[IPK] Zwei Konflikte zwischen Recht und Politik: US-Krieg gegen Nicaragua, Russlands Überfall auf die Ukraine

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Do Sep 15 19:30:15 CEST 2022


Ukraine/Nikaragua:

Zwei Konflikte zwischen Recht und Politik
Online unter: https://www.inprekorr.de/610-nika.htm

US-Krieg gegen Nicaragua, Russlands Überfall auf die Ukraine


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„Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen, gibt es in Bezug auf
Nicaragua und die Ukraine doch einige Fragestellungen, die strukturell
miteinander vergleichbar sind. Möglicherweise können wir daher aus den
Erfahrungen Nicaraguas auch Lehren ziehen, die für die Beurteilung der
heutigen Situation in der Ukraine hilfreich sind“, schreibt der Autor zur
Einleitung seiner zehn Thesen (s. u.). 

 

 

Von Matthias Schindler

 

 

Am Ende unzähliger Demonstrationen im sandinistischen Nicaragua der 1980er
Jahre wurde von der Tribüne der Ruf skandiert „Nationale Leitung“ und die
tausendstimmige Antwort der Menge lautete „Befiehl!“ Das nicaraguanische
Volk war bereit und entschlossen, seine nationale Souveränität gegen die
illegale US-Aggression zu verteidigen. Aktuell zeigt auch das Volk der
Ukraine eine beeindruckende Bereitschaft, sein Land gegen den kriminellen
Angriffskrieg Russlands zu verteidigen. Nicaragua und die Ukraine sind zwei
unterschiedliche Fälle zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen
geopolitischen Situationen. Aber es gibt auch strukturelle Gemeinsamkeiten.
In beiden Fällen handelt es sich um den Krieg einer hoch überlegenen
imperialen Macht gegen einen souveränen Staat, der jedes Recht hat, sich
gegen diese militärische Aggression zu verteidigen. Es geht in beiden Fällen
auch um das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Mitteln, um
ethnische Minderheiten und auch um die internationale Solidarität. Nicaragua
ist ein Referenzpunkt, über den in der Linken möglicherweise eine größere
Einigkeit herrscht als in Bezug auf den aktuellen Krieg in der Ukraine.
Daher möchte ich hier am Fall Nicaragua einige Aspekte verdeutlichen, die
auch im aktuell stattfindenden Ukrainekrieg eine große Bedeutung haben.

 

 

US-ANGRIFF AUF NICARAGUA

 

Während der fast elf Jahre dauernden Sandinistischen Revolution (1979–1990)
endeten alle Veranstaltungen und Kundgebungen mit dem gleichen Ritual. Der
letzte Redner – Rednerinnen gab es nahezu keine – rief in die Menge:
„Sandino [1] lebt …“ und die Anwesenden gaben mit geballten Fäusten zurück:
„Der Kampf geht weiter!“ Dann folgten im gleichen Wechselspiel zwischen der
Tribüne und dem Volk die Parolen: „Nationale Leitung …“ – „Befiehl!“ und
„Freies Vaterland …“ – „oder Tod!“ und zum Schluss: „Vaterland oder Tod …“ –
„Wir werden siegen!“ Als die letzte Parole verhallt war, kam es für einen
Moment zu einer ergreifenden totalen Stille, bevor über die großen
Lautsprecheranlagen die Hymne der FSLN intoniert wurde. Sie beginnt mit den
Worten „Vorwärts Genossen, marschieren wir der Revolution entgegen …“ und
wurde von den Anwesenden voller Inbrunst mitgesungen. In der Menge Tausende
begeisterter Jugendlicher, viele in ihren Uniformen der Miliz oder der
Armee, auf der Tribüne die Kommandanten mit ihren olivgrünen Anzügen und
neben ihnen die Mütter der im Krieg gegen die Contras/ [2]/ gefallenen
„Helden und Märtyrer“.

