[IPK] Der Kapitalismus am Anschlag

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Mi Sep 27 19:12:33 CEST 2023


Ökonomie:

Der Kapitalismus am Anschlag
Online unter: https://www.inprekorr.de/622-kap.htm

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Das Komitee zur Streichung der illegitimen Schulden (CADTM) führte am 14.
Juni das folgende Interview mit Eric Toussaint.

 

 

Interview mit Eric Toussaint

 

 

 

?? CADTM: Befindet sich der Kapitalismus in der Krise?

 

*Eric Toussaint:* Ja, alle Warnsignale stehen auf Rot, als da wären: Ein
außerordentlich starker wirtschaftlicher Abschwung (Stagnation in der
Eurozone im letzten Quartal 2022 und im ersten Quartal 2023), ohne dass
dadurch die Treibhausgasemissionen und die sonstigen Umweltschäden
rückläufig wären; dramatische Auswirkungen der Umweltkrise, insbesondere in
Hinblick auf das Klima; ein sehr starker Anstieg der öffentlichen und
privaten Schulden; hohe Inflation und Kaufkraftverlust der unteren
Einkommensschichten; zunehmende prekäre Beschäftigung; explosionsartige
Zunahme der Ungleichheiten mit kolossalem Anstieg des Vermögens und der
Einkommen des reichsten Prozents; Rückgang des Index der menschlichen
Entwicklung, insbesondere der Lebenserwartung, in vielen Ländern
einschließlich des Nordens; verschärfte Handelskriege; schwere weltweite
Ernährungskrise; Kriege in Europa, auf der arabischen Halbinsel, im Osten
der DR Kongo, im Sudan, am Horn von Afrika etc.; Zunahme autoritärer
Regierungsformen (immer härtere Unterdrückung von Protesten, Ausschaltung
der Legislative etc.); Angriffe auf grundlegende Menschenrechte wie das
Recht auf Abtreibung; immer restriktivere und tödlichere
Einwanderungspolitik; Wahlerfolge der extremen Rechten etc.

 

Der einzige sehr stark expandierende Wirtschaftssektor ist der
Rüstungssektor. Es handelt sich um eine große Krise des globalisierten
kapitalistischen Systems, die größte Krise seit denen der Jahre von 1914 bis
1945.

 

 

?? In welcher Phase der Krise befindet sich die Weltwirtschaft?

 

Es ist noch kein Licht in Sicht, vielmehr stehen weitere Verschärfungen
bevor: Spekulationsblasen können jederzeit platzen und zu einer drastischen
Verschlechterung der Wirtschaftslage führen; es kann zu noch schwereren
Kriegshandlungen als heute kommen; Klima- und Umweltkatastrophen werden sich
wahrscheinlich noch verschlimmern; Gesundheitskrisen sind noch lange nicht
überwunden; Regierungen und Zentralbanken ergreifen keine relevanten
Maßnahmen zur Überwindung der Krise, die den Menschen zugute kämen, im
Gegenteil; die Konzentration der strategischen Produktionsmittel und des
Finanzwesens in den Händen einer immer kleineren Zahl privater Großaktionäre
hält weiter an, und zwar im Energiesektor, in der Rohstoffindustrie, im
Handel mit Lebensmitteln und anderen Rohstoffen, in der Pharmaindustrie, im
Bankensektor etc.

 

 

?? Was sind die Ursachen dafür?

 

Trotz der enormen Anhäufung von Reichtum durch das reichste Prozent, trotz
der kolossalen Gewinne etlicher Konzerne, vor allem in den Bereichen
Energie, Lebensmittel, Big Pharma, Schifffahrt, Rüstungsindustrie etc.
steigt die Profitrate im Ganzen nicht stark genug, um das Großkapital wieder
zu umfassenden produktiven Investitionen zu veranlassen.

 

Man darf nie aus den Augen verlieren, dass das Kapital nach der Maximierung
der Profitrate strebt. Wenn ihm dies nicht gelingt, konzentriert es sich
vorwiegend auf die Spekulation. Dies ist Teil der inhärenten Widersprüche
des kapitalistischen Systems. 

 

Abgesehen von sehr großen Unternehmen, die außerordentliche Gewinne
erzielen, indem sie Krisen wie die Pandemie-, Energie- oder Kriegskrise
ausnutzen, steht die Masse der Unternehmen trotz verschärfter Ausbeutung und
Prekarisierung der Arbeitskraft einer fallenden Profitrate und einer
sinkenden Produktivität gegenüber.

