[IPK] Portugal: Die Sozialdemokratie im Gegenwind

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Do Apr 13 19:44:50 CEST 2023


Portugal:

Die Sozialdemokratie im Gegenwind
Online unter: https://www.inprekorr.de/618-port.htm

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Ein Jahr, nachdem die Sozialistische Partei (PS) bei den vorgezogenen Wahlen
die absolute Mehrheit im Parlament errungen hatte (42,5 % der Stimmen und
120 von 230 Sitzen), hat sich die politische Lage geändert und der Wind
pfeift ihr auf den Straßen ins Gesicht.  [1]

 

 

Von Jorge Costa

 

 

Ende 2021 setzte Antonio Costa (mehrfacher Premierminister seit 26. November
2015) vorgezogene Wahlen durch, nachdem er die Forderungen der Linken nach
einer Reform des Arbeitsrechts und Investitionen im Gesundheitssektor
zurückgewiesen hatte, um auf „politische Stabilität“ zu setzen. Diese Taktik
ging auf und er erreichte eine absolute Parlamentsmehrheit bei den Wahlen im
Januar 2022, auf die sich die Regierung trotz ständiger innerer Zerwürfnisse
noch immer stützen kann, um nicht auf die zunehmend schlechtere Situation
reagieren zu müssen.

 

Drei Dinge prägten das erste Jahr der Legislaturperiode: der Verfall der
politischen Kultur innerhalb der Regierung, die Unterordnung unter die
Kapitalerfordernisse durch einen „Sozialpakt“ zu den Löhnen (der von den
Unternehmer*innen und der zweitgrößten Gewerkschaft UGT unterzeichnet wurde)
und die Bereitschaft, die Extraprofite der Reichen gegen die Inflation zu
schützen. Unter dieser Preissteigerung leidet eine Bevölkerung, von der –
ohne Berücksichtigung der Sozialleistungen – fast 40 % in Armut leben [2021
lebten 1,9 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, d. h. mit weniger als
554 Euro netto pro Monat, und die Situation hat sich 2022 weiter
verschlechtert, A.d.R.].

 

 

VERFALL DER POLITISCHEN KULTUR …

 

Die Regierung wurde von einer Serie von Affären und Skandalen erschüttert,
auch wenn viele von ihnen keine juristischen Konsequenzen hatten. In nur
neun Monaten traten 13 Regierungsmitglieder zurück (11 Staatssekretäre und
zwei Minister). Als der Premierminister den ehemaligen Bürgermeister von
Caminha, Miguel Alves, zum stellvertretenden Staatssekretär ernannte, obwohl
der in zwei Gerichtsverfahren angeklagt war, zunächst jegliche Aufklärung
verweigerte und schließlich gezwungen war, seinen Rücktritt im November 2022
anzunehmen, wurde dies zu einer politischen Frage.

 

Es war auch kein Verbrechen, die ehemalige Direktorin der Fluggesellschaft
TAP, Alexandra Reis, zur Staatssekretärin im Finanzministerium zu ernennen,
die das (mehrheitlich staatliche) Unternehmen im Februar 2022 mit einer
Abfindung von einer halben Million Euro verlassen hatte [und dann zur
Leiterin des staatlichen Flugsicherungsunternehmens NAV ernannt worden war].
Der Finanzminister, der sie nominiert hat, wollte jedoch die Abfindung, die
die Regierung selbst genehmigt hatte, nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist
vielleicht kein Verbrechen, aber es ist ein eklatanter Verstoß gegen die
ethischen Normen, an denen sich die Regierung orientieren sollte. Die
Einstellung eines anderen Regierungsmitglieds durch ein Unternehmen, dem die
Regierung Steuervergünstigungen gewährt hatte, ist ein Beispiel für die
Vetternwirtschaft zwischen dem politischen Machtzentrum und großen
Unternehmen. Diese Fälle sind keine Kavaliersdelikte oder einfache
Schnitzer, sie zeugen vielmehr von der Verkommenheit einer absoluten
Mehrheit, die nach nur einem Jahr ihres Bestehens die gleiche Arroganz und
Undurchsichtigkeit pflegt, die für frühere parlamentarische Mehrheiten
dieser Art, auch unter Beteiligung der PS, typisch war. 

 

 

… UND DER KAUFKRAFT …

 

Im Jahr 2022 übertraf die Inflation alle Rekorde der letzten dreißig Jahre
(7,8 %), und die jüngsten Prognosen einer leichten Abschwächung auf 5,4 % im
Jahr 2023 bestätigen, dass der Kaufkraftverlust bei Löhnen und Renten weiter
anhält. Die Preise steigen mit Schwankungen weiter an, am stärksten bei
Lebensmitteln, wo die Inflation über 20 % beträgt. Mit anderen Worten: Die
Ärmsten sind besonders stark betroffen.

