[IPK] Niederlande: Neue sozialistische Organisation entsteht

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Mo Nov 28 19:25:26 CET 2022


Niederlande:

Neue sozialistische Organisation entsteht
Online unter: https://www.inprekorr.de/614-nl.htm

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Über 120 Sozialist*innen beendeten ihr Treffen im niederländischen Utrecht
mit dem Gesang von allen drei Strophen der „Internationale“. „Viel mehr, als
die Sozialdemokraten singen“, bemerkte ein Teilnehmer. Nicht nur beim Gesang
hofft das Treffen einer neuen Organisation, die sich einfach „De Socialisten
[https://socialisten.org/]“ nennen, über die Sozialdemokratie hinauszugehen.

 

 

Von Alex de Jong

 

 

Die Versammlung am 25. September folgte auf einen Diskussionsprozess, bei
dem eine politische Grundsatzerklärung ausgearbeitet und über den Aufbau
einer neuen Organisation beraten wurde. Ziel ist es, den Grundstein für eine
Partei zu legen, die für die „Sozialisierung der Wirtschaft“ durch einen
radikalen Transformationsprozess kämpft, eine „soziale Revolution“.

 

 

WIR BRAUCHEN EINE ALTERNATIVE

 

Viele der Teilnehmer*innen des Treffens waren ehemalige Mitglieder der
niederländischen Sozialistischen Partei (SP), der wichtigsten linken Partei
des Landes; sie wurden entweder ausgeschlossen oder verließen die Partei aus
Enttäuschung. Von einer maoistischen Sekte in den siebziger Jahren
entwickelte sich die SP in den neunziger und frühen zweitausender Jahren zu
einer linken sozialdemokratischen Massenpartei. Die SP erregte eine gewisse
internationale Aufmerksamkeit, als sie 2006 kurzzeitig zu einer der
wichtigsten Parteien des Landes zu werden schien. Aber seit diesem Höhepunkt
stagnierte die Partei und ging dann zurück. Bei den nationalen Wahlen 2021
gewann sie weniger als zehn Prozent der Stimmen und verlor fünf ihrer 14
Sitze. Die Mitgliederzahlen sind von einem Höchststand von 50 000 um das
Jahr 2008 auf heute 32 000 gesunken. Besonders besorgniserregend für eine
linke Partei ist, dass Umfragen darauf hindeuten, dass die Wählerbasis der
SP jetzt zu den ältesten des Landes gehört.

 

Das Unbehagen führte zu einigen Spannungen in der straff geführten Partei.
Einige Parteiführer*innen versuchen, die Bereitschaft, Regierungskoalitionen
mit rechten Parteien einzugehen (wie es die SP zuvor schon auf regionaler
und kommunaler Ebene getan hat), mit einem aktivistischeren Profil
auszugleichen. Andere, darunter Parteichefin Lilian Marijnissen, streben ein
respektableres, moderateres Image der Partei an. Die wirklichen politischen
Unterschiede sind gering; die Forderungen beispielsweise bleiben innerhalb
der Grenzen, die in den EU-Standards für „freien und fairen Wettbewerb“ und
durch die Haushalte festgelegt sind.

 

In den letzten Jahren ist die SP nach rechts gedriftet, was sich zum Teil
durch ihre Ausrichtung auf Wahlen erklären lässt. Angesichts von
Stimmeneinbußen kämpft die SP darum, ihr Image als Protestpartei mit
Signalen nach rechts zu verbinden, um ihre „realistische“ und „seriöse“
Natur zu beweisen. Themen, die nach Meinung der Leitung unter potenziellen
Wählern umstritten sein könnten, werden ausgelassen. Eine gewisse
Arbeitertümelei, die zum Teil aus ihrer maoistischen Vergangenheit stammt
und nun durch Umfragen gestärkt wird, die das angebliche Potenzial einer
„sozial konservativen, aber wirtschaftlich fortschrittlichen“ Orientierung
aufzeigen, bedeutet, dass Klimagerechtigkeit, Antirassismus und Feminismus
nicht aufgegriffen werden. [1] Typisch war eine Erklärung von
SP-Parlamentariern Anfang dieses Jahres, dass sie bei Themen wie Klima und
Einwanderung „eher konservativ als links“ seien. Die Orientierung der SP auf
Wahlen führt auch zu einer Fokussierung auf Alltagsfragen wie zum Beispiel
die Erhöhung des Mindestlohns. Und vor allem Erklärungen der Parteiführung,
dass die SP den Eintritt in künftige Koalitionen mit der rechtsorientierten
VVD von Ministerpräsident Mark Rutte nicht ausschließe, ließen bei linkeren
Mitgliedern die Nackenhaare sträuben.

