From webmaster at inprekorr.de Mon Apr 22 13:09:08 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Mon, 22 Apr 2024 13:09:08 +0200 Subject: [IPK] Ukraine: Eskalation oder Verhandlungen? Message-ID: <03be01da94a5$7f6d86d0$7e489470$@inprekorr.de> Ukraine: Eskalation oder Verhandlungen? Online unter: https://www.inprekorr.de/630-ukr-js.htm ------------------------------------------------------------------- Seit Anfang 2024 schält sich zunehmend heraus, dass die Westmächte mit ihrem Kurs im Ukrainekrieg in Schwierigkeiten geraten. Das liegt in erster Linie am militärischen Patt. Von Jakob Schäfer Sicher: Putins Krieg gegen die Ukraine ist Ausdruck imperialistischer Politik, aber eben nicht nur. In der Logik von Großmachtpolitik ist er auch eine Reaktion auf die aggressive Politik des Westens (speziell der NATO und der EU): Entgegen allen Zusicherungen hatte sich die NATO nach Osteuropa ausgedehnt (2004 wurden sieben osteuropäische Staaten aufgenommen), amerikanische Militärberater halten sich spätestens seit 2015 in der Ukraine auf [1] und die EU setzte die Ukraine unter Druck, ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zu kappen (was einer der Auslöser des Maidan war). Die Invasion vom 24. Februar 2022 und die Reaktion der Ukraine boten dem westlichen Imperialismus die Chance einer geopolitischen Schwächung Russlands und die Möglichkeit, sich nach einem gewonnenen Krieg den Zugriff auf die Rohstoffe der Ukraine zu sichern. ROHSTOFFREICHTUM Die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt. Die Kohle- und Gasvorkommen sind allgemein bekannt, aber dem westlichen Kapital geht es vor allem um die kritischen Rohstoffe Lithium, Kobalt, Titan, Beryllium und eine Reihe von Seltenen Erden. Laut /Ukrainian Geological Survey/ beträgt ihr Gesamtwert 6,7 Billionen Euro. Wie aus einem Bericht der EU zu der Partnerschaft hervorgeht, zählt die Ukraine zu den zehn Ländern mit den größten gesicherten Titan-Vorkommen. Die Ukraine ist eines der fünf Länder mit den größten Graphitvorkommen. Das Lithiumvorkommen der Ukraine wird auf etwa 500 000 Tonnen geschätzt. Es wäre damit eines der größten der Welt und macht wahrscheinlich ein Drittel aller Vorkommen in Europa aus. Lithium ist für die Herstellung von Akkus von großer Bedeutung und deswegen für eine Energiewende der EU (besonders für die E-Mobilität) höchst interessant, also nicht nur für die Herstellung von Handys und Computern. Im Juli 2021 hatte die EU mit der Ukraine ein strategisches Abkommen zur Gewinnung und Verarbeitung von kritischen Rohstoffen geschlossen. Der besondere Vorteil der ukrainischen Lithiumvorkommen: Häufig lagert Lithium in Salzschichten. Der Abbau ist ein ökologisches Desaster mit zerstörten Landschaften, worunter vor allem in Chile und Argentinien die Menschen zu leiden haben. Man geht davon aus, dass das ukrainische Lithium größtenteils in Magmagestein lagert. Die Gewinnung wäre dadurch bedeutend umweltfreundlicher. INTERESSEN DES WESTENS AUF DREI EBENEN Für den westlichen Imperialismus stehen heute mit dem Ukrainekrieg drei zentrale Interessen auf dem Spiel: a) die ökonomischen Interessen einer Ausbeutung der Ressourcen (zu den Agrarflächen siehe den Artikel von Michael Roberts in diesem Heft), b) die geopolitischen Interessen einer Schwächung Russlands und c) das politische Interesse, die hohen Ausgaben für den Ukrainekrieg auch weiterhin ausreichend rechtfertigen zu können. Aus den beiden erst genannten Gründen ist nicht zu erwarten, dass der westliche Imperialismus in nächster Zeit auf eine Beendigung des Krieges drängt. Aber seit mindestens einem halben Jahr steigt das Missverhältnis zwischen Einsatz und absehbarem Gewinn beträchtlich, sowohl ökonomisch als auch politisch. Drei Tage nach Kriegsausbruch hatte die Ukraine Verhandlungen zugestimmt, die Russland zuvor vorgeschlagen hatte und die einen Tag später an der Grenze zu Belarus begannen. Am 29. März bei der Fortführung der Verhandlungen in Istanbul legte die ukrainische Seite einen 10-Punkte-Plan [https://faridaily.substack.com/p/ukraines-10-point-plan] vor. Danach würde sich die Ukraine vertraglich zur Neutralität verpflichten und auf den Beitritt zu jeglichen Militärbündnissen verzichten. Am 17. Mai 2022 brachen Russland und Ukraine die Verhandlungen über einen Waffenstillstand ab. Möglicherweise bedauert man schon längst, die Waffenstillstandsverhandlungen vom März 2022 nicht unterstützt zu haben, denn der ukrainische 10-Punkte-Plan hätte keine Hindernisse für die Ausbeutung der ukrainischen Bodenschätze und die Privatisierung der Agrarflächen geschaffen. Es ist ziemlich sicher, dass der Westen (v. a. die USA und der damalige britische Premier Johnson) den Waffenstillstand blockierte, auch wenn das von offizieller Seite abgestritten wird. [2] Sowohl aus diesem Grund, vor allem aber, weil ohne die militärische und finanzielle Unterstützung durch den Westen (besonders von Seiten der NATO) die Fortführung des Kriegs schon lange nicht mehr möglich wäre, ist dieser Krieg in erster Linie ein Stellvertreterkrieg. Der Krieg ist allerdings nicht so gelaufen, wie der Westen nach den ersten Monaten hoffte. Seit letztem Sommer ist klar, dass die Vertreibung der russischen Armee nicht so einfach klappen würde. Dennoch hat man öffentlich ? sowohl in der politischen Ansprache wie auch in der Berichterstattung ? weiterhin das Narrativ gepflegt, man werde die Ukraine so lange unterstützen, wie es für den Sieg erforderlich ist. Je länger dies aber nun anhielt, umso mehr manövrierte sich der Westen damit in eine Sackgasse, aus der nur zwei Wege herausführen: entweder die weitere Eskalation mit ungewissem Ausgang oder aber eine Lösung durch Verhandlungen (was man ja die ganze Zeit als unmöglich erklärte, weil Putin nicht verhandeln wolle). Wie viele Ukrainer*innen den Krieg heute noch fortzuführen wünschen, werden wir auf absehbare Zeit von unabhängiger Seite nicht erfahren. Dafür sind die Medien hier und in der Ukraine zu sehr in die Kriegspolitik eingebunden. DAS DILEMMA DES WESTENS Auch wenn die NATO und die EU es unter der Decke halten wollen: Der Westen ist sich nicht einig. Soll man endlos in einen Krieg investieren, der nicht zu gewinnen ist, oder soll man den Einsatz erhöhen, indem man zum Beispiel eigene Soldaten schickt, wie dies Macron vorschlägt (und neuerdings auch einige der SPD nahestehende Historiker)? Das Dilemma ergibt sich nicht nur aus der militärischen Lage (man will schließlich eine direkte Konfrontation der NATO mit Russland vermeiden), sondern auch aus den gewaltigen finanziellen Kosten, die mit Sicherheit in absehbarer Zeit zu einem handfesten politischen Problem werden. Lang hat man so getan, als wäre die russische Armee nicht in der Lage, das eroberte Gebiet zu halten, gerade so, als müssten nur noch mehr Waffen geliefert werden. Aber auch die russische