 

Auch auf der Seite des Warenangebots gibt es ein Problem: Es kam zu
Unterbrechungen der Lieferketten im Zusammenhang mit dem Lockdown während
der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/21 (in China gar bis einschließlich
2022). Die Halbleiterindustrie, deren Produktion auf wenige Länder
konzentriert ist, hat Produktionsprobleme und kann die Nachfrage kaum
befriedigen. Dieses Phänomen wird durch den Handels- und Technologiekrieg
zwischen den USA und China verschärft (da Washington momentan immer
aggressiver wird und versucht, die wirtschaftliche und kommerzielle
Expansion Chinas einzudämmen).

 

Im Immobiliensektor ist das Angebot im Verhältnis zur zahlungsfähigen
Nachfrage inzwischen zu groß. Erneut wurde gemessen an der Nachfrage zu viel
in den Neubau von Immobilien investiert, gerade in den USA, Großbritannien
und China. Besonders macht sich dies bei den Gewerbeimmobilien (Büros,
Geschäfte etc.) bemerkbar. In den Jahren 2018 bis 2022 hat sich eine
Spekulationsblase entwickelt und eine neue Immobilienkrise nach sich
gezogen.

 

Die Politik der Regierungen und Zentralbanken, massive Liquiditätsspritzen
und eine rasche Erhöhung der Schulden, haben neue Finanzblasen verursacht
und/oder aufrechterhalten. Besonders deutlich zeigt sich das bei der
Börsenkapitalisierung, auf dem Markt für Schuldtitel, im Immobiliensektor
vieler Länder, auf dem Rohstoffmarkt und bei den Kryptowährungen. Der
180-Grad-Schwenk der Politik seit 2022 von Quantitave Easing (QE) zu
Quantitave Tightening (QT, Straffung der umlaufenden Geldmengen) führt zu
großer finanzieller Instabilität und insbesondere zu Bankenpleiten.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entscheidung der Regierungen und
Zentralbanken, die Zinssätze unter anderem zur Bekämpfung der Inflation zu
erhöhen, zu Stagnation (oder sogar zu einer möglichen Rezession) und
Finanzkrisen führt, ohne dass es dadurch gelingt, die Inflation wesentlich
zu senken. Es ist möglich, dass die Finanzkrise, die bereits den
Zusammenbruch mehrerer Kryptowährungsunternehmen im Jahr 2022 und den
Zusammenbruch von vier großen Banken in den USA und Europa im März 2023
verursacht hat, wieder hochkocht und es zu weiteren Bankenpleiten oder
finanziellen Einbrüchen in anderen Bereichen wie den Börsen, dem
Immobiliensektor, insbesondere dem gewerblichen, dem Anleihenmarkt etc.
kommt.

 

 

?? Lässt sich von einer neuen Schuldenkrise des Südens sprechen?

 

Eine neue Schuldenkrise trifft eine ganze Reihe von Ländern des Südens, sei
es in Asien (Sri Lanka, Pakistan, Bangladesch etc.), Subsahara-Afrika
(Ghana, Sambia etc.), Nordafrika (Tunesien, Ägypten etc.), im Nahen Osten
(Libanon etc.), in Lateinamerika (Argentinien) oder in der Karibik (Puerto
Rico, Kuba etc.). Einige dieser Länder sind zahlungsunfähig oder haben, wie
Sri Lanka, ihre Zahlungen bereits eingestellt. Weitere Zahlungsausfälle sind
wahrscheinlich.

 

In der Regel wird eine Krise durch eine Reihe externer Schocks ausgelöst,
die die Volkswirtschaften des Südens schwer treffen. Diese externen Schocks
sind die Folge von Maßnahmen und Ereignissen, die aus dem Norden stammen:

 

1) Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die im Norden (China, Europa,
Nordamerika) begann und sich dann in den Süden ausbreitete, auf die
Verschuldung liegen auf der Hand: Erhöhung der Staatsverschuldung, um die
Bekämpfung der Pandemie zu finanzieren, und Rückgang der „harten“
Währungsreserven, die unerlässlich sind, um die Tilgung der Auslandsschulden
zu tätigen, oder der drastische Einbruch des Tourismus in den Jahren 2020
bis 2022, von dem einige Länder, wie Sri Lanka und Kuba, wirtschaftlich
abhängig geworden sind.

 

2) Die Auswirkungen des durch die russische Invasion in der Ukraine
ausgelösten Krieges: Massiver Anstieg der Preise für Getreide und chemische
Düngemittel, während eine ganze Reihe von Ländern des Südens zu
Nettoimporteuren von Getreide wurden, da Organisationen wie die Weltbank und
der IWF sowie die Regierungen des Nordens (mit Duldung der Regierungen der
Länder des Südens) sie dazu drängten, die Produktion anderer Agrarprodukte
voranzutreiben (tropische Früchte, Kaffee, Tee, Baumwolle, genmanipuliertes
Soja als Viehfutter etc.). Durch diesen starken Preisanstieg für
importiertes Getreide schrumpften die finanziellen Reserven zur
Schuldenbedienung oder es mussten unhaltbare neue Schulden aufgenommen
werden, um weiterhin importieren zu können. Der Krieg in der Ukraine hat
auch zu einem Anstieg der Brennstoffpreise geführt, und eine ganze Reihe von
Ländern des Südens sind Brennstoffimporteure. Für Länder wie Ägypten, Sri
Lanka und Tunesien, die sowohl Getreide als auch Brennstoffe importieren,
ist die Schuldensituation unhaltbar geworden.