 

Unter den SP-Mitgliedern nahm die Unzufriedenheit zu. Wenig überraschend
herrschte vor allem in ROOD, dem Jugendflügel der Partei, eine radikalere
Stimmung. ROOD-Mitglieder wollten, wie auch andere radikale
Parteimitglieder, mehr Gewicht auf Aktivismus, mutigere Forderungen und mehr
Engagement in Bewegungen wie zu Klimagerechtigkeit und Antirassismus. Und
ganz sicher keine Bündnisse mit der traditionellen Partei des
Klassenfeindes: der VVD. Ende 2020 gab die ROOD-Führung eine Erklärung ab,
dass sie sich gegen die Bildung von Koalitionen mit der VVD ausspricht. Als
Reaktion darauf „entdeckte“ die SP-Führung, dass mehrere führende
ROOD-Aktivisten Unterstützer der Kommunistischen Plattform waren, einer
Gruppe, die den Herausgebern des /Weekly Worker/ in Großbritannien politisch
nahesteht. Die Parteiführung bezeichnete die Plattform dann als „Partei“ –
was bedeutet, dass Mitglieder ausgeschlossen werden können, da die SP ein
Verbot für Doppelmitgliedschaften hat. So begann ein Prozess eskalierender
Ausschlüsse. Manchmal wurden ganze Ortsgruppen ausgeschlossen, ebenso die
gesamte Jugendorganisation, als ROOD-Mitglieder sich weigerten, die
Unterstützung von ausgeschlossenen Aktivisten zurückzuziehen. Andere gingen
angesichts der bürokratischen Manöver der SP-Führung, die jeden Kompromiss
ablehnte, empört von selbst. Einige hundert Mitglieder, darunter viele sehr
aktive, befanden sich plötzlich außerhalb der Partei.

 

Die Risse in der SP ähnelten manchmal einem Generationenkonflikt. Für viele
sich radikalisierende junge Menschen stehen Antirassismus sowie Feminismus
und Trans-Rechte im Mittelpunkt, aber die SP hat zu solchen Themen wenig zu
sagen. Für eine Generation, die in einer vom Klimawandel dramatisch
betroffenen Welt leben muss, ist Ökologie kein zweitrangiges Thema, das
aufgeschoben werden kann. Neben der Generationenfrage spielte auch die
Geographie eine Rolle. Vor allem SP-Mitglieder in größeren Städten sind mit
der Realität einer sich wandelnden Arbeiterklasse und der Notwendigkeit
konfrontiert, sich dem Rassismus zu widersetzen, gerade um eine vielfältige
Klasse vereinen zu können. Ganz allgemein haben schärfere soziale
Widersprüche wie eine große Wohnraumknappheit und prekäre Arbeitsbedingungen
zu einer erneuten Anerkennung der Bedeutung der Klasse und von
Klassenwidersprüchen geführt, die nicht nur durch Wahlen ausgekämpft werden
können. Die Menschen suchen nach radikalen Lösungen, aber im politischen
Terrain finden sie nur wenige, die diese unterstützen.