 

Für uns Internationalisten waren das beeindruckende Momente. Wir waren in
Nicaragua, um unsere Solidarität mit der Sandinistischen Revolution zum
Ausdruck zu bringen. [3] Doch was war unsere Rolle in Nicaragua? Was konnten
wir dort tun? Was sollten wir dort tun? Und was sollten wir nicht tun?

 

Ich habe an unzähligen solcher Veranstaltungen teilgenommen und war tief
davon überzeugt, die richtige Sache zu unterstützen. Aber als die
Kommandanten von der Tribüne skandierten „Nationale Leitung“, habe ich nicht
ein einziges Mal „Befiehl!“ gerufen. Trotz all meiner Begeisterung und
meines Engagements, nicht ein einziges Mal! Dafür gab es mehrere Gründe.
Erstens handelte es sich um die Revolution der Menschen Nicaraguas. Die
Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) war die Führung Nicaraguas, nicht
meine. Zweitens war ich solidarisch und wollte die Revolution unterstützen,
aber ich wollte nicht mit der Waffe in der Hand kämpfen. Denn dazu fehlte
mir nicht nur die dazu nötige Ausbildung, sondern ich hatte auch Angst
davor, in den Krieg zu ziehen. Drittens standen wir Internationalisten
dennoch allein schon durch unsere bloße Anwesenheit im Lande auch als
Zivilisten unter Bedrohung der Contra. [4] Aber dieses Risiko sind wir
bewusst eingegangen, weil wir von der Angemessenheit und Richtigkeit unseres
dortigen zivilen Arbeitseinsatzes überzeugt waren.

 

Unsere politische Unabhängigkeit von der FSLN ging so weit, dass wir deren
Regierungspolitik offen kritisierten, als sie zu Beginn der 1980er Jahre
dazu überging, die ethnischen Minderheiten an der nicaraguanischen
Karibikküste militärisch zu unterdrücken. Wir haben auch wiederholt
öffentlich auf demokratische Mängel im politischen System der Sandinisten
hingewiesen. Darin sahen wir keinen Widerspruch zu unserer Solidarität mit
Nicaragua gegenüber der imperialistischen Aggression der USA.

 

 

ETHNISCHE MINDERHEITEN IM ANGEGRIFFENEN LAND

 

Nicaragua ist – genauso, wie die Ukraine – ein Vielvölkerstaat. An der
atlantischen Küste Nicaraguas leben verschiedene ethnische Minderheiten, die
sehr unterschiedliche sprachliche und kulturelle Ausprägungen gegenüber der
im pazifischen Raum lebenden Menschen aufweisen. In den ersten Jahren der
Sandinistischen Revolution forderten sie – mit starker propagandistischer
Unterstützung der USA – eine Abtrennung von Nicaragua und den Aufbau eines
eigenen Staates. Nach der anfänglichen militärischen Unterdrückung dieser
Bestrebungen ging die Regierung der FSLN jedoch dazu über, die Waffen ruhen
zu lassen und mit den Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen
ethnischen Gruppen über deren Forderungen zu verhandeln. Dies führte
schließlich dazu, dass sehr weitgehende Autonomierechte für die Bevölkerung
der Karibikküste vereinbart wurden. In der Folge wurde 1986 sogar in einem
verfassunggebenden Prozess ein Autonomiestatut verabschiedet, das in Bezug
auf die Autonomierechte ethnischer Minderheiten einen weltweiten
Vorbildcharakter hatte. Die Befriedung dieses Konfliktes innerhalb
Nicaraguas gelang also über den Weg, die berechtigten Interessen der
minderheitlichen Volksgruppen anzuerkennen und eine gemeinsame Lösung
innerhalb der bestehenden nationalstaatlichen Grenzen zu finden.

 

 

DIE KOSTEN DES KRIEGES

 

Es gab nicht irgendeinen Zweifel daran, dass die USA und die von ihnen
ausgerüsteten und befehligten Contras einen völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg gegen Nicaragua führten. Daher hatte Nicaragua auch das Recht,
sich zu verteidigen. Das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 51 der
Charta der Vereinten Nationen ist das einzige Recht, das Staaten erlaubt,
militärische Mittel anzuwenden. Aber aus dem Recht auf Selbstverteidigung
folgt nicht automatisch, dass es auch am besten für das angegriffene Land
und seine Bevölkerung ist, zu den Waffen zu greifen. 