Armee sammelt ihre Erfahrungen und hat ihre Strategie umgestellt. Nicht zuletzt: Russland hat weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellt. Nicht nur hat die russische Armee ein größeres Reservoir, auch ihre Waffentechnik wird mit Hochdruck modernisiert. Gleichzeitig gehen der Ukraine viele Panzer und sogar Patriot-Systeme verloren (/FR/ v. 20.3.) Schlimmer noch: Ihr gehen die Soldaten aus. Seit November 2023 konstatierte der ukrainische Verteidigungsminister ein Patt mit Vorteilen auf der russischen Seite (da ein solches Eingeständnis politisch nicht erwünscht war, wurde er entlassen). Die /Neue Zürcher Zeitung/ (NZZ) schreibt zu den Angriffen vom 22.3. auf die ukrainische Infrastruktur [https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-russlands-attacke-gegen-energienetz-zeigt-luecken-in-verteidigung-ld.1823294?ga=1&kid=nl166_2024-3-22&mktcid=nled&mktcval=166_2024-03-22]: ?Russland hat am Freitagmorgen das Energiesystem der ganzen Ukraine mit 151 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen bombardiert. Der staatliche Netzbetreiber Ukrenerho sprach vom grössten Angriff seit Beginn der Invasion vor zwei Jahren. Gemessen an der Zahl abgefeuerter Flugkörper waren zwei Attacken zu Jahresbeginn zwar noch umfangreicher. Aber die jüngste war seit langem die schwerwiegendste. Den Ukrainern gelang es zwar, die meisten Drohnen abzuschiessen, aber nur knapp die Hälfte der übrigen Flugkörper. Eine so schlechte Rate hatten sie zuletzt vor eineinhalb Jahren. Die Flugkörper trafen Kraftwerke und Infrastruktur zur Verteilung des Stroms in verschiedenen Landesteilen. Weshalb die Russen ausgerechnet jetzt die zivile Infrastruktur der Ukraine wieder angreifen, ist vorläufig unklar. Naheliegend ist, dass sie sich für die verheerenden ukrainischen Drohnenangriffe der vergangenen Wochen auf ihre Raffinerien rächen wollen. Für die Ukraine ist die Lage prekär: Das Land hat wegen der Blockade im amerikanischen Senat zu wenig Munition, um die Angriffe abzuwehren. [?] Pikanterweise meldete die /Financial Times/ am Freitagmorgen, dass die USA die Ukraine aufgefordert hätten, ihre Attacken einzustellen, da sie inmitten des Wahlkampfs zu einer Erhöhung der Ölpreise führten.? [4] Kommentar überflüssig! ZUR ESKALATIONSGEFAHR: WAS STECKT HINTER DER TAURUS-DEBATTE? Kein Geringerer als der pensionierte oberste Soldat der Bundeswehr Harald Kujat (er war 2002 bis 2005 auch Vorsitzender des Militärausschusses der NATO!) erklärt seit Monaten in diversen Interviews detailliert und überzeugend, dass die Ukraine keine Chance hat, die russische Armee zu vertreiben. [3] Dies wissen natürlich auch die westlichen Regierungen und überlegen, wie man darauf reagieren kann, ohne in eine direkte Konfrontation mit Russland zu geraten. Eigene Soldaten? Taurus und andere Marschflugkörper? Gleichzeitig wollen sie nicht als Verlierer oder Schwächlinge oder Verräter dastehen. Zu lange haben sie sich in einer ständigen Litanei ?solidarisch mit der Ukraine erklärt.? Kujat führt beispielsweise aus, dass die Diskussion über die Entsendung von NATO-Truppen deswegen zu erwarten war, weil die Ukraine seit Ende 2023 in einer defensiven Lage ist. Die Falschmeldungen zur Kapazität der ukrainischen Armee (und zur Schwäche der russischen Armee) sind seit Anfang November schwieriger aufrechtzuerhalten. [4] Jetzt muss sogar die /FR/ (20.3.), von Anfang an eine eifrige Propagandistin der Kriegspolitik, einräumen: ?Verluste gegen Russland: Ukraine verliert offenbar reihenweise Leopard-2-Panzer.? Und: ?Die Invasionstruppen Wladimir Putins fügen den ukrainischen Streitkräften heftige Verluste mit einer Waffe aus Russland zu, die bislang kaum zum Einsatz kam. [?] Es handelt sich um ein Raketensystem, das der Kreml seit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf den westlichen Nachbarn recht dosiert eingesetzt hat. Die Rede ist von Iskander-M, mit dem den Russen wohl symbolträchtige Schläge gegen die bislang unverwundbaren Patriot-Flugabwehrsysteme und HIMARS-Mehrfachraketenwerfer der Ukrainer gelungen sind. [Die /FR/ zitiert sodann ?Experten? mit den Worten] »? Es gibt mehrere Detailaufnahmen von den Trümmern. Diese stehen den Experten zur Verfügung und es sprechen einige Merkmale für zwei Patriot-Werfer. Wer ganz genau hinsieht, kann also tatsächlich Patriot-Systeme erkennen.« Besagter Verlust alarmiert westliche Unterstützer der Ukraine nachdrücklich: Deutschland hatte zwei Patriot-Luftabwehrsysteme mit mehreren Abschussrampen geliefert, die USA stellten ein System zur Luftverteidigung zur Verfügung.? Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Kommt es zu dem Einsatz von Taurus oder anderen Marschflugkörpern, wird dies nur eine weitere Eskalation von westlicher Seite aus sein, auf die die russische wiederum auf ihre Weise antworten wird. Wer dies nicht wahrhaben will, ist ein Traumtänzer. Eine fortgesetzte Eskalation ist auch unterhalb des Atomkriegs möglich, allerdings wird damit auch die Schwelle zum Atomkrieg sinken. HÄNDLER DES TODES: ALLEN VORAN RHEINMETALL Das Ergebnis je Aktie von Rheinmetall (unverwässert, nach Steuern) lag 2021 bei 6,72 ? und 2023 bei 12.32 ? pro Aktie. [5] Im letzten Jahr lag der Umsatz bei 7,16 Mrd. ?, dieses Jahr werden 10 Mrd. angepeilt mit einer Umsatzrendite von 14 %! Ende 2023 lag der Auftragsbestand bei 38,3 Milliarden Euro, eine Steigerung um 44 Prozent. ?Das erklärte Ziel der Firma in einem Wort: Mehr. Mehr Munition, mehr Panzer, mehr Treibladungen, mehr Sprengstoff, mehr von allem. Papperger [der Vorstandsvorsitzende] betont, Rheinmetall sei »sehr gut unterwegs«, in zentralen Bereichen wie der Pulvertechnologie sogar »die Nummer 1 weltweit«?. [6] Dass Rheinmetall nichts anderes als ein Händler des Todes ist, zeigt sich u. a. an der Klage gegen die Bundesregierung: Bis 2014 belieferte Rheinmetall Russland mit Rüstungsgütern. Nach der Annexion der Krim stoppte die Bundesregierung alle Rüstungsexporte nach Russland. Rheinmetall kam so nicht zu dem fest eingeplanten Gewinn und verklagte die Bundesregierung. So viel zur Verteidigung der Freiheit durch die Rüstungskonzerne. KRIEGSWIRTSCHAFT Tragisch ist, dass immer noch ein Teil der Linken und der sonstigen fortschrittlichen Kräfte auf Waffenlieferungen setzen. Aber auch sie stecken in einem Dilemma. Denn wie will man ? angesichts des Patts ? das anhaltende Sterben in der Ukraine rechtfertigen? Etwa mit einer Eskalation? Sollen ukrainische Kriegsdienstverweigerer bei uns keinen Schutz bekommen? Sollen Bundeswehrsoldaten die Verluste der ukrainischen Armee ausgleichen? Wie will man für Waffenlieferungen aktiv sein und gleichzeitig die zwangsläufig damit einhergehende Militarisierung im eigenen Land glaubwürdig und in sich konsistent bekämpfen? ?Hochrüstung macht generell die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Weil dem Wohlfahrtsstaat fehlt, was ein Rüstungsstaat an Mehrkosten verschlingt, folgt der militärpolitischen Zeitenwende nun fast zwangsläufig auch eine sozialpolitische Zeitenwende. Zu befürchten ist daher auf längere Sicht eine fortdauernde Senkung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit, die zuletzt Reallohnverluste hinnehmen musste und durch steigende Mieten, Energiepreisexplosion und Inflation stark belastet wurde.? [7] Für den offiziellen Militärhaushalt 2024 sind 51,95 Mrd. Euro vorgesehen ? 