 

Die absolute Parlamentsmehrheit der PS beharrt auf der These, dass die
Angleichung der Löhne und Renten an die Inflationsrate den Inflationszyklus
(die so genannte Lohn-Preis-Spirale) anheizen würde. Der durchschnittliche
Anstieg der Beamtengehälter beträgt nur 3,6 % und nimmt entlang der
Lohnskala immer weiter ab. Die Vereinbarung zwischen Regierung, Kapital und
UGT legte für freiwillige Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft lediglich
einen Richtwert von 5% fest, der in der Tat weit unter der Inflationsrate
liegt, während sie den Unternehmen gleichzeitig eine Belohnung in Form von
Steuersenkungen anbot. In der Praxis frieren die meisten Unternehmen die
Löhne ein oder führen Lohnerhöhungen durch, die unter diesem Richtwert
liegen.

 

Die These von der Lohn-Preis-Spirale wird von der Realität widerlegt: Der
Inflationszyklus hat seinen Ursprung nicht in den Löhnen, sondern ist in
erster Linie das Ergebnis von Spekulationsprozessen, die den Transfer des
Einkommens der Lohnabhängigen an das Kapital beschleunigt, vermittels ihrer
Stellung als Konsument*innen und Schuldner*innen [aufgrund der hohen
privaten Verschuldungsquote – dazu kommt der Transfer des von den
Arbeiter*innen geschaffenen Mehrwerts an das Kapital, A.d.R.].

 

 

… BEI EXPLODIERENDEN PROFITEN 

 

In Portugal ist diese Verarmung der Arbeiterklasse und die Verschärfung der
sozialen Ungleichheit vergleichbar mit den Folgen der Austeritätspolitik,
die erst Anfang des letzten Jahrzehnts von der Troika verhängt wurde. Die
Gewinne der größten Wirtschaftskonzerne schießen in die Höhe, und rund
fünfzehn große, an der Lissabonner Börse notierte Unternehmen haben ihren
Aktionär*innen Dividenden in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ausgezahlt - ein
absoluter Rekord.

 

Die Regierung stellt sich als Opfer der aufeinanderfolgenden internationalen
Krisen dar. Indem sie sich weigert, die Preise zu kontrollieren oder die
Gewinnspannen bei der Vermarktung der Produkte zu begrenzen, schützt sie
lieber die Spekulant*innen im Energiesektor, bei den großen
Einzelhandelsunternehmen und im Telekommunikationssektor. Währenddessen
zeigen die triumphalen Verweise auf das Wirtschaftswachstum (6,7 % im Jahr
2022, eine Rekordrate seit 1987) und das Haushaltsdefizit (weniger als 1,5 %
des BIP) nur die Unfähigkeit der Regierung, sich den Realitäten in Portugal
zu stellen. Stattdessen rechnet sie lieber die [mittelmäßigen]
Investitionen, die [niedrigen] Löhne und die [prekären] Beschäftigungen
schön. Statt grundlegender sozialer Reformen für die Beschäftigten und die
öffentliche Daseinsvorsorge oder auch nur des geringsten Plans, die
Auswirkungen der zunehmenden Spekulation aufzufangen, umgarnt die Regierung
lieber die rechte Opposition. Deren politische Grundausrichtung ist die
nämliche und in den Debatten über die Regierungspolitik lassen sich keine
Unterschiede ausmachen.

 

 

PROTESTE AUF DEN STRASSEN

 

Die Lehrer*innen und die übrigen Beschäftigten im Bildungssektor gehen aus
guten Gründen auf die Straße. Sie leiden unter Reallohnkürzungen, zunehmend
geringeren Aufstiegsmöglichkeiten durch Quotenregelungen und fehlender
Anrechnung des Dienstalters, prekären Arbeitsverhältnissen und fehlender
Fahrtkostenerstattung bei oft weit entfernt liegenden Schulen. Die Situation
ist nicht neu, aber der Reallohnverlust durch die Inflation hat das Fass in
den Schulen zum Überlaufen gebracht [Lehrer in der untersten Gehaltsstufe
verdienen in Portugal etwa 1100 Euro und selbst in höheren Gehaltsstufen
sind es oft weniger als 2000 Euro, A.d.Ü.]. Der Lehrerberuf ist zunehmend
unattraktiv geworden und hat die jüngere Generation abgeschreckt, während
zugleich Tausende von Lehrer*innen in den Ruhestand gehen.