 

3) Dritter großer externer Schock: die Auswirkungen des Klimawandels und der
Umweltkrise. Dies gilt insbesondere für Pakistan, das 2022 Opfer einer
Flutkatastrophe wird.

 

4) Vierter großer externer Schock: Der Anstieg der Kosten für die
Refinanzierung der Schulden, der durch die einseitige Entscheidung der
US-Notenbank, der Europäischen Zentralbank und der Bank of England ausgelöst
wurde, die Zinssätze ab 2022 deutlich zu erhöhen. Die Länder des Südens, die
vor dem Jahr 2021 Kredite zu 3 bis 6 % Jahreszins aufgenommen haben, sind
nun mit einem drastischen Anstieg der Zinsen konfrontiert, die für neue
Kredite 9 bis 15 % betragen. Auch dies ist unhaltbar.

 

 

 

 

 

?? Der IWF soll sich gewandelt haben. Was ist davon zu halten?

 

Die Politik des IWF hat sich nicht geändert, ebenso wenig wie die der
Weltbank. Sie sind genauso unheilvoll wie in der Vergangenheit. Und da viele
Länder des Südens gerade erst IWF-Kredite in Anspruch genommen haben, müssen
sie verstärkt neoliberale politische Maßnahmen gegen die Interessen der
Bevölkerung umsetzen.

 

In diesem Zusammenhang ist es umso wichtiger, den Aufruf des CADTM zur
Durchführung eines Gegengipfels in Marrakesch vom 12. bis 15. Oktober 2023
anlässlich der Jahrestagung des IWF und der Weltbank zu unterstützen.

 

 

?? Inwiefern sprichst du von dieser Krise als der schlimmsten seit 1945?

 

Nach 1945 gab es keine derart umfassende und facettenreiche Krise wie die
aktuelle. Die Umweltkrise und ihre Auswirkungen auf das Klima haben ein
bisher nicht gekanntes Ausmaß angenommen, wobei sie wohlgemerkt das Ergebnis
des seit zwei Jahrhunderten herrschenden Systems der kapitalistischen
Produktionsweise sind. Innerhalb von zwei Jahrhunderten hat diese
Produktionsweise das Leben auf dem Planeten tiefgreifend beeinträchtigt und
verschlechtert, und wir sind an einem absolut kritischen Punkt angelangt.
Hinzu kommt die Gesundheitskrise, die wir gerade erst überstanden haben, die
jedoch stets wieder aufflackern kann. Diese Gesundheitskrise hat mehr als 7
Millionen Menschen das Leben gekostet. Ihr Ausmaß hängt auch mit dem
kapitalistischen System selbst zusammen. Außerdem ist das Atomwaffenarsenal
im Vergleich zu 1945 gewachsen und das Ausmaß der internationalen Spannungen
kann zu einem Holocaust führen. Auch nach anderen Kriterien ist die
kapitalistische Krise tatsächlich die schwerste seit 1945, insbesondere weil
die Wirtschaft schwächelt. Daneben erleben autoritäre und gewaltbereite
Regierungsformen auf allen Kontinenten unterschiedlich starken Auftrieb. Der
weltweite Anstieg rechtsextremer Kräfte ist der stärkste seit 1945.
Menschenrechtsverletzungen häufen sich, insbesondere was Einwanderung und
Recht auf Asyl anlangt. Angesichts dieser Entwicklungen dürfen wir nicht
untätig bleiben, sondern müssen unsere Anstrengungen für eine echte
Revolution zur Befreiung der Menschen deutlich verstärken.

 

 

 

 

Eric Toussaint ist Vorsitzender und Gründungsmitglied des Comité pour
l‘Annulation de la Dette du Tiers Monde (CADTM) Belgien, Mitglied im
Internationalen Rat des Weltsozialforums und im Internationalen Komitee der
Vierten Internationale

 

Quelle:  <http://www.cadtm.org> www.cadtm.org
[https://www.cadtm.org/Plus-profonde-que-jamais-la-crise-du-capitalisme-a-bo
ut-de-souffle]

Übersetzung: MiWe

 

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Aus:   die internationale Nr. 5/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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