1,85 Mrd. Euro mehr als im Vorjahr. Hinzu kommen allerdings 19,8 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen sowie 14,5 Mrd. Euro nach NATO-Kriterien aus anderen Haushalten (etwa vier Mrd.). In /Europäische Sicherheit & Technik/, Deutschlands führendem militär- und rüstungsnahen Magazin, werden die Konsequenzen einer haushaltsinternen Umschichtung in Richtung Militärausgaben beschrieben. Es bedürfe einer ?grundlegenden gesellschaftlichen Debatte über die nationalen Prioritäten?, so der Redakteur Ole Henckel. Am Ende stehe man vor einer Wahl: ?entweder die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende für die Bundeswehr.? Weiter heißt es in dem Artikel: ?30 Milliarden Euro mehr bräuchte es derzeit im Verteidigungshaushalt, damit dieser eigenständig das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt. Der einzige Posten im Bundeshaushalt, der die Masse dieses zusätzlichen Bedarfes decken könnte, ist der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Debatte wird sich also um die Streichung von Sozial-Ausgaben für Militär und Rüstung drehen. [?] Der entscheidende Punkt und die damit verbundene Debatte wird allerdings erreicht werden, wenn das Sondervermögen verausgabt ist und man im Bundeshaushalt Prioritäten setzen [sic!] muss. Voraussichtlich wird dieser Zeitpunkt auch mit der kommenden Bundestagswahl zusammenfallen. Rüstung oder Soziales. Dann wird sich zeigen, wie nachhaltig die viel zitierte Zeitenwende ist.? [8] Die Militarisierung macht bei der Hochrüstung nicht halt. Jetzt will man einen Veteranentag einführen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatte in einem Interview der Zeitungen der Funke-Mediengruppe gesagt, die Gesellschaft müsse sich insgesamt gut auf Krisen vorbereiten ? von einer Pandemie über Naturkatastrophen bis zum Krieg. ?Zivilschutz ist immens wichtig, er gehört auch in die Schulen. Ziel muss sein, unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken.? Auch das Gesundheitswesen soll laut Gesundheitsminister Lauterbach für einen militärischen Bündnisfall vorbereitet werden, wie er der /Neuen Osnabrücker Zeitung/ sagte. Notfalls müsse jeder Arzt, jede Klinik, jedes Gesundheitsamt wissen, was zu tun sei. Und auch die Wissenschaft soll sich weniger ausschließlich auf zivile Forschung konzentrieren, wie es viele Universitäten bislang mit Zivilklauseln anstreben: Mit dem im Januar vorgestellten ?Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern? will die dortige Regierung Zivilklauseln zukünftig verbieten. Die strikte Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung solle aufgehoben werden, um Synergien zu nutzen, forderte vergangene Woche die Expertenkommission Forschung und Innovation. Kriegsgegnerschaft ist nur dann glaubhaft, wenn man nicht nur im Gazakrieg einen sofortigen Waffenstillstand fordert, sondern auch in der Ukraine. Die Forderung nach Abzug aller ausländischen Truppen gibt nur Sinn, wenn man als ersten Schritt dorthin einen Stopp aller Kriegshandlungen fordert. Für eine Beendigung des Sterbens in der Ukraine ? von der Beendigung der wirtschaftlichen und ökologischen Zerstörungen noch ganz abgesehen ? ist die Aufnahme von Verhandlungen alternativlos. Dies nicht zu fordern, sondern von den Ukrainer*innen zu erwarten, dass sie sich weiterhin zu Kanonenfutter machen lassen, ist zynisch. ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- ----- [1] Details dazu in Valerie Walter: Die NATO im Vorhof Russlands, /Hintergrund 7/8 ? 2023/, S. 8 ff. [2] https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2023/03/30/hat-der-westen-einen-waffenstillstand-in-der-ukraine-blockiert-interview-mit-naftali-bennett-irrefuehrend-untertitelt/ [3] https://www.youtube.com/watch?v=ZDOLcahuF8k (darin auch zur Involvierung Deutschlands) [4] Siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=0N40ARAb3L0, wo Kujat die verfahrene Situation beschreibt; Kujat widerlegt die 7 Mythen des Ukraine-Krieges in: https://www.youtube.com/watch?v=sQXbSJdH4ME [5] Mehr Details unter https://www.finanzen.net/bilanz_guv/rheinmetall [6] https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/deutschlands-gr%C3%B6%C3%9Fte-waffenschmiede-vom-schmuddelkind-zum-superstar-warum-sich-jetzt-alle-um-rheinmetall-rei%C3%9Fen/ar-BB1kbfDB [7] Butterwegge, Christoph: ?Fortschrittskoalition? ohne Fortschritt, /Rotary Magazin/, 22.12.2023. [8] Henckel, Ole: Die neue Nationale Sicherheitsstrategie ? Vorbote einer harten Debatte, /Europäische Sicherheit & Technik,/ 4.7.2023. (zitiert nach: ?Rüstung durch Sozialabbau. Der Haushalt 2024 ist übel ? aber das richtig dicke Ende droht erst noch.? IMI Analyse 2024/6 von Jürgen Wagner, https://www.imi-online.de/2024/02/02/ruestung-durch-sozialabbau/) -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Mon Apr 22 13:12:01 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Mon, 22 Apr 2024 13:12:01 +0200 Subject: [IPK] =?iso-8859-1?q?Ukraine=3A_F=FCr_einen_selbstbestimmten_Wie?= =?iso-8859-1?q?deraufbau_der_Ukraine?= Message-ID: <03ed01da94a5$e6885520$b398ff60$@inprekorr.de> Ukraine: Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine Online unter: https://www.inprekorr.de/630-ukr-urc.htm ------------------------------------------------------------------- Nach Lugano (2022) und London (2023) findet am 11. und 12. Juni 2024 in Berlin die dritte Ukraine Recovery Conference (URC) statt. Von Hermann Nehls Offiziell handelt es sich um eine Geberkonferenz von rund 60 Regierungen, um Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine zu mobilisieren. Die drei Wiederaufbaukonferenzen haben die Ukraine-Reformkonferenzen abgelöst, die seit 2017 jährlich stattgefunden haben. Insofern geht das Ziel über eine reine Geberkonferenz hinaus. Auf der Webseite der Konferenz [https://www.urc-international.com/] werben die Organisatoren damit, dass sie „ständige internationale Unterstützung für die Erholung, den Wiederaufbau, die Reform und die Modernisierung der Ukraine“ mobilisieren will. Zur Konferenz selbst sind nach aktuellem Stand Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen nicht zugelassen. Es gibt jedoch ein umfangreiches Begleitprogramm, das von verschiedenen staatlichen und kommunalen und mit ihnen kooperierenden Stellen ausgerichtet wird. Die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und