfristige Vision ist notwendig. Sie muss darauf
abzielen, einen öffentlichen Anpassungsplan zu entwerfen, der sowohl
verbindlich (um wirksam zu sein) als auch flexibel (um an das
Unvorhergesehene anpassbar zu sein) ist.

 

Dieser Plan muss vorrangig Aspekte in den Bereichen Wasserbewirtschaftung,
Prävention der gesundheitlichen Auswirkungen extremer Hitze (für
gebrechliche Menschen und in städtischen Regionen, die mit dem Phänomen der
„Wärmeinseln“ konfrontiert sind), Land- und Forstwirtschaft, Raumplanung,
Infrastruktur und Energie umfassen.

 

Der jüngste Bericht der zweiten IPCC-Arbeitsgruppe kann Anregungen geben,
wie der Plan zu gestalten und für den Plan von Seiten der sozialen
Bewegungen zu kämpfen ist. Dieser Bericht ist natürlich nicht
antikapitalistisch, aber man liest darin, dass „die vorherrschenden
Entwicklungsstrategien einer klimaschonenden Entwicklung zuwiderlaufen“. Die
genannten Gründe sind: die zunehmende Einkommensungleichheit, die wilde
Verstädterung, die erzwungene Migration und Vertreibung, der anhaltende
Anstieg der Treibhausgasemissionen, die anhaltenden Landnutzungsänderungen,
die Umkehr des langfristigen Trends zur Verlängerung der Lebenserwartung …
(IPCC, AR6, WG2, full report, 27/2/2022).

 

Die Verurteilung der neoliberalen Politik ist implizit, aber ziemlich klar.

 

Positiv ist, dass der IPCC-Bericht zu Recht betont, dass die Anpassung an
den Klimawandel ganzheitlich, sozial, demokratisch, partizipativ sein muss;
sie soll Ungleichheiten abbauen, sich auf die schwächsten sozialen Gruppen
stützen, die sozialen Positionen von Frauen, Jugendlichen und Minderheiten
stärken usw. Aber der Ansatz konzentriert sich auf die Entscheidungsträger,
die er zu überzeugen versucht, nicht auf soziale Bewegungen und ihre Kämpfe.
Von diesen sozialen Bewegungen hängt alles ab, nicht von den Regierungen.

 

Hier ist nicht der Ort, um einen Forderungskatalog zu erstellen, sondern wir
werden uns mit einigen Hinweisen und Überlegungen begnügen.

 

Die Wasserbewirtschaftung ist ein wichtiger Punkt. Wie der IPCC (AG2)
schreibt, „steht die Aufrechterhaltung des Status von Wasser als
öffentliches Gut im Mittelpunkt der Fragen der Gerechtigkeit“. Das ist die
Richtschnur.

 

Insbesondere geht es darum, die Monopolisierung der Wasserressourcen durch
kapitalistische Gruppen, die Wasser in Flaschen und verschiedene Getränke
produzieren, die Monopolisierung der Wälder durch die Hersteller von
Zellstoff, Pellets oder anderen Gütern (beispielsweise die ökologischen und
menschlichen Schäden der Eukalyptusplantagen in Portugal!) und die des
Grundwassers durch die Agrarindustrie (beispielsweise in Andalusien).

 

Aber die Richtschnur des Wassers als öffentliches Gut führt auch zu einer
Vielzahl konkreter Sofortforderungen: 

 

* Stopp der Flächenversiegelung, der Kanalisierung von Regenwasser, der
Begradigung von Bächen, der Zerstörung von Feuchtgebieten; 

 

* Förderung land- und forstwirtschaftlicher Techniken, mit denen Böden und
ihre Aufnahmefähigkeit durch Begrenzung des Abflusses wiederhergestellt
werden; 

 

* die Landwirtschaft ist viel radikaler auf die Agrarökologie auszurichten; 

 

* ganz zu schweigen von den Investitionen in das Verteilungsnetz (in
Wallonien zum Beispiel werden 20 % des produzierten Wassers nicht in
Rechnung gestellt – Lecks aus dem Netz sind daher sehr wichtig).