 

Die verantwortliche Führung muss sich immer auch der Frage stellen, ob die
potentiellen materiellen und menschlichen Verluste eines
Verteidigungskrieges in einem angemessenen Verhältnis zu den möglichen
Ergebnissen einer solchen Konfrontation stehen. In diesem Krieg sind – auf
beiden Seiten und die Zivilisten miteingeschlossen – über 30 000 überwiegend
junge Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner zu Tode gekommen. Das würde, auf
das heutige Deutschland übertragen, den Tod von 800 000 Menschen bedeuten!

 

Ich habe in den letzten Jahren in Nicaragua mit vielen Menschen gesprochen,
die zu jener Jugendgeneration gehörten. Einer von ihnen musste
beispielsweise als Verantwortlicher der Sandinistischen Jugend zu den
Familien gehen, um ihnen die Todesnachricht über ihre gefallenen Söhne zu
überbringen. Eine andere war in der nationalen Leitung der Sandinistischen
Jugend und leidet heute noch darunter, dass sie ihre Altersgenossinnen und
-genossen dazu aufgerufen hat, in den Krieg zu ziehen, aus dem viele von
ihnen nicht mehr lebend oder nur verstümmelt zurückgekommen sind. Selbst
einer der Kommandanten der FSLN hat inzwischen öffentlich die Frage
gestellt, ob der Blutpreis, der zur Verteidigung der Revolution bezahlt
werden musste, nicht zu hoch gewesen sei. Dies bedeutet nicht zwangsläufig,
die Legitimität einer solchen Verteidigung in Zweifel zu ziehen. Aber es
bedeutet, dass diese Frage überhaupt gestellt werden muss.

 

 

ZIVILE SOLIDARITÄT IM BEWAFFNETEN KAMPF

 

Die Sandinisten haben vielfach versucht, die materiellen und menschlichen
Kosten der Verteidigung so gering wie möglich zu halten. Sie unternahmen auf
den verschiedensten Ebenen politische Initiativen, um die kriegerische
Dimension dieser Auseinandersetzung soweit es ging zu minimieren. Dazu
gehörten auch regionale Friedensverhandlungen, internationale
Friedensinitiativen und vor allem auch Vermittlungsversuche mit den USA.
Damals ließ der Westen das tausendfach unterlegene Nicaragua am langen Arm
verhungern.

 

Es gab auch keinerlei Zweifel daran, dass Nicaragua das Recht hatte, andere
Länder um wirtschaftliche und militärische Unterstützung zu bitten. Aber die
viel beschworene „internationale Gemeinschaft“ zeigte – mit Ausnahme der
Sowjetunion und Kubas – Nicaragua die kalte Schulter. [5] Wir
Internationalisten hätten jedes Recht gehabt, am bewaffneten Kampf zur
Verteidigung der nationalen Souveränität Nicaraguas teilzunehmen. [6] Aber
das Recht zum bewaffneten (Verteidigungs-) Kampf bedeutet nicht automatisch,
dass es auch die sinnvollste und klügste Wahl ist, daran teilzunehmen.

 

In jener Situation sind wir zu Tausenden aus aller Welt nach Nicaragua
gereist, um dort den Aufbau des Landes mit unserem zivilen Arbeitseinsatz zu
unterstützen. Wir wollten international auf die Situation in Nicaragua
hinweisen. Und wir verfolgten auch das Ziel, durch unsere Anwesenheit im
Land – als menschliche Schutzschilder – die militärische Aggression der USA
politisch maximal zu erschweren. Das Konzept dieser Arbeitseinsätze war
seitens der sandinistischen Führung und auch seitens der ausländischen
Internationalisten ausdrücklich, politisch auf die USA Druck auszuüben, um
ihre militärischen Aktivitäten einzustellen. 