vom Export seiner Rohstoffe abhängig. So etwa vom Export von Erdgas, was von Russland mehrfach in „Gaskriegen“ ausgenutzt wurde. Auch die landwirtschaftliche Produktion (Weizen, Sonnenblumen, Gerste) ist weitgehend exportorientiert und wird zum Teil von Agrarkonzernen kontrolliert, denen eine große Zahl von kleinen Landwirtschaftsbetrieben und Bauern gegenübersteht. Die Ukraine verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde über ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen Union. Das Land besitzt zudem einen reichen Schatz an sogenannten kritischen Rohstoffen wie Kobalt, Titan, Beryllium, Graphit und eine Reihe von Seltenen Erden. Hinzu kommt eines der größten Lithiumvorkommen weltweit, das auf etwa 500 000 Tonnen geschätzt wird und umweltfreundlich abbaubar ist. Die Aneignung dieser Schätze ist nicht nur Hintergrund für die russische Besetzung der Ostukraine, sondern gilt auch als entscheidend für die Energiewende der EU. Die Löhne gehören mit zu den niedrigsten in Europa, Arbeitsrecht und Kollektivverträge wurden schon vor Ausbruch des Krieges teilweise ausgehöhlt und geraten seither immer stärker unter Druck. Die Regierung hatte schon zuvor versucht, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und die noch aus der Sowjetzeit stammenden arbeiter*innenfreundlicheren Gesetze abzuschaffen. Das unter Kriegsrecht stehende Land ist jetzt ein neoliberales Versuchslabor, das vor allem für europäisches Kapital als perfekter lnvestitionsstandort dienen soll. Es ist nicht verwunderlich, dass einige Großkonzerne ein großes Interesse an der Ukraine haben. Die Weltbank schwärmt von der Öffnung der ukrainischen Schlüsselindustrie für kapitalistische Unternehmen. Auf der Londoner Konferenz im vorigen Jahr wurden BlackRock, eine der größten Vermögensverwaltungen weltweit, und J.P. Morgan, die größte US-Bank, damit beauftragt, sich um die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft zu kümmern. Die von der Bundesregierung ausgerichtete Berliner Konferenz gibt vier zu behandelnde Themenbereiche an: * die Mobilisierung des Privatsektors für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswachstum; * die sozialen Beziehungen und das Humankapital der Ukraine; * der Wiederaufbau der Gemeinden und Regionen; * der Beitritt zur EU und die damit verbundenen Reformen. Konkrete Projekte, die in den Blick genommen werden, sind u. a. der ukrainische Energiemarkt mit dem Aufbau einer Wasserstoffproduktion, die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft mit Hilfe ausländischen Kapitals, die Reorganisation des Gesundheitssektors, eine stärkere Rolle westlichen Kapitals im Städte- und Wohnungsbau sowie lukrative Beratungsleistungen zur Umsetzung der „nachhaltigen Strukturanpassung“. Wie ein Wiederaufbau der Ukraine im Interesse der Konzerne, des Finanzkapitals, des IWF und der EU aussehen würde, zeigt exemplarisch der „Ukraine-Plan“, der am 18. März 2024 vom Ministerkabinett der Ukraine in Abstimmung mit der EU als Dekret Nr. 244-p verabschiedet wurde. Dieses Vorhaben wird auch von der Bundesregierung unterstützt. Eine zentrale Frage beim Wiederaufbau der Ukraine ist die Verschuldung. Die Ukraine war schon vor Kriegsbeginn im Februar 2022 stark verschuldet. 2020 hatte die ukrainische Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland mehr Zahlungsverpflichtungen, als es ihrer jährlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprach. Der Krieg hat die Auslandsverschuldung der Ukraine vervielfacht, das Land ist heute der weltweit drittgrößte Schuldner des IWF. Die zusätzlichen Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg werden zurzeit auf 750 Milliarden Dollar geschätzt. Nach dem Ende des Krieges werden vom ukrainischen Staat Rückzahlungen erwartet, insbesondere von den institutionellen Finanzorganisationen (wie dem IWF), der EU und großen privaten Anleihegläubigern. Sowohl die hohe und wachsende Verschuldung der Ukraine als auch ihre Annäherung an die EU bedrohen den Lebensstandard und die sozialen Rechte der Arbeiter*innen im privaten wie im öffentlichen Sektor. Dies verringert auch deren Möglichkeiten, beim Wiederaufbau ein gewichtiges Wort mitzureden, obwohl sie die Hauptlast des Krieges tragen. Diese Sichtweise aber spielt bisher auf der Konferenz keine Rolle. Die Gewerkschaften in der Ukraine kämpfen an zwei Fronten: Sie kämpfen gegen die russische Aggression und gegen die neoliberale Politik der Selenskyj-Regierung, die den Auflagen der EU und des IWF Folge leistet. Diese Politik spaltet die Gesellschaft und wälzt die Last des Krieges einseitig auf die arbeitende Bevölkerung ab. Dies schwächt letzten Endes auch den Widerstandswillen gegen die militärische Aggression. Klar ist, dass an einen ernsthaften Wiederaufbau des Landes erst zu denken ist, wenn die Waffen schweigen und die russischen Truppen sich zurückgezogen haben. Nicht die Interessen der Gläubiger und Konzerne dürfen den Wiederaufbau der Ukraine bestimmen, vielmehr müssen gute Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bevölkerung und soziale Rechte geschaffen und gestärkt werden. Nachdem der Krieg die Ukraine ausgeblutet hat, darf es nicht auch noch zum Ausverkauf ihrer Ressourcen, Mineralien und fruchtbaren Ländereien kommen. Der ukrainische Staat muss in die Lage versetzt werden, die für Leben und Wirtschaften notwendige Infrastruktur wieder aufzubauen. Die Arbeiter*innen und die Frauen tragen die Hauptlast des Krieges, sie müssen jetzt das Sagen haben, ihre Bedürfnisse müssen prioritär berücksichtigt werden. Die Ukraine braucht Lebens- und Wohnräume, ein Arbeitsrecht und Einkommen, die attraktiv sind für die Menschen, die dort leben wollen und darüber hinaus für die zahlreichen Flüchtlinge, die in ein lebenswertes Ursprungsland zurückkehren wollen. Der Widerstand gegen die russische Aggression wird durch höhere Einkommen für ukrainische Arbeiter*innen und Bauern und mehr Rechte am Arbeitsplatz, auf Bildung und Gesundheit gestärkt. Die Initiative „Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften“, die im Oktober 2023 eine Reise in die Ukraine organisiert hat, um Gespräche mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu führen und Kontakte zu knüpfen, schlägt vor, anlässlich der Ukraine Recovery Conference in Berlin eine eigene Veranstaltung zu organisieren, bei der die Interessen der Lohnabhängigen zu Wort kommen sollen. Zusammen mit Aktiven von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine sollten als Ergebnis der Veranstaltung Anforderungen an einen Wiederaufbauprozess formuliert werden, die die Bedürfnisse der Bevölkerung und vor allem der arbeitenden Menschen berücksichtigt und sie an diesem Prozess beteiligt. Die internationale Unterstützung für den Kampf um soziale Rechte und einen Wiederaufbau, der Teilhabe ermöglicht und sich an den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung orientiert, ist unerlässlich. Die Vorhaben der Konzerne und Finanzindustrie müssen öffentlich gemacht werden und zusammen mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine müssen Vorschläge für konkrete gemeinsame Projekte und Kampagnen – etwa für die Streichung illegitimer Schulden – erarbeitet werden. ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Mon Apr 22 13:16:33 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Mon, 22 Apr 2024 13:16:33 +0200 Subject: [IPK] Inhalt "die internationale" Nr. 3/2024 Message-ID: <03fa01da94a6$88c89660$9a59c320$@inprekorr.de> ------------------------------------------------------------------- die internationale (mit Inprekorr) Nr. 3/2024 Mai/Juni 2024 ------------------------------------------------------------------- GEWERKSCHAFTEN GDL-Tarifrunde 2023/2024, Jakob Schäfer ÖKOLOGIE Kampf um Tesla, Klaus Meier Landwirtschaft vs. Ökologie?, Adriano Bulla Ökosozialistische Konferenz 2024 DOSSIER GAZA-KRIEG Auf der Suche nach Orientierung, Birgit Althaler Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus, Interview mit Uri Weltmann Den Sack schlägt man, den Esel meint man, Peter Beinart Die Vergänglichkeit des Mitgefühls, Orly Noy Wie der Völkermord gestoppt werden kann, Marcy Winograd Die "Staatsräson" gerät zur Farce, Michael Sappir Anatomie eines Genozids, Francesca Albanese UKRAINE Kein Ende des Krieges in Sicht, Michael Roberts Eskalation oder Verhandlungen?, Jakob Schäfer Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine, Hermann Nehls TÜRKEI Erdogan und sein unberechenbares Regime, Interview mit Masis Kürkçügil EXTREME RECHTE Internationale Front gegen die extreme Rechte, Éric Toussaint ARGENTINIEN "Diese Regierung ist eine Katastrophe", Interview mit Claudio Katz NACHRUF Ernesto Herrera (1949--2024), Charles-André Udry JUGEND Internationales sozialistisches Sommercamp ------------------------------------------------------------------- Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- From webmaster at inprekorr.de Fri Apr 26 13:35:30 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Fri, 26 Apr 2024 13:35:30 +0200 Subject: [IPK] Gaza-Krieg: Auf der Suche nach Orientierung Message-ID: <037001da97cd$d838c560$88aa5020$@inprekorr.de> Dossier Gaza-Krieg: Auf der Suche nach Orientierung Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-ba.htm ------------------------------------------------------------------- Der Angriff palästinensischer Milizen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober stellt für Palästinenser:innen wie Israelis einen markanten Einschnitt dar, wird aber völlig unterschiedlich erlebt. Von Birgit Althaler Viele Palästinenser*innen sehen sich unabhängig von Religion oder politischer Überzeugung als Teil des Kollektivs, das zu einem mutigen Befreiungsschlag aus Isolation und Perspektivlosigkeit ausgeholt hat. Gaza stand bereits vor dem Überfall für die Kontinuität der Nakba, ein jahrzehntelanges Trauma und für einen von der Weltöffentlichkeit unbeachteten schleichenden Genozid. Die Reaktion Israels bestärkt sie darin, jenem Volk anzugehören, das mit allen Mitteln vertrieben und seiner legitimen Rechte beraubt wird. Einem Volk, das in vielen westlichen Ländern auf taube Ohren, wenn nicht Feindseligkeit und Repression stößt, wenn es die eigene Unrechtserfahrung zur Sprache bringt, wie die Kulturwissenschaftlerin Sarah El Bulbeisi in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) schreibt. Die Israelis wurden vom Überfall völlig unvorbereitet getroffen und an eigene Traumata aus der jüdischen Geschichte erinnert. Der Angriff zerstörte die Illusion, dank militärischer Überlegenheit und Duldung der Staatengemeinschaft ein koloniales Unrechtsregimes aufrechterhalten und sich trotzdem in relativer Sicherheit wiegen zu können. Bezeichnenderweise war in Israel die Realität der Besatzung letztes Jahr in den Protesten gegen die Aushebelung einer unabhängigen Justiz kaum ein Thema. Doch wie die für die Rückkehr der Flüchtlinge eintretende NGO Zochrot treffend schreibt, ist niemand sicher, solange nicht alle sicher sind. „Die Sicherheit der Israelis kann nicht von der Unterdrückung und Enteignung der Palästinenser*innen abhängen.“ Neben Betroffenheit und Trauer über die Toten, Verletzten, Verschleppten, Flüchtenden, um ihr Überleben Kämpfenden setzte unmittelbar ein Ringen um die politische und moralische Einordnung der Ereignisse an. Wer verurteilt wen? Wer gibt wem die Schuld? Was genau ist vorgefallen? Wo liegt Versagen, wo Kalkül vor? Welcher Druck, welche Solidarität sind gefordert? Allein die Einbettung der Ereignisse in den historischen Kontext wurde anfänglich, allen voran von zionistischen Linken, als verwerflich skandalisiert. Viele Palästinenser*innen beklagen zudem den entwürdigenden Umstand, dass sie ungeachtet ihrer eigenen Verluste jeweils zuerst israelische Opfer betrauern und sich von der Hamas distanzieren müssen, bevor sie als legitime Gesprächspartner*innen akzeptiert werden. Der Vorwurf mangelnder Empathie mit jüdischen Opfern wurde zum politischen Druckmittel. Das Insistieren auf der angeblich „beispiellosen“ Brutalität palästinensischer Milizen reiht sich ein in die palästinensische Erfahrung von Dehumanisierung und Entrechtung. Der Historiker Ilan Pappé weist darauf hin, dass selbst von sogenannt progressiven Kreisen eine Sprache verwendet wird, die „Israel immunisiert und nicht zulässt, dass der palästinensische antikoloniale Kampf gerechtfertigt, akzeptiert und legitimiert wird“. Umso wichtiger sei es, die Ereignisse in die Praxis zionistischer Politik der Eliminierung der Palästinenser*innen einzuordnen. Unbestrittenermaßen war der Überfall von Gewalt und Völkerrechtsverletzungen begleitet. Palästinensische NGOs wie Adalah und antizionistische Solidaritätsgruppen weltweit haben dies verurteilt und doch den Kontext jahrzehntelanger Unterdrückung und das Recht auf Widerstand benannt. Die Frage angemessener „Verurteilung“ insbesondere der Hamas wird aber eingesetzt, um den Palästinenser*innen das Recht auf Selbstbestimmung, aktives Handeln und Widerstand gegen Apartheid und Besatzung – auch mit gewaltfreien Mitteln – abzusprechen. Dieses Vorgehen kritisiert die Gruppe Jüdisch Antikolonial und sieht darin die Behauptung gestützt, „dass der Hauptgrund für mit Palästina solidarische Positionen nicht linke Visionen und der Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit, sondern Islamismus oder Antisemitismus seien“. Eine der wertvollen Stimmen der ersten Tage war der Traumaforscher Gabor Maté, der als Kind selbst Verfolgung erfahren hat. Auch er verurteilt die Gewalt palästinensischer Milizen gegen Zivilpersonen, betont aber ebenso klar die Unvergleichbarkeit der Machtverhältnisse, der Gewalterfahrungen und damit der