[IPK] Italien: Keine Träne für den "Cavaliere"

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Di Jul 11 20:23:42 CEST 2023


Italien:

Keine Träne für den „Cavaliere“
Online unter: https://www.inprekorr.de/620-caval.htm

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Von Eliana Como

 

 

Ich war noch keine 20 Jahre alt, als Berlusconi 1994 sein Amt antrat. In
meinem politischen Leben, wie auch in dem so vieler Menschen meiner
Generation, war Berlusconi immer einer der Hauptfeinde, der in den letzten
30 Jahren das politische Leben vergiftet hat. Ihm ist zuzuschreiben, dass
wir heute eine Regierung haben, die nicht mehr der liberalen Rechten
angehört, sondern der reaktionären und nationalistischen Rechten, die nicht
einmal mehr davor zurückschreckt, ihre gestrige Gesinnung offenzulegen.
Deshalb vergieße ich auch heute keine Träne!

 

Berlusconi war der Mann der ad-personam-Gesetze [die gegen die Gleichheit
der Bürger vor dem Gesetz verstoßen und die Vetternwirtschaft begünstigen],
des Stimmenkaufs im Senat, der Korruption und der Normalisierung der
Steuerhinterziehung, der Verbandelung mit der P2 [der antikommunistischen
Freimaurerloge Propaganda Due unter Licio Gelli, einem Bewunderer von Franco
und Mussolini] und der Mafia, Steuerbetrugs, Angriffe auf die Justiz und
Olgettine [die von Berlusconi „empfangenen“ jungen Mädchen wohnten in der
Via Oligettina 65 in Mailand, daher dieser Neologismus]. 2001 war Berlusconi
Ministerpräsident, als wir in Genua gegen den G8-Gipfel demonstrierten, in
einer militarisierten Stadt, in der die Demokratie drei ganze Tage lang
buchstäblich aufgehoben war.

 

In seine Regierungszeit fallen Gesetze, die den Grundstein für den Abbau der
sozialen und wirtschaftlichen Rechte in diesem Land gelegt haben. Das
Biagi-Gesetz zur Prekarisierung der Arbeit [mehr Flexibilisierung,
Outsourcing, Arbeit auf Abruf ], die Rentenreform unter Maroni, ein erster
Angriff auf den Artikel 18 [Arbeiterstatut], die Zurichtung der
Universitäten unter Moratti und dann der Schulen unter Gelmini, die
Schikanierung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst unter Brunetta, die
Jagd auf die Migrant*innen unter Bossi-Fini und das Sicherheitsdekret, mit
dem der Straftatbestand der illegalen Einwanderung eingeführt wurde. Aber
auch das Gesetz 40 gegen die künstliche Befruchtung und etliche andere
Gesetze, die ich vergessen habe.

 

Ich bedauere seinen Tod und möchte nicht zynisch sein. Aber ich will auch
nicht heucheln. Er war kein Staatsmann, sondern ließ ein ganzes Parlament
darüber befinden, dass Ruby Rubacuori [mit bürgerlichem Namen Karima
el-Mahroug, geboren in Marokko] Mubaraks Nichte ist! Er regierte das Land
so, wie er seine Unternehmen führte, die politische Opposition abbügelte und
von der kommunistischen Gefahr schwadronierte. Die politische Kultur geriet
unter ihm als Garant der Privilegien und des Eigennutzes, dem alles, auch
die Institutionen, untergeordnet werden kann. Er hat diese Kultur des
Besitzes und der Kommerzialisierung formalisiert und die Frauen auf die
Rolle von Untergebenen der Mächtigen reduziert, bei denen nur die äußere
Erscheinung zählt, egal ob gegenüber der deutschen Bundeskanzlerin [Verweis
auf beleidigende Formulierungen gegenüber Angela Merkel], der First Lady der
USA [Michelle Obama] oder einer Dentalhygienikerin. In dieser Kultur hat
alles einen Preis und kann alles gekauft werden. „Ich bin ich und ihr zählt
nicht“.

 

Berlusconi hat das Land sicherlich verändert, er war schillernd und riss
Witze wie kein anderer Politiker. Aber das ist zu wenig, um die dreitägige
Parlamentspause und eine unangemessene und spaltende [von Giorgia Meloni
beschlossene] Staatstrauer zu rechtfertigen. Gestern Abend im Teatro Regio
in Turin wurde die von Kulturminister Gennaro Sangiuliano [von 1983 bis 1987
MSI-Mitglied, danach angeblich unabhängig] vor Beginn der Premiere von
Madama Butterfly verhängte Schweigeminute in ihr Gegenteil verkehrt, als der
halbe Saal zu buhen begann und die Orchestermitglieder im Graben die
Szenerie verließen.

 

Dafür trage ich keine Trauer. Der Rektor der Ausländeruniversität in Siena,
Tomaso Montana, tat gut daran, sich zu weigern, die Flaggen auf Halbmast zu
setzen. Wenn die Dekrete widersinnig sind, ist Gehorsam keine Tugend.

 

Ganz abgesehen davon, dass in den letzten 24 Stunden, seit dem Tod von
Silvio Berlusconi, fünf Arbeiter bei Arbeitsunfällen gestorben sind und die
Medien wie üblich dazu geschwiegen haben. Der erste, der am selben Tag wie
der ehemalige Premierminister starb, war 65 Jahre alt und stürzte auf einer
Baustelle von einem Gerüst. Für sie gibt es keine Staatstrauer, kein
feierliches Begräbnis und keine staatlichen Beileidsbekundungen. Sic transit
gloria mundi!

 

 

Eliana Como ist Mitglied der italienischen Sektion der IV. Internationale,
Sinistra anticapitalista, und der Leitung der CGIL und deren
klassenkämpferischen Tendenz Le Radici del Sindacato.

 

Aus A l’Encontre
[https://alencontre.org/europe/italie/italie-pas-une-larme-pour-lentrepreneu
r-qui-a-casse-les-droits-sociaux.html]

Übersetzung von MiWe 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2023 

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