 

 

Rationale, soziale und ökologische Wasserbewirtschaftung erfordert eine
andere Preispolitik. Die liberale Politik der „tatsächlichen Kostenpreise“
ist sozial ungerecht, da alle Verbraucher für die Reinigung des Abwassers
bezahlen, das in großen Mengen durch die Industrie verbraucht wird. Darüber
hinaus fördert die neoliberale Politik die Verschwendung der Ressource, da
die Einnahmen der Verteiler teilweise davon abhängen, dass die Nutzer auch
für die – unnötige! – Reinigung des Regenwassers, das in die Kanalisation
geleitet wird, bezahlen …

 

Es muss ein anderes System eingeführt werden: kostenloser Verbrauch für
Haushalte, der der angemessenen Befriedigung der tatsächlichen Bedürfnisse
entspricht (Trinken, Waschen, Hausreinigung, Geschirrspülen und
Wäschewaschen …), dann schnell steigende Preise für den Verbrauch über
dieses Niveau hinaus.

 

Der Schutz von Menschen sollte eine weitere Priorität sein. Doch das ist
nicht der Fall. Unter der Leitung des Klimaforschers JP van Ypersele stellt
die wallonische Plattform für den IPCC
[https://www.plateforme-wallonne-giec.be/adaptation] fest, dass die
Hitzewelle von 2003 mehr als 1200 Tote forderte, während die Hitzewelle von
2020 mehr als 1400 Tote forderte. Zwischen den beiden Jahren wurde also
nichts unternommen … trotz aller Versprechungen.

 

Ein öffentlicher Plan zur Anpassung an die extreme Hitze sollte zumindest
die systematische Begrünung von Ballungsräumen (überall Bäume, um Schatten
zu spenden) sowie die Wärmedämmung aller Krankenhäuser, Schulen, Alters- und
Behindertenheime vorsehen.

 

Generell muss die dringende Notwendigkeit bekräftigt werden, alle Wohnungen
zu isolieren und zu sanieren. Nicht nur, um die Emissionen von Heizungen
(und Klimaanlagen!) drastisch zu reduzieren, sondern auch, um Gesundheit und
Wohlbefinden zu schützen. In diesem wie auch in anderen Bereichen ist
folgendes festzustellen: neoliberale Marktanreize sind ökologisch
ineffizient und sozial ungerecht. Diese Klein-Klein-Politik muss einer
öffentlichen Initiative weichen, da sonst individuelle Lösungen wie der Kauf
von Klimaanlagen die Oberhand gewinnen, was zu einem Anstieg des
Energieverbrauchs und der CO2-Emissionen führt.

 

Der IPCC unterstreicht die Bedeutung einer ganzheitlichen Politik, die
sowohl die Anpassung an die Erwärmung als auch die Reduzierung der
Emissionen (im Fachjargon „mitigation“ / „Minderung“) vorsieht.
Typischerweise bewegt sich der Energiesektor in beiden Bereichen. Es fehlt
an Wasser, um die Atomkraftwerke zu kühlen. Angesichts der Projektionen kann
sich diese Realität in den kommenden Jahren nur noch verschlimmern, so dass
die Anpassungspolitik in einer Zwickmühle steckt: soll das Wasser vorrangig
zur Kühlung der Kraftwerke (verbunden mit weiterer Erwärmung der Flüsse!)
zur Stromerzeugung genutzt werden? Zum Trinken? Oder zur Bewässerung der
Nutzpflanzen? (Und welcher Nutzpflanzen?) Ein Grund mehr (es gibt viele
andere!), nicht auf die Atomenergie zur „Minderung“ der Klimakatastrophe zu
setzen …

 

Ich komme hier nicht auf die Maßnahmen zur strukturellen Verringerung der
Treibhausgasemissionen zurück, da ich bereits zahlreiche Schriften darüber
geschrieben habe. Kurz: Energie und Finanzen müssen vergesellschaftet
werden, ebenso wie das Wasser; man muss aus dem Agrobusiness aussteigen und
das rasche Ende der Mobilität auf Basis des Individualautos organisieren.
Dieses Bündel tiefgreifender struktureller Veränderungen ist die notwendige
– aber nicht ausreichende – Voraussetzung für eine rasche und effektive
Dekarbonisierung der Weltwirtschaft.