 

Dieser Lehrermangel macht sich bereits in vielen Fächern, Klassen und
Regionen des Landes bemerkbar. Tausende Kinder und Jugendliche wurden
bereits vor den Streiks aufgrund des Mangels an Lehrkräften von der Schule
abgemeldet. Und die Situation verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Anstatt
Lösungen zu finden, indem die Dienstzeit voll angerechnet wird, Reisekosten
bezahlt oder Anreize für strukturschwache Regionen geschaffen werden (wie es
bei Polizist*innen oder Ärzt*innen der Fall ist), hat die Regierung
beschlossen, das Streikrecht der Lehrkräfte einzuschränken und von ihnen
eine Mindestpräsenz für die Betreuung, Versorgung und Unterrichtung der
Schüler*innen zu fordern. Die Verhandlungsangebote der Regierung bleiben
weit hinter den Forderungen zurück und deuten auf anhaltende Proteste hin,
unter denen die Mobilisierung des Bildungssektors an der Spitze steht.

 

 

WOHNUNGSNOT

 

Die EZB hat eine weitere Erhöhung des Leitzinses auf nunmehr 3 %
vorgenommen. Diese Erhöhung treibt die Wirtschaft in die Stagnation, schadet
der Beschäftigung und den Löhnen, ohne die Hauptursachen der Inflation –
Angebotsengpässe und Spekulation – zu tangieren. Steigende Zinssätze wirken
sich direkt auf das verfügbare Einkommen von Menschen aus, die
Immobiliendarlehen aufgenommen haben. Die Hypothekenzinsen im Bankensektor
sind um bis zu 50 % gestiegen, ohne dass es einen wirksamen
Schutzmechanismus gibt.

 

In Portugal steht das Grundrecht auf eine Wohnung bloß auf dem Papier. In
weniger als zehn Jahren haben sich die Wohnungspreise verdoppelt und die
Mieten sind um 50 % gestiegen. Wohnkosten verschlingen einen enormen Anteil
des Einkommens, was das Ergebnis einer Politik ist, die Spekulation und
Luxusbauten für den Tourismus gefördert hat. Als die PS 2015 an die Macht
kam, war die Wohnungsfrage bereits eine tickende Zeitbombe. Aber die neue
Regierung unternahm nichts gegen die Gesetze, die den Verkauf von Immobilien
an ausländisches Kapital begünstigen. Mit Unterstützung der rechten
Opposition schuf sie sogar neue Spekulationsanreize im Immobiliensektor.
Unter Ausnutzung der niedrigen (oder sogar negativen) Zinssätze strömte
internationales Kapital in den Immobiliensektor, um die garantierten Profite
abzuschöpfen.

 

[Die Regierungen haben in der Vergangenheit „goldene Visa“ erteilt, d. h.
Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer*innen, die mehr als 500 000 Euro in
eine Immobilie investieren. Hinzu kommen Genehmigungen für
Touristenunterkünfte in Großstädten und insbesondere in Lissabon, die eine
Vielzahl von Spekulationsgeschäften begünstigen, die von kaskadenartigen
Käufen und Verkäufen (mit einer großen Anzahl leerstehender Wohnungen) bis
hin zur Entwicklung von Airbnb reichen. Die „goldenen Visa“ dürften zwar ein
Ende finden, aber den unzureichenden Maßnahmen der Regierung Costa steht die
Macht der Bodenspekulant*innen gegenüber, A.d.R.]

 

In Lissabon gewinnt die Kampagne für ein Referendum zum Wohnungsbau an
Fahrt, mit dem Ziel, die Umwandlung von Wohnungen in Touristenunterkünfte
stark einzuschränken. Gleichzeitig wird es in den wichtigsten Städten
etliche Demonstrationen für das Recht auf Wohnen geben, mit Großkundgebungen
am 1. April sowie anderen Protesten für höhere Löhne oder gegen die
Klimakrise. Der Frühling wird heiß werden.

 

 

*Jorge Costa *ist Leitungsmitglied des Bloco de Esquerda

Aus: /Viento Sur/ vom 19.02.2023

/Übersetzung unter Rückgriff auf die frz. Version: MiWe/

 

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Vorabdruck aus: die internationale Nr. 3/2023 

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[1] Lehrer*innen, Ärzte, Krankenschwestern, Richter*innen und das
Flughafenpersonal gehen unter dem Druck der Inflation und der steigenden
Zinssätze für höhere Löhne auf die Straße. Daneben sind übergreifende
Mobilisierungen geplant, etwa für den 25. Februar (Demonstration unter dem
Motto „Gerechtes Leben“ gegen die steigenden Lebenshaltungskosten) oder den
1. April (Demonstrationen für das Recht auf Wohnung).

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