[IPK] Gleitende Lohnskala in Italien: Die scala mobile als Gradmesser der Klassenkämpfe

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Do Jul 7 12:36:24 CEST 2022


Gleitende Lohnskala/Italien:

Die scala mobile als Gradmesser der Klassenkämpfe
Online unter: https://www.inprekorr.de/608-scala-it.htm

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Die gleitende Lohnskala (scala mobile) in Italien wurde 1945 zwischen dem
Unternehmerverband Confindustria und den großen Gewerkschaftsverbänden
vereinbart, um eine Anpassung der Löhne an die steigenden
Lebenshaltungskosten zu gewährleisten. 

 

 

Von Michael Weis

 

 

Galt die Vereinbarung zunächst nur für den Norden Italiens, wurde sie im
Folgejahr auf den Rest des Landes ausgeweitet. Zugrunde lag die
zweimonatlich (später dreimonatlich) vorgenommene Berechnung eines Korbes
von Waren und Dienstleistungen, der den Verbrauch einer typischen Familie
mit zwei Ehepartnern und zwei Kindern abbildete und von einer paritätisch
besetzten Kommission ermittelt wurde. Entlang dieses Index wurde eine
vierteljährliche Anpassung in Form einer Zulage für unvorhergesehene
Ausgaben vorgenommen, die somit ein zusätzliches Element zum Grundgehalt
darstellte und ein variabler Bestandteil des Gesamtgehalts in Abhängigkeit
von der Entwicklung der Lebenshaltungskosten war. Die Ermittlung dieses
Warenkorbs durch diese Kommission sorgte für eine weitgehend realistische
Abbildung der Lebenshaltungskosten, anders als die mittlerweile üblichen
Statistiken, die allzu offensichtlich interessengeleitet sind.

 

Dadurch war es den italienischen Gewerkschaften gelungen, im Gegensatz zum
Gros der anderen europäischen Länder in den 1970er Jahren das Reallohnniveau
zu halten, das statistisch zu den höchsten in Europa zählte. Dies war aus
Sicht der italienischen Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretungen nicht
länger hinnehmbar, da dadurch die Profite der Konzerne systematisch
geschmälert wurden. Also wurde mithilfe der Massenmedien, der
Wirtschaftswissenschaftler*innen, der Politik und selbst eines Teils der
Gewerkschaften eine systematische Infragestellung des Arbeitsrechts ins
Visier genommen, um die Voraussetzungen für dessen Aufweichung und
Abschaffung zu bereiten.

 

Ein zentrales Argument dabei war, dass die gleitende Lohnskala eine
Lohn-Preis-Spirale in Gang setze und die Inflation anheize, die von
durchschnittlich 9,9 % in der ersten auf 16,5 % in der zweiten Hälfte der
1970er Jahre gestiegen war. Um die Inflation einzudämmen, erließ die
Regierung 1976 ein Gesetzesdekret, mit dem die Lohnanpassung für 19 Monate
eingefroren wurde und 1977 stimmten die Gewerkschaften einer Änderung der
Berechnungsweise des Warenkorbs zu. Paradoxerweise teilte die traditionelle
Linke diese vorherrschende Diagnose, die die Inflation auf den Lohndruck und
nicht etwa auf die permanente Abwertung der Währung zurückführte, und machte
schließlich der Gegenseite das Zugeständnis, dass eine andere
Einkommenspolitik notwendig sei. Der CGIL-Führer Lama hielt es in einem
Interview 1978 für "selbstmörderische Politik, den Betrieben überflüssige
Arbeitskräfte aufzuzwingen".

 

Der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Sozialabbau war das Dekret der
Regierung Craxi vom Februar 1984. Damit wurde eine Vereinbarung zur Kürzung
der Lohnanpassung in Gesetzesform gegossen, die zwischen einem Teil der
Gewerkschaften und den Unternehmerverbänden zuvor getroffen worden war. Das
Referendum gegen dieses Dekret, das auf Initiative des PCI lanciert und von
den Gewerkschaften nur halbherzig unterstützt wurde, ging verloren, wobei
die Hochburgen des PCI im Norden ausschlaggebend waren. Bereits ein Jahr
zuvor war ein erster Sozialpakt mit den drei Gewerkschaftsverbänden
unterzeichnet worden, in dem die Lohnanpassung weiter gekürzt,
obligatorische Überstunden zugestanden und die Prekarisierung des
Arbeitsverhältnisses eingeleitet wurden und damit eine entscheidende Bresche
in die Mauer der scala mobile geschlagen wurde.

 

In den Folgejahren kam es zu weiteren Einschnitten: Die Anpassung erfolgte
nur noch auf halbjährlicher Basis, statt vierteljährlich; Differenzierung
entlang der Lohnstufen statt gleicher Punktwert für alle Beschäftigten;
Anpassung der Löhne und Gehälter nicht mehr durch Punktwerte, sondern
prozentual; Anpassung nur noch eines Teils der Löhne und Gehälter an die
gestiegenen Lebenshaltungskosten.

 

Im Juli 1992 kam dann unter der Regierung Amato das endgültige Aus der scala
mobile. Als Ausgleich, so versprach Amato, werde es einen Preisstopp, der
die Inflationsrate bei 3,5 Prozent einfrieren soll (derzeit rund 6 Prozent)
sowie eine Lohnerhöhung von 20 000 Lire (rund 26 DM) geben. Die
Gewerkschaftsbosse erklärten, dass man mit dem Kompromiss leben könne, zumal
die Sicherheit des Lebensstandards durch die Preisstabilität nun endlich
gefestigt werde. 1995 wurden auch die letzten Reste zu Grabe getragen und an
die Stelle der Lohnindexierung ein zweistufiges Lohnfindungssystem gesetzt
und Rahmenverträge eingeführt.

 

Damit wurde der Weg frei gemacht für die Eingliederung in die neoliberale
Verfasstheit der EU. Nach ihrer Zustimmung in die Abschaffung der scala
mobile bekundeten die Gewerkschaften ihre Einsicht auch in weitere
"unumgängliche" strukturelle Maßnahmen wie die Revision des Rentensystems
und weitere Senkungen der Sozialausgaben. So wurde aus einem Land, das noch
zwei Jahrzehnte zuvor Schauplatz heftigster Klassenkämpfe gewesen war,
nunmehr ein auch nördlich der Alpen bewunderter Musterknabe der Anpassung an
die Konvergenzkriterien von Maastricht. Kein Wunder, dass die
Arbeiterbewegung nunmehr ein Schattendasein führt. 

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2022 

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