 

Die sandinistische Regierung zog gleichzeitig – als politische Komponente
ihrer Verteidigung – vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag
[7] und klagte die USA an, mit ihrem Krieg gegen Nicaragua das Völkerrecht
zu brechen. Der Klage Nicaraguas wurde 1986 in einem aufsehenerregenden
Urteil des IGH in allen Punkten recht gegeben. Die USA wurden wegen der von
ihnen angerichteten Zerstörungen zu Reparationszahlungen in Milliardenhöhe
verurteilt. [8] Dieses Urteil hat mit dazu beigetragen, dass der US-Kongress
die Geldmittel für die Contras deutlich reduziert und auf „humanitäre“ Hilfe
beschränkt hat.

 

 

DAS PROBLEM DER DOPPELTEN STANDARDS

 

Die Ukraine könnte natürlich ohne weiteres ebenfalls vor den IGH ziehen und
eine Klage gegen Russland einreichen. Ein solcher Prozess würde auch mit
Sicherheit zu dem gleichen Urteil führen, das der IGH in den 1980er Jahren
im Fall Nicaragua vs. USA gefällt hat: Der IGH würde die sofortige
Einstellung der Aggression und den sofortigen und vollständigen Rückzug der
russischen Truppen verlangen, er würde Russland für schuldig befinden, einen
schweren Bruch des Internationalen Rechts begangen zu haben, und er würde
Russland dazu verurteilen, umfassende Reparationen an die Ukraine zu zahlen.
Das Problem dabei ist jedoch, dass die USA – ebenso wie Russland – die
Zuständigkeit des IGH für die internationale Rechtsprechung nicht
anerkennen. Als in dem Verfahren Nicaragua vs. USA deutlich wurde, dass der
IGH diesen Fall überhaupt annehmen und dann auch noch ein Urteil gegen die
USA fällen würde, trat Washington sofort aus diesem Rechtssystem aus und ist
ihm bis heute auch nicht wieder beigetreten.

 

Putin ist spätestens mit seinem Befehl zum Angriffskrieg gegen die Ukraine
und zusätzlich auch noch mit vielen weiteren militärischen Aktionen, die in
schwerster Weise gegen die Genfer Konventionen [9] verstoßen, zu einem
Kriegsverbrecher geworden. Im öffentlichen Diskurs wurde vielfach darüber
spekuliert, ob diese Bezeichnung angemessen sei und wer sie verwenden dürfe.
Dabei gibt es auch hierfür eine Institution, die dafür zuständig ist, solche
Fälle zu untersuchen und über sie Recht zu sprechen. Das ist der
Internationale Strafgerichtshof (IStGH) [10] in Den Haag, der bereits in
vielen afrikanischen Fällen aktiv geworden ist. Angesichts der bisher vom
IStGH gefällten Urteile kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass
er in einem Verfahren auch Putin als Kriegsverbrecher verurteilen würde.
Aber auch hier gibt es wieder das Problem, dass neben diversen anderen
Staaten weder die USA noch Russland die Zuständigkeit dieses Gerichtshofes
anerkennen. Der Grund dafür besteht darin, dass im Falle seiner Anerkennung
auch Verfahren gegen ehemalige US-Präsidenten, z. B. Bush jr., Carter oder
Obama, wegen der von ihnen angeordneten Kriegsverbrechen im Irak und anderen
Ländern drohen würden.

 

Die „westliche Staatengemeinschaft“ hat also das Problem, dass sie
einerseits zwar den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilt, dass sie
andererseits aber nicht auf die Institutionen zurückgreifen kann (oder
will), die eigentlich dafür geschaffen wurden, um den internationalen
Frieden zu sichern oder wieder herzustellen. China stellt sich nicht gegen
Putin, weil es ansonsten selbst die Legitimität seiner potenziell
militärischen Optionen gegen Taiwan in Zweifel ziehen würde. Der Westen
schreckt davor zurück, den IGH oder den IStGH anzurufen, weil er ansonsten
fürchten müsste, dass nicht nur der Überfall auf die Ukraine, sondern auch
die Kriege in Vietnam, im Irak, in Afghanistan, in Syrien u.a.m. als
Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilt würden (so, wie es im Falle
Nicaragua ja auch tatsächlich passiert ist).