Verantwortung zwischen israelischer und palästinensischer Seite. Emotionen wie Trauer, Wut, Angst, Entsetzen Raum zu geben, sei wichtig, rechtfertige aber nicht unreguliertes Sprechen und Handeln. Essenziell für eine Friedensvision sei die Bereitschaft, die Erfahrungen der andren Seite zu verstehen. In Momenten, wo das Gefühl dominiert, unverstanden oder bedroht zu sein, ist dies eine schwierige Aufgabe. Von dieser Fähigkeit zeugt die israelische Journalistin Amira Hass, die im Gazastreifen viele Gräueltaten der israelischen Armee dokumentiert hat. In einer Podiumsdiskussion Mitte Oktober bekennt sie, dass das Schweigen palästinensischer Freunde zu den israelischen Opfern sie schmerze. Es lehre sie aber auch, so sehr sie die palästinensische Gesellschaft kenne, das enorme Ausmaß ihrer Unterdrückung unterschätzt oder nicht erfasst zu haben. Bleibt das Thema Gewalt. Das Völkerrecht legitimiert Widerstand gegen eine Besatzungsmacht auch mit Waffengewalt, schreibt aber zwingend die Unterscheidung von Zivilpersonen und Kombattant*innen vor. Damit ist noch nichts über Sinnhaftigkeit und Moralität des bewaffneten Kampfs gesagt. Der Politologe Gilbert Achcar unterstreicht die Bedeutung moralischer Überlegenheit, die Unterdrückte im Kampf gegen ihrer Unterdrücker*innen geltend machen können. David Finkel warnt davor, den Angriff als Fortschritt für den Widerstand und den Befreiungskampf zu interpretieren: „Die Anerkennung des Grundrechts unterdrückter Völker auf Widerstand, auch mit Waffen, entbindet nicht von der Verantwortung, die Methoden und die Politik der Kräfte zu analysieren, die in ihrem Namen handeln.“ Der Journalist Ali Abunimah betont dagegen 2021 in einem Artikel zur Gewalt palästinensischer Widerstandsgruppen, es gebe keine moralische Gleichwertigkeit zwischen einem kolonisierten Volk, das mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sein anerkanntes Recht auf Widerstand ausübt, und […] Israel, das seine ausgefeilte Rüstungstechnologie einsetze, um die palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren und zu unterwerfen. Er zitiert aus Nelson Mandelas Der lange Weg zur Freiheit: „Es ist immer der Unterdrücker, nicht der Unterdrückte, der die Form des Kampfes diktiert. Wenn der Unterdrücker Gewalt anwendet, haben die Unterdrückten keine andere Möglichkeit, als mit Gewalt zu antworten. In unserem Fall war es eine legitime Form der Selbstverteidigung. … Es liegt an euch, nicht an uns, auf Gewalt zu verzichten.“ Priorität gegenüber all diesen Erwägungen, die nicht den Anspruch haben, abschließend zu sein, hat aktuell jedenfalls die Durchsetzung eines sofortigen dauerhaften Waffenstillstands, um das laufende Gemetzel und Zerstörungswerk im Gazastreifen zu stoppen. Die Bedingungen für ein freies Palästina sind längerfristig auszuhandeln. Für fortschrittliche Kräfte beinhaltet das zweifellos die Vision einer säkularen, gleichberechtigten, gemischt ethnisch-religiösen Gesellschaft, wie sie das Denken der palästinensischen Befreiungsbewegungen über Jahrzehnte geprägt hat. aus: Palästina-Info Winter 2023/2024 ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Fri Apr 26 13:37:46 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Fri, 26 Apr 2024 13:37:46 +0200 Subject: [IPK] Gaza-Krieg: Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus Message-ID: <037d01da97ce$293cd280$7bb67780$@inprekorr.de> Dossier Gaza-Krieg: Zusammenstehen gegen Krieg und Rassismus Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-uw.htm ------------------------------------------------------------------- Trotz des immensen Drucks durch die Regierung und weite Teile der israelischen Gesellschaft kommt es in Israel immer wieder zu Mobilisierungen gegen den Gazakrieg und die Apartheid gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Das Interview mit *Uri Weltmann* wurde am 24. Dezember 2023 von *Federico Fuentes* für das australische Magazin/ LINKS International Journal of Socialist Renewal /geführt. Interview mit Uri Weltmann ?? Wie wird Israels Krieg gegen den Gazastreifen nach mehr als zwei Monaten Krieg und steigenden Opferzahlen von der israelischen Gesellschaft wahrgenommen? Und wie haben die Israelis auf das Vorgehen von Premierminister Benjamin Netanjahu seit dem 7. Oktober reagiert? Der 7. Oktober war ein schrecklicher Moment für die israelische Gesellschaft. Der brutale Angriff der Hamas auf Städte und Dörfer – bei dem Zivilisten, darunter Kinder und ältere Menschen, in ihren Häusern ermordet und 240 Israelis als Geiseln genommen wurden – hat unsere Gesellschaft schockiert und in Trauer und Wut versetzt. Daher hat der Krieg in der israelischen Öffentlichkeit breite Unterstützung gefunden und Netanjahus Behauptung, dass es dabei darum gehe, „die Hamas-Herrschaft zu stürzen“, wurde von den meisten Kommentatoren und Politikern nicht in Frage gestellt. Mehr als zwei Monate nach Beginn des Krieges wächst jedoch die Unzufriedenheit mit Netanjahus Politik. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Israelischen Instituts für Demokratie zeigt, dass zwei Drittel der Israelis glauben, die Regierung habe keinen klaren Plan für den Tag nach dem Krieg. Eine große Mehrheit ist auch der Meinung, dass nach dem Krieg vorgezogene Wahlen abgehalten werden sollten. Meinungsumfragen gehen davon aus, dass die regierende Likud-Partei bei einer solchen Wahl ein Drittel ihrer Sitze verlieren würde und dass die Parteien in Netanjahus rechtsextremer Koalition ihre Mehrheit in der Knesset verlieren würden. Diese Unzufriedenheit äußert sich vor allem auf der Straße in Form einer wachsenden Protestbewegung, die von den Familien und Freunden der in Gaza gefangen gehaltenen israelischen Geiseln angeführt wird. Sie fordern Verhandlungen über ein Waffenstillstandsabkommen, das den Geiseln die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen würde. Etwa 130 Geiseln befinden sich noch im Gazastreifen, darunter ältere Bürger, die medizinische Hilfe benötigen, und sogar Kinder, darunter ein 11 Monate altes Baby. Die Proteste dieser Familien werden von breiten Schichten der israelischen Gesellschaft unterstützt, obwohl sie die Regierung scharf kritisieren. Im ganzen Land sind deswegen Zehntausende auf die Straße gegangen und haben maßgeblich dafür gesorgt, dass die Regierung in das Waffenstillstandsabkommen im November einwilligen musste und weiterhin unter Druck gesetzt wird, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass es in den ersten zehn Monaten des Jahres 2023, also im Vorfeld des Krieges, in Israel eine Massenprotestbewegung gegen die von Netanjahu geplante Justizreform gab, die es seiner Regierung ermöglicht hätte, durch die Ernennung von Richtern und die Beschneidung demokratischer Freiheiten mehr Macht in ihren Händen zu konzentrieren. Auch wenn diese Proteste nach dem 7. Oktober so nicht mehr