 

 

POLITISCHE SCHRITTE VORWÄRTS

 

Politisch obdachlos geworden bildeten die ausgeschlossenen Sozialist*innenen
neue Netzwerke und Gruppen. In Utrecht, Rotterdam und Amsterdam
organisierten sich ehemalige SP-Mitglieder in neuen lokalen Parteien, um an
den Kommunalwahlen im März 2022 teilzunehmen. ROOD bildete sich als
unabhängige sozialistische Jugendorganisation neu und verabschiedete ein
neues, radikales Programm. Der neue Text beschreibt den Wunsch von ROOD,
„den Kampf der Arbeiterbewegung mit dem Kampf für den Sozialismus“ zu
verbinden“. „Wir müssen die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung
sammeln, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und eine demokratische
Republik unter Führung der arbeitenden Klasse zu schaffen. Dieser
Machtwechsel, in dem die Arbeiterklasse die Institutionen des gegenwärtigen
Systems erobert, abwickelt und ersetzt, ist die Revolution, für die wir
kämpfen.“

 

Gemeinsam mit einigen regionalen Netzwerken und einer Reihe anderer
Sozialisten, darunter niederländische Unterstützer*innen der Vierten
Internationale, beschlossen diese Gruppen am Sonntag, den Grundstein für
eine künftige neue sozialistische Partei zu legen, mit ROOD als eng
verbündeter Jugendbewegung.

 

Was wird die Grundlage der neuen Organisation sein? In De Socialisten
betrachten sich viele als Marxisten, sogar als Kommunisten und
Revolutionäre. Als der ehemalige SP-Europarlamentarier Erik Meijer, der
ebenfalls ausgeschlossen wurde und jetzt eine zentrale Figur in De
Socialisten ist, sich zum „linken Sozialdemokraten“ erklärte, ging ein
leichtes Raunen der Überraschung durch den Raum. Der Wunsch nach
Radikalismus ist stark, aber unter „Sozialismus“ werden inzwischen viele
verschiedene Dinge verstanden.

 

Eine positive Entwicklung ist, dass die Diskussionen und Dokumente, die am
Sonntag angenommen wurden, zeigen, dass es große Übereinstimmung über
gemeinsame radikale Prinzipien gibt. Der Sozialismus wird als politisches
Projekt für die Transformation der Gesellschaft beschrieben und als Ziel
eines Kampfes, der sich aus widersprüchlichen Klasseninteressen ergibt. Das
ist etwas ganz anderes als das vage ethische Ideal, das die SP „Sozialismus“
nennt. Die angenommenen Grundsätze sind auch in anderen Aspekten recht weit
fortgeschritten. Es wird anerkannt, dass verschiedene soziale Kämpfe
artikuliert werden müssen, wie Antirassismus und Feminismus, die Weigerung,
„klassenkollaborationistische“ Bündnisse zu unterstützen, und die Ablehnung
des Aufbaus von Frontorganisationen, anstatt sich an bestehenden sozialen
Bewegungen zu beteiligen. Das starke Beharren auf der Notwendigkeit einer
internen Demokratie und einer offenen Debatte ist ebenfalls sehr positiv.

 

 

KÜNFTIGE AUFGABEN

 

Künftige Diskussionen müssen Positionen zu Themen wie der Haltung der
künftigen Partei gegenüber den Institutionen des Staates sowie der
Gewerkschaftsbürokratie und Fragen der Strategie und der Rolle verschiedener
Formen der Selbstbefreiung im Kampf klären. In der kommenden Periode müssen
De Socialisten zwischen der Skylla, zu langsam voranzugehen und Enttäuschung
und Verlust von Aktivist*innen zu riskieren, und der Charybdis, voranzueilen
und die organisatorische Schwäche durch individuelle Anstrengungen besonders
engagierter zu kompensieren, manövrieren.

 

Die Notwendigkeit einer radikalsozialistischen Bewegung ist angesichts der
rasch steigenden Lebenshaltungskosten und des Wachstums rechtsextremer
Kräfte klar. Die Entwicklung der SP bedeutet, dass sich auf der Linken eine
Lücke entstanden ist. Aber das ist nur ein Potenzial, keine
Selbstverständlichkeit. Örtliche Gruppen von De Socialisten beispielsweise
gewannen Anfang des Jahres keine Sitze bei den Kommunalwahlen. Viele
Aktivisten hatten dieses Ergebnis bei einer Wahl, bei der kaum gebildete
Gruppen mit etablierten Parteien konkurrierten, bereits erwartet und
betrachteten die Kampagne nur als einen ersten Schritt, um das neue Projekt
sichtbar zu machen.