 

Hier spielt das von allen Seiten – den USA, Europa, Russland, China u.a. –
für sich in Anspruch genommene Prinzip der doppelten Standards eine zentrale
Rolle. Das Internationale Recht wird immer nur dann respektiert, wenn es dem
eigenen Land nützt. Wenn es nicht mit den aktuellen Interessen einer
Regierung übereinstimmt, wird es für ungültig erklärt. Doppelte Standards
haben unter anderem zwei äußerst negative Konsequenzen. Einerseits
unterminieren sie jegliche Glaubwürdigkeit gegenüber einem Rechtssystem.
Andererseits sind auf ihrer Grundlage keine friedlichen Lösungen für
kriegerische Konflikte möglich. Daher besteht eine der wichtigsten
Herausforderungen der aktuellen Politik darin, dieses System der doppelten
Standards zu überwinden.

 

 

REVOLUTION – KRIEG – FRIEDEN – DIKTATUR 

 

Nachdem Nicaragua 1986 seinen Prozess gegen die USA vor dem IGH gewonnen
hatte, hat die nicaraguanische Regierung neben der militärischen
Verteidigung ihre politischen Bemühungen um eine friedliche Beilegung des
Konfliktes intensiviert. Denn es wurde immer deutlicher, dass die
US-geführten Contras zwar keine Chance hatten, das Land zu erobern, dass es
der Regierung aber auch nicht gelingen würde, sie militärisch vollständig zu
besiegen. Es kam zu einem zermürbenden Bürgerkrieg mit immer mehr Opfern,
der nur politisch beendet werden konnte. So wurde schließlich 1988 ein
Friedensvertrag [11] zwischen Regierung und Contra unterzeichnet, der unter
anderem auch demokratische Wahlen versprach, obwohl Nicaragua nach wie vor
von der Contra und den USA wirtschaftlich und militärisch bedroht wurde. Die
FSLN hat sich an diese Vereinbarung gehalten und die dann von ihr
organisierten Wahlen im Jahr 1990 verloren. Letztlich haben die Sandinisten
– obwohl das nicht ihre Absicht gewesen ist – das Blutvergießen beendet und
dies mit der Niederlage ihrer Revolution bezahlt.

 

War es damals falsch gewesen, dass die FSLN sich nach einem jahrelangen und
opferreichen Bürgerkrieg für den Frieden und für das Leben entschieden hat?
Hätte sie weiterkämpfen sollen? Hätte die FSLN die Jugend des Landes
weiterhin in den Tod schicken und das Land weiter zerstören lassen sollen?
Das Recht wäre auf ihrer Seite gewesen. Aber auch die politische Klugheit?
Die menschliche Ethik?

 

Die FSLN hatte 17 Jahre als Oppositionspartei zu überstehen, bis sie im Jahr
2007 durch Wahlen erneut die Präsidentschaft in Nicaragua übernahm. Aber
leider trug die FSLN auf Grund ihrer Erfahrungen mit den „westlichen Werten“
eine politische Erblast mit sich herum, die mit einem tiefen Misstrauen
gegenüber politischen Freiheiten und demokratischen Methoden verbunden war.
In den dann folgenden Jahren verfestigte sich unter dem Präsidenten Ortega
nach und nach eine Diktatur, die schließlich im Jahr 2018 zu einer äußerst
gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Massenproteste mit über 300
Todesopfern führte. Der Kommandant, wie er heute noch genannt wird, hat sich
zum Herren über Leben und Tod erhoben. Die demokratischen und freiheitlichen
Elemente der Sandinistischen Revolution der 1980er Jahre hat er mit den
Füßen zertreten und deren autoritären Elemente zu einem perversen Exzess
seines absoluten Herrschertums zugespitzt.