weitergeführt wurden, haben sie doch für eine allgemeine Ablehnung gegenüber der Regierung Netanjahu gesorgt. ?? Standing Together hat in ganz Israel jüdisch-arabische Solidaritätskundgebungen organisiert. Außerdem hat Standing Together die „jüdisch-arabischen Solidaritätswachen“ ins Leben gerufen, die in Konfliktfällen deeskalieren sollen. Was gibt es über diese Initiativen und die Resonanz darauf zu erzählen? An jeder unserer jüdisch-arabischen Solidaritätskundgebungen in Städten in ganz Israel haben Hunderte von Menschen teilgenommen, trotz der Versuche von Rechtsextremisten, Druck auf die Vermieter der von uns gemieteten Veranstaltungssäle auszuüben, damit sie ihre Zusage zurückziehen. Auf diesen Kundgebungen sprachen jüdische und arabische Vertreter von Standing Together, die sich für den israelisch-palästinensischen Frieden, die Beendigung der Besatzung und der rassistischen Hexenjagd gegen palästinensische Bürger Israels, die öffentlich gegen die Ungerechtigkeiten des Krieges auftreten, einsetzten. Unser öffentlich vorgetragenes Anliegen ist die volle Gleichberechtigung – als Personen und Nation – für die palästinensischen Bürger*innen Israels sowie der Widerstand gegen den schrecklichen menschlichen Tribut, den der Krieg gegen Gaza unter den unschuldigen Zivilist*innen fordert. Wir tun dies nicht von außen, sondern mitten aus der Gesellschaft heraus, mit tiefem Mitgefühl für unsere Freunde, Verwandten, Mitarbeiter und Partner, die am 7. Oktober bei dem ungerechtfertigten und unvertretbaren Terrorangriff der Hamas auf Zivilisten ihre Angehörigen verloren haben. Die bisher größte Kundgebung fand in Haifa statt, wo 700 Menschen teilnahmen. Rechtsradikale übten Druck aus, um uns daran zu hindern, unsere Kundgebung in einer Veranstaltungshalle abzuhalten, also gingen wir in die Moschee im Stadtteil Kababir in Haifa. Für mich persönlich war es das erste Mal, dass ich eine politische Veranstaltung in einer Moschee organisierte. Dennoch kamen Hunderte von jüdischen und arabisch-palästinensischen Einwohnern von Haifa! […] Standing Together hat außerdem im ganzen Land lokale Gruppen gegründet, die sich Jüdisch-Arabische Solidaritätsnetzwerke oder Jüdisch-Arabische Solidaritätswachen nennen, um gewappnet zu sein, da die politische Führung des israelischen Staates die jüdischen gegen die palästinensischen Bürger*innen aufwiegelt. Itamar Ben-Gvir – der radikalste unter den nationalistischen Hardlinern, der jemals an einer israelischen Regierung beteiligt war – gibt offen zu, ein Szenario wie im Mai 2021 entfachen zu wollen. Er hat Waffen verteilt und dazu aufgefordert, lokale Milizen in großen gemischten Städten wie Yafa, Haifa, Akko und Lyd zu bilden. Dies ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Anstatt die Hände in den Schoß zu legen und der Rechten die Initiative zu überlassen, diese gefährliche Entwicklung voranzutreiben, haben wir von Standing Together zusammen mit anderen Partnern vor Ort gearbeitet und diese Solidaritätsnetzwerke aufgebaut, um jüdische und arabische Einwohner aus verschiedenen Vierteln derselben Stadt oder benachbarter Städte zusammenzubringen, um Solidarität und gegenseitige Hilfe zu leisten und Gleichheit und Antirassismus im öffentlichen Raum zu fördern. Die Solidaritätswache hat auch eine Hotline eingerichtet, die von Freiwilligen betrieben wird und bei der Menschen um Hilfe bitten können. Wir bekämpfen Rassismus und Diskriminierung und unterstützen arabische Bürger, die an ihrem Arbeitsplatz oder in höheren Bildungsstätten diskriminiert oder schikaniert werden. Wir haben auch rassistische und Gewalt verherrlichende Aufrufe aus dem öffentlichen Raum entfernt und andere aufgestellt, die zu Frieden und Solidarität aufrufen. Einige unserer Gruppen waren mit staatlichen Repressionen konfrontiert. Aktivisten von Standing Together in Westjerusalem, sowohl Juden als auch Palästinenser, wurden von der Polizei verhaftet, weil sie Plakate aufgehängt hatten, auf denen stand: „Juden und Araber, wir werden das gemeinsam durchstehen“. Dies zeigt das momentane Ausmaß der Volksverhetzung in Israel. ?? Die Ereignisse der letzten Wochen haben viele zu dem Schluss veranlasst, dass die Option einer Zwei-Staaten-Lösung vom Tisch ist. Wie sieht Standing Together das Thema Ein-Staaten- vs. Zwei-Staaten-Lösung und wie wirkt sich dieser Krieg darauf aus? Alle Diskussionen über die Zukunft dieses Landes müssen auf einer ganz grundlegenden Prämisse aufbauen: Es gibt Millionen jüdischer Israelis in diesem Land, und keiner von ihnen wird fortziehen, ebenso wenig wie die Millionen arabischer Palästinenser in diesem Land. Diese Prämisse sollte der Eckpfeiler jeder ernsthaften Diskussion darüber sein, wie der jahrzehntelange gewaltsame nationale Konflikt beendet werden kann. Dies ist nicht die Auffassung des israelischen politischen Establishments, das in den letzten zwanzig Jahren das Konzept der „Konfliktbewältigung“ vertreten hat. Dieses Paradigma, das jedoch am 7. Oktober völlig gescheitert ist, besagt, dass die Lösung der palästinensischen Frage nicht dringlich ist und dass Israel weiterhin seine Militärherrschaft über Millionen von Palästinensern im Westjordanland, in Ostjerusalem und im Gazastreifen aufrechterhalten kann, die keine Staatsbürgerschaft haben und denen grundlegende Menschenrechte verweigert werden. Das israelische politische Establishment ist der Ansicht, dass gelegentliche Gewaltausbrüche zwar bedauerlich sind, aber nur lokal und ephemer auftreten werden und dazwischen Jahre der „Normalität“ liegen. Dies ist nicht nur Netanjahus Meinung, sondern auch die seiner politischen Gegner innerhalb des Establishments, wie z. B. Naftali Bennet, der, bevor er Premierminister wurde, sagte, der israelisch-palästinensische Konflikt könne nicht gelöst werden, sondern müsse ertragen werden, wie ein „Schrapnell im Hintern“. Der 7. Oktober hat gezeigt, dass – wie gesagt – dieses Konzept der „Konfliktbewältigung“ gescheitert ist. Jeder Gedanke an eine ewige Militärherrschaft über die Millionen von Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten ist zum Scheitern verurteilt und führt zu weiterer Gewalt und untergräbt zudem die Sicherheit sowohl der Palästinenser als auch der Israelis. Das palästinensische Volk wird nicht bereit sein, auf sein Recht auf nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat zu verzichten. Unter den gegebenen Kräfteverhältnissen besteht daher die Wahl zwischen der Zwangsumsiedlung von Millionen Palästinensern, die damit erneut zu Flüchtlingen werden (eine Option, die von einigen im israelischen Establishment nicht ausgeschlossen wird), der physischen Vernichtung eines ganzen Volkes (wovon einige ultranationalistische Politiker offen sprechen) oder der Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Souveränität und Unabhängigkeit. Diese letzte