 

De Socialisten sind auch nicht die einzige neue Kraft auf dem linken Flügel
der niederländischen Politik. Seit den Parlamentswahlen 2021 ist die junge
Partei BIJ1 (in niederländischer Aussprache „gemeinsam“) [2] durch einen
Sitz im Parlament und lokal in einigen größeren Städten vertreten. Für BIJ1,
denen es gelungen ist, in einigen der größeren Städte zusätzliche Sitze zu
gewinnen, waren die Wahlen im März ein Erfolg. Auf nationaler Ebene steht
BIJ1 eindeutig auf der radikalen Linken, obwohl ihre Ideologie ziemlich
heterogen ist. Die Partei beschreibt ihre Politik als die der „radikalen
Gleichheit“ und kombiniert Begriffe, die dem intersektionalen Feminismus und
dem Antirassismus entlehnt sind, in einer Ausrichtung, die
antikapitalistisch ist, ohne explizit sozialistisch zu sein. Die Partei hat
sich weitgehend auf von der SP ignorierten Themen aufgebaut, und einige
ihrer Aktivisten haben ihre Wurzeln in der sozialistischen Linken. In
größeren Städten war sie erfolgreich, Unterstützung bei Gruppen zu finden,
die zuvor von den extremen Linken nicht erreicht wurden, insbesondere bei
Schwarzen und People of color. Aber die Partei erlebt schwierige Kämpfe
zwischen einem radikalen linken Flügel und Befürwortern liberalerer
Interpretationen von Antirassismus. Ein am Sonntag angenommener
Entschließungsantrag forderte die Sondierung einer möglichen künftigen
Zusammenarbeit zwischen BIJ1 und De Socialisten.

 

Das Treffen in Utrecht zeigte das reale Potenzial für eine neue
sozialistische Organisation auf radikaler Basis. Eine klare Aufgabe für die
neue Organisation besteht nun darin, eine Organisation von Aktivisten
aufzubauen, die in sozialen Kämpfen verwurzelt ist. Unter den meist jungen
Teilnehmern gab es ein starkes Gefühl der Begeisterung. Von ihrer
ursprünglichen Basis in Utrecht, Amsterdam, Rotterdam und anderswo aus kann
eine neue Bewegung aufgebaut werden, die sozialistische Ideen in soziale
Kämpfe und Mobilisierungen einbringen wird.

 

Die Versammlung war ein Schritt nach vorn auf einem langen Weg. So, wie die
Genossen es in der niederländischen Version der Internationale sangen, hat
„der Wunsch uns bewegt“ – ein Wunsch nach radikaler Veränderung und nach
einer Organisation, die dazu beiträgt.

 

 

 

 

30. September 2022

 

Quelle: International Viewpoint
[https://internationalviewpoint.org/spip.php?article7844]

Übersetzung und Fußnoten: Björn Mertens

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 1/2023 

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[1]  Auch die schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) hat – ohne großen
Erfolg – eine ähnliche Orientierung verfolgt. Siehe: Kjell Östberg:
Politisches Erdbeben [https://www.inprekorr.de/612-swe.htm], /die
internationale/ Nr. 6/2022 (November/Dezember 2022).

[2]  „BIJ1“ wurde Ende 2016 als „Artikel 1“ unter Bezugnahme auf den
entsprechenden Artikel der niederländischen Verfassung gegründet, der
Diskriminierung und Rassismus verbietet. Wegen einer Namenskollision musste
sie ihren Namen ändern, ohne auf die „1“ zu verzichten. Zu den Mitgliedern
zählt auch die feministische Schriftstellerin und frühere SP-Senatorin Anja
Meulenbelt. Siehe: Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/BIJ1]. Website:
bij1.org [https://bij1.org/]

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