 

Ohne diese antikapitalistische Rosskur wird es sich als absolut unmöglich
erweisen, die von den Wissenschaftlern begründeten klimatischen Grenzwerte
einzuhalten. In diesem Fall wird das „Treibhaus Erde“ von Johan Rockström
und den anderen oben erwähnten Autoren/innen ganz sicher irreversibel
werden. Dies würde eine menschliche und ökologische Katastrophe von
unvorstellbarem Ausmaß bedeuten.

 

 

„RECHNERISCHE“ KLIMAPOLITIK ODER ÖKOSOZIALISMUS?

 

Etwas Gutes hat das Unglück: alle können sich heute der extremen Schwere der
Situation und der schrecklichen Gefahr bewusst werden, vor der wir stehen.
Ich zitiere hier aus einem am 11. August in den sozialen Netzwerken
veröffentlichten Beitrag über die Dürre in Europa
[https://www.facebook.com/dalloooniel.taoghghhjjhjhj)]:

 

„Mit den Überschwemmungen (2021 in Belgien und Deutschland) hat uns der
Klimawandel sozusagen einen Schlag auf den Kopf gegeben. Ein Schlag mit dem
Knüppel tut weh, er kann diejenigen töten, die in der ersten Reihe stehen.
Mit der Dürre zeigt uns die Erwärmung, dass sie uns an die Kehle gehen und
langsam, jeden Tag ein wenig mehr, ohne Eile erdrosseln kann, so dass wir
alle Zeit haben, den Tod näher kommen zu spüren – die Aufmerksamsten sehen
es bereits: der Tod der Pflanzen, der Tod der Flüsse, der Tod der Tiere,
unser eigener Tod. Denn wie können wir überleben, wenn alles verschwindet? “

 

Angesichts dieser Aufgabe kann sich auch jeder und jede der Tatsache bewusst
werden, dass die Regierungspolitik völlig unzureichend und, um ehrlich zu
sein, kriminell ist.

 

Diese Politik ermöglicht es nicht, die Emissionen schnell zu reduzieren (die
Emissionen steigen weiter!), um im Jahr 2050 „Nullemission“ zu erreichen.
Vor unseren Augen spielt sich stattdessen das Gegenteil ab: Die Erholung
nach der Pandemie und Putins Krieg gegen das ukrainische Volk haben einen
hemmungslosen Ansturm auf fossile Brennstoffe ausgelöst (Kohle in China,
Russland und der Türkei; Braunkohle in Deutschland; Schiefergas in den
Vereinigten Staaten; Erdgas in der Europäischen Union). Das Ergebnis sind
ein Rausch neokolonialer Monopolisierung, zunehmende Rivalitäten zwischen
den Mächten und barbarische Maßnahmen gegen die Migration.

 

Die Klimapolitik der Regierungen ist nicht nur ineffektiv, sie erhöht nicht
nur die soziale Ungleichheit, sondern sie versäumt es auch, die Menschen vor
Katastrophen zu schützen. Dieser Schutz der Bevölkerung ist jedoch
theoretisch die elementare Verfassungsaufgabe jeder Regierung, eines jeden
Staates.

 

Diese gewaltige Verschwendung ist ein potenzieller Faktor für die
dramatische Vertiefung der Legitimitätskrise der Mächtigen dieser Welt,
unabhängig von dem „Lager“, zu dem sie gehören.