 

Der gnadenlose und illegale Krieg der USA gegen Nicaragua war einer der
wichtigsten Gründe dafür, dass sich die autoritären Züge der FSLN bereits in
den 1980er Jahren verstärkten und dass ihr Vertrauen in demokratische
Strukturen innerhalb ihrer eigenen Partei wie auch innerhalb der
Gesellschaft ständig schwand. Eine weitere Ursache für den diktatorischen
Niedergang der FSLN ist jedoch auch schon in ihrer Programmatik zu finden,
die ein mangelndes Verständnis für die fundamentale Bedeutung demokratischer
Strukturen in politischen Prozessen aufweist. Diese Analyse rechtfertigt die
politische Degeneration der FSLN in keiner Weise. Aber sie kann dazu
beitragen, diesen Prozess zu erklären.

 

 

SOLIDARITÄT MIT DEN OPFERN INTERNATIONALER AGGRESSION

 

Der Sandinismus erschien einer ganzen politischen Generation als eine
offene, pluralistische, demokratische und humane Bewegung. Dennoch ist aus
ihm eine der brutalsten Diktaturen hervorgegangen, die es gegenwärtig auf
der Welt gibt. Eine kritische Analyse der nicaraguanischen Erfahrung ist vor
allem deswegen von großer Bedeutung, um vergleichbare politische
Katastrophen nicht erneut zu wiederholen.

 

Das Parolenritual der Sandinistischen Revolution lautete: „Nationale Führung
…“ – „Befiehl!“ und endete mit: „Vaterland oder Tod!“ – „Wir werden siegen!“
Sicherlich waren diese Parolen, die unter dem Eindruck der brutalen
US-Aggression entstanden waren, Ausdruck einer tief verankerten
revolutionären Stimmung im Nicaragua der 1980er Jahre. Aber dennoch zeigte
sich in ihnen auch schon damals ein autoritärer Vertikalismus und eine
geradezu messianische Bereitschaft der FSLN-Führung, das eigene Volk – vor
allem die eigene Jugend – für das Vaterland und die Revolution in den Tod zu
schicken. Innerhalb der Reste der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua wird
heute immer wieder die Frage aufgeworfen, was hätten wir anders machen
sollen? Waren wir zu unkritisch? Hätten wir mehr Distanz zur FSLN und ihrer
Basis wahren sollen? Bisher haben wir darauf keine klare Antwort gefunden.

 

Aber wir müssen uns dieser Frage stellen. Insbesondere auch dann, wenn wir
heute über die Situation in der Ukraine sprechen und darüber nachdenken,
wohin dieser Krieg einmal führen könnte. Hören wir aktuell nicht auch aus
der Ukraine martialische Aufrufe, für die Nation den Heldentod zu sterben?
Könnte es sein, dass viele Leute, die die Ukraine unterstützen wollen, durch
den vorherrschenden westlichen Diskurs in eine zu enge politische Nähe zur
ukrainischen Führung geraten sind, die sie in einigen Jahren tief bereuen
werden?

 

Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen, gibt es in Bezug auf
Nicaragua und die Ukraine doch einige Fragestellungen, die strukturell
miteinander vergleichbar sind. Möglicherweise können wir daher aus den
Erfahrungen Nicaraguas auch Lehren ziehen, die für die Beurteilung der
heutigen Situation in der Ukraine hilfreich sind.

 

/Erstens:/ Eine differenzierte und kritische Analyse eines
gesellschaftlichen Konfliktes bedeutet in keiner Weise, ein politisches
Verbrechen gutzuheißen. Zu verstehen, wie es zu einer militärischen
Aggression kommt, heißt nicht, diese zu entschuldigen. Sie zu
kontextualisieren, bedeutet nicht, sie zu relativieren. Die Erklärung einer
Situation ist nicht das gleiche, wie ihre Rechtfertigung.