 

Die so geschaffene Instabilität sollte ideologische Auswirkungen haben. Ein
Beispiel dafür hatten wir kürzlich in Belgien mit einem Kommentar in Form
einer Selbstkritik
[https://www.lalibre.be/debats/opinions/2022/08/07/le-capitalisme-neoliberal
-nest-plus-compatible-avec-le-defi-climatique-INNZVTOFBRHUHMHJD2ZQKDA3WA/],
den Bruno Colmant in /La Libre/ veröffentlichte.

 

In diesem Text glaubt der ehemalige Stabschef des ultraliberalen Didier
Reynders, des Ökonomen, der den Betrug der „fiktiven Zinsen“ entworfen hat,
dass „der neoliberale Kapitalismus nicht mehr mit der Aufgabe des
Klimaschutzes vereinbar ist“.

 

Herr Colmant hat Recht: Der „freie Markt“ wird uns nicht aus der Sackgasse
herausholen. Die Bewältigung des Klimawandels erfordert zwingend einen
öffentlichen Plan, andere soziale und ökologische Ziele als Profit,
öffentliche Mittel und damit eine radikale Umverteilung des Reichtums –
anstelle „neoliberaler Reformen“.

 

Nachdem Herr Colmant jedoch den „neoliberalen Kapitalismus“ kritisiert hat,
befindet er sich in der unbequemen Position desjenigen, der mitten in der
Furt stehen bleibt.

 

Tatsächlich ist das neoliberale Dogma des freien Marktes nicht das einzige
Hindernis auf dem Weg zu einem rationalen Umgang mit der Klimakatastrophe:
Der Wachstumszwang des Kapitalismus ist eine weitere, noch grundlegendere,
und eine, die Herr Colmant nicht zu überwinden bereit ist. Ein
nicht-liberaler, keynesianischer oder neo-keynesianischer Kapitalismus kann
vielleicht existieren. Kapitalismus ohne Wachstum ist, wie Schumpeter sagte,
ein Widerspruch in sich. Ohne einen Rückgang des Endenergieverbrauchs – und
damit ohne einen Rückgang der Produktion und des Verkehrs – ist es jedoch
unmöglich, im Jahr 2050 „Null-Emissionen“ zu erreichen. Selbst wenn
Kohlenstoff mit „Kompensationen“, „Abscheidung und Speicherung (CCS)“ und
anderen „rechnerischen Emissionsreduktionen“ unter den Teppich gekehrt wird,
ist das ausgeschlossen.

 

Es ist eine objektive Notwendigkeit: Es ist notwendig, weniger zu
produzieren, weniger zu arbeiten, weniger zu transportieren, Reichtum zu
teilen, sorgfältig und demokratisch auf Lebewesen und Dinge zu achten. Mit
anderen Worten, die produktivistische kapitalistische Maschine muss
gebrochen werden. Produktivistisch? Man sollte „destruktivistisch“ sagen, da
klar ist, dass „das Kapital die einzigen beiden Quellen allen Reichtums
ruiniert: die Erde und den Arbeiter“ (wie Marx nach seiner
antiproduktivistischen Wendung sagte).

 

Der Klimakrieg hat begonnen und er ist ein Klassenkrieg. Damit meine ich,
dass man sich auf den Standpunkt der wirklichen Bedürfnisse von Männern und
Frauen stellen muss, das heißt, einen Standpunkt, der von der Entfremdung
des Marktes und dem Wettlauf um egoistischen Profit befreit ist, der die
Realität auf den Kopf stellt.

 

Außer einer ökosozialistischen, internationalistischen, feministischen
Orientierung wird es keine Rettung geben. Um dies auszusprechen und in
dieser Perspektive zu handeln, müssen wir uns organisieren, über Grenzen,
„Lager“ und „Blöcke“ hinweg. Kurz gesagt, dies ist die Zeit, um es zu wagen,
revolutionär zu sein.

 

 

13. August 2022

 

Der Artikel wurde geschrieben für die Website der Gauche anticapitaliste
(Belgien).

Übersetzung aus dem Französischen: Björn Mertens

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 5/2022 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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