 

/Zweitens:/ Nach dem Völkerrecht hat kein Staat – nicht die USA oder
Russland, und auch nicht China, Saudi-Arabien, Marokko oder sonst wer – das
Recht, einen anderen Staat militärisch anzugreifen oder zu besetzen.

 

/Drittens:/ Eine kriegerische Aggression muss, wann und wo auch immer sie
stattfinden sollte, sofort und kategorisch verurteilt werden. Eine solche
Verurteilung darf nicht irgendwelchen anderen wirtschaftlichen, politischen
oder geostrategischen Erwägungen untergeordnet werden. Das
Interventionsverbot des Völkerrechts muss ohne Ausnahme von allen Staaten
respektiert werden.

 

/Viertens:/ Ein angegriffener Staat besitzt das ebenfalls im Völkerrecht
verankerte Recht auf militärische Selbstverteidigung. Dieses Recht hat jeder
Staat, völlig unabhängig davon, ob er gerade den Sozialismus aufbauen will
oder ob er von Oligarchen beherrscht wird und einen Präsidenten besitzt,
dessen Steuerflucht in den Pandora-Papers dokumentiert ist.

 

/Fünftens:/ Aus diesem Recht folgt jedoch nicht automatisch auch die Pflicht
zur militärischen Verteidigung. Eine Regierung muss sich auch immer der
Frage stellen, ob sie einen Verteidigungskrieg und die mit ihm verbundenen
materiellen Zerstörungen und menschlichen Tragödien für angemessen hält, und
ob sie diese Opfer auch tatsächlich politisch und moralisch verantworten
kann und will.

 

/Sechstens:/ Ein angegriffenes Land hat jegliches Recht, das Ausland um
Hilfe für die eigene Verteidigung zu bitten. Aber auch hier folgt daraus
nicht automatisch die Pflicht, militärische Hilfe zu leisten. Auf jeden Fall
muss vorher geprüft werden, ob es nicht andere und bessere, zivile Optionen
gibt, um das angegriffene Land zu unterstützen, ohne damit gleichzeitig eine
weitere Eskalation des Krieges zu provozieren.

 

/Siebtens:/ Diejenigen staatlichen oder auch zivilen Institutionen, die
einem anderen Land bei seiner Selbstverteidigung helfen, sollten immer
darauf achten, dass sie ihre politische Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
bewahren. Solidarität bei der Selbstverteidigung muss nicht unbedingt
heißen, sich gleichzeitig auch mit den politischen Orientierungen der
angegriffenen Regierung zu identifizieren. So, wie die Solidaritätsbewegung
mit Nicaragua die sandinistische Regierung einst offen kritisiert hat, wäre
es aktuell genauso wichtig, auch auf die Mängel der Demokratie in der
Ukraine hinzuweisen. Nicaragua befand sich damals nicht weniger in einem
Verteidigungskrieg als die Ukraine heute.

 

/Achtens:/ Es müssen immer wieder – von einzelnen direkten Kontakten bis hin
zu Aktivitäten der UNO – politische und diplomatische Initiativen ergriffen
werden, um einen Krieg zu beenden. Es darf kein Versuch unterlassen werden,
einen Konflikt von der militärischen Ebene auf eine politische zu
verschieben. Wenn es keinen eindeutigen Sieger oder Verlierer gibt, enden
alle Kriege am Verhandlungstisch. Je früher, desto besser.

 

/Neuntens:/ Es ist – leider – eine Tatsache, dass die Kriegsparteien bei
Verhandlungslösungen immer auch Zugeständnisse und Kompromisse machen
müssen, vor allem jedoch die schwächere Partei oder diejenige, die ein
größeres Interesse daran hat, einen Krieg zu beenden. Dies ist natürlich
nicht gerecht. Aber es ist die einzige gangbare Alternative zu einer immer
weiteren Ausweitung oder Verlängerung des Krieges mit immer schlimmeren
Folgen für alle Beteiligten und sogar für die ganze Welt.

 

/Zehntens:/ Die internationalen Rechtsinstitutionen – vor allem der
Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof in Den
Haag – müssen nachhaltig gestärkt werden. Der Grundsatz Gleiches Recht für
alle muss endlich allgemein anerkannt und durchgesetzt werden. Ohne eine
Aufarbeitung der Vergangenheit ist das jedoch nicht möglich. Es ist schwer
vorstellbar, wie in der Ukraine – und auch in allen anderen Teilen der Welt!
– ein dauerhafter Frieden hergestellt werden könnte, ohne die dafür
zuständigen internationalen Institutionen mit deutlich mehr
Durchsetzungskraft auszustatten.

 

/Elftens:/ Der Krieg in der Ukraine ist eine erneute Bestätigung dafür, dass
das kapitalistische Streben nach Bereicherung und Macht – egal, ob in der
nordamerikanischen, westeuropäischen, russischen oder chinesischen Variante
– immer auch die Gefahr neuer Kriege in sich birgt. Aus dieser Perspektive
heraus kann eine dauerhafte Friedenslösung nur unter der Bedingung
hergestellt werden, dass es gelingt, eine kosmopolitische, freiheitliche
Solidargemeinschaft der gesamten Menschheit zu schaffen. Dieses Ziel eines
demokratischen Sozialismus mit immer weniger Staat und Gewalt hat durch die
jüngsten Ereignisse erneut eine hohe Aktualität erhalten.

 

/Zwölftens:/ Dieses Ziel ist leider in weite Ferne gerückt. Daher ist es
jedoch umso wichtiger, dass jede in den aktuell weltweit stattfindenden
Kriegen direkt oder auch indirekt beteiligte Seite darstellen muss, wie ihr
Handeln dazu beiträgt, die kriegerische Auseinandersetzung zu vermindern und
zu stoppen. Denn dies ist der einzige Weg, auf dem eine Friedenslösung
erreicht werden kann. Und dies gilt nicht nur für Russland, sondern auch für
Westeuropa, für die USA, für Israel, Saudi-Arabien, China, Marokko, die
Türkei, es gilt aber auch für das Volk der Sahrauis, für die PLO, für die
kurdischen Organisationen, es galt auch für die Sandinisten … und es gilt
eben auch für die Ukraine.

 

 

 

 

04.08.2022  

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 5/2022 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  Nicaraguanischer Freiheitskämpfer, der 1934 auf Geheiß der USA ermordet
wurde.

[2] Contrarrevolucionarios (Gegner der Revolution), eine von den USA
organisierte, ausgerüstete und befehligte Armee, die sich hauptsächlich aus
der ländlichen Bevölkerung und vormaligen Angehörigen der Nationalgarde des
Diktators Somoza rekrutierte.

[3]  Offensichtlich herrschte im Nicaragua der 1980er Jahre politisch und
gesellschaftlich eine völlig andere Situation, als sie heute in der Ukraine
besteht. Aber dies ist nicht das Thema dieses Essays.

[4]  Die beiden Deutschen Berndt Koberstein und „Tonio“ Pflaum waren in
Nicaragua als zivile Helfer tätig und wurden, neben mehreren Aufbauhelfern
aus anderen Ländern, von der Contra ermordet.

[5]  Selbst die sozial-liberale Bundesregierung jener Zeit hatte nach dem
Sieg der Revolution 1979 alle Projekte der Entwicklungshilfe eingefroren.

[6]  Einige Internationalisten haben diesen Weg gewählt, aber das waren
vereinzelte Ausnahmen.

[7]  Der IGH behandelt das Internationale Recht zwischen den Staaten.

[8]  Die USA haben bis heute noch keinen einzigen Cent an Nicaragua gezahlt.

[9]  Die Genfer Konventionen sind ein Rechtssystem, das im Falle eines
Krieges ein Mindestmaß an Schutz für nicht an den Kampfhandlungen
beteiligten Personen sichern soll.

[10]  Der IStGH verhandelt Fälle, in denen Anklagen gegen einzelne Personen
verhandelt werden.

[11]  Friedensvertrag von Sapoá.

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