Option ist eine Schreckensvision für die israelische Rechte. Die von Bezalel Smotrich geführte Partei des religiösen Zionismus ließ kürzlich ein riesiges Plakat an der Ayalon-Autobahn im Zentrum von Tel Aviv aufstellen mit der Aufschrift „Die Palästinensische Autonomiebehörde = Hamas“. Sie wissen, dass nach dem 7. Oktober immer mehr Stimmen laut werden, die vertreten, dass eine Rückkehr zum Status quo ante bellum unmöglich ist und dass die Verhandlungen mit der PLO im Hinblick auf eine diplomatische Lösung wieder angedacht werden müssen, vor allem, wenn die Mitte-Links-Parteien eine Mehrheit in der Knesset erreichen, wie es die Meinungsumfragen nahelegen. Standing Together setzt sich für das Recht beider Völker in unserem Land ein, in Frieden, Sicherheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit zu leben, und unterstützt die Forderung nach einer Wiederaufnahme der Gespräche mit der PLO, um ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen zu erreichen. Sowohl die Hamas als auch der Likud leugnen das Recht des jeweils anderen Volkes auf ein Leben in Frieden und Sicherheit. Wir stellen uns dagegen und auf die Seite der Menschen in diesem Land, die eine sichere Zukunft verdienen. Uri Weltmann ist nationaler Organisator von Standing Together. Übersetzung: MiWe ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Fri Apr 26 21:14:47 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Fri, 26 Apr 2024 21:14:47 +0200 Subject: [IPK] =?iso-8859-1?q?Gaza-Krieg=3A_Den_Sack_schl=E4gt_man=2C_den?= =?iso-8859-1?q?_Esel_meint_man_=28UNRWA=29?= Message-ID: <004301da980e$019113a0$04b33ae0$@inprekorr.de> Dossier Gaza-Krieg: Den Sack schlägt man, den Esel meint man Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-pb.htm ------------------------------------------------------------------- Seit Jahren schon versucht das israelische Regime, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) mit konstruierten Anschuldigungen zu diskreditieren und damit der palästinensischen Diaspora den Status als rückkehrwillige Flüchtlinge zu entziehen. Jetzt geht Israel einen Schritt weiter und verweigert den Lebensmittelkonvois der UNRWA den Zutritt nach Gaza. Von Peter Beinart Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), das seit 1949 Bildung, Gesundheitsversorgung und andere wichtige Dienstleistungen für palästinensische Flüchtlinge bereitstellt, könnte bald verschwinden. In den letzten Wochen haben die USA und mindestens 18 weitere Länder die Hilfe für das Hilfswerk, das im Gazastreifen, im Westjordanland, in Ostjerusalem, Jordanien, im Libanon und in Syrien tätig ist und mehr als fünf Millionen Menschen betreut, ausgesetzt. Sowohl das Repräsentantenhaus als auch der Senat erwägen ein Gesetz, das verhindern soll, dass die USA – der größte Geber des UNRWA – die Finanzhilfe jemals wieder aufnehmen. UNRWA-Vertreter haben erklärt, dass das Hilfswerk seine Arbeit wahrscheinlich schon Ende dieses Monats einstellen wird, wenn die Finanzierung nicht wiederaufgenommen wird. Die gegenwärtigen Bemühungen um die Abschaffung der UNRWA gehen auf Ende Januar zurück, als Israel behauptete, dass 12 Mitarbeiter des Hilfswerks an dem Massaker vom 7. Oktober beteiligt wären und rund 1200 Mitarbeiter – 10 % der UNRWA-Belegschaft in Gaza – Verbindungen zur Hamas oder anderen militanten Gruppen hätten. Israel und seine Unterstützer in den USA versuchen jedoch schon seit mindestens einem Jahrzehnt, die Organisation zu unterminieren. Als 2018 durchgesickerte E-Mails enthüllten, dass Jared Kushner, der damalige Schwiegersohn und Chefberater von Präsident Donald Trump, versuchte, „die UNRWA zu zerschlagen“, weil die Organisation „den Status quo aufrechterhält“ und „korrupt, ineffizient und nicht friedensdienlich ist“, sprangen etliche jüdische Lobby-Organisationen Kushner zur Seite. Der Dachverband jüdischer Organisationen (Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations) erklärte, die UNRWA sei „nicht die Antwort“ auf die humanitären Bedürfnisse der Palästinenser. (Die Trump-Regierung stellte später die US-Hilfe für die UNRWA ein; Joe Biden stellte die Finanzierung kurz nach seinem Amtsantritt wieder her). Im Jahr 2021 forderte der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, dass „diese UN-Agentur für sogenannte ‚Flüchtlinge‘ in ihrer derzeitigen Form nicht existieren darf“. Diese langjährige Kampagne gegen die UNRWA offenbart ein tieferes Muster im israelischen politischen Diskurs: die Neigung, die Palästinenser nicht als ein Volk mit eigenen politischen Ansichten und Bestrebungen zu betrachten, sondern als Marionetten, die von jemand anderem gesteuert werden. Seit über 40 Jahren ist der jetzige israelische Premierminister Benjamin Netanjahu der herausragende Vertreter dieser Propaganda. Noch vor seiner Kandidatur bezeichnete er 1982 in einem Interview mit dem evangelikalen Scharfmacher Pat Robertson die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als „Hauptvertreter“ der Sowjetunion. Als die Sowjetunion zerfiel, die PLO aber nicht, verstieg sich Netanjahu dazu, diese als Werkzeug feindlicher arabischer Regime zu denunzieren und bezeichnete sie in seinem Buch A Durable Peace” aus dem Jahr 2000 als „panarabisches trojanisches Pferd“. In dieser Logik argumentierte er 2018, dass ein Frieden mit arabischen Regierungen das palästinensische Problem hinfällig machen würde. „Normalisieren Sie die Beziehungen zu den 99 Prozent“ der Araber, erklärte er, „und Sie werden schließlich Frieden mit dem einen Prozent erlangen.“ Heute bezeichnet Netanjahu die Hamas regelmäßig als „iranischen Statthalter“, obwohl die Hamas sich Teheran widersetzt hat, indem sie die Rebellion gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad unterstützt hat. In seiner 2018 erschienenen Biografie über den Premierminister schreibt der Haaretz-Kolumnist Anshel Pfeffer: „Netanjahu hat immer behauptet dass die palästinensische Frage ein Ablenkungsmanöver und kein zentrales Problem in der Region sei“. Auch die UNRWA ist nichts als ein weiterer Popanz, mit dem Netanjahu und seine Anhänger glauben machen wollen, dass Israels „Probleme“ mit den Palästinensern nicht in erster Linie auf deren Reaktionen auf die israelische Unterdrückung zurückzuführen sind, sondern auf „äußere Einmischung“. Die israelische Regierung und ihre Verbündeten im Ausland erheben zwei Hauptvorwürfe gegen die UNRWA. Erstens, dass es gewaltsamen Widerstand unter den Palästinensern schürt; zweitens, dass es deren Träume von einer Rückkehr in ihre Heimat aufrechterhält. In beiden Fällen verwechseln Netanjahu und Konsorten Ursache und Wirkung und geben der UNRWA die Schuld am (politischen) Vorgehen der Palästinenser, das die Folge ihres Status als Flüchtlinge ist – also die Enteignung ihres Landes, die somit erst der Grund für die Einrichtung der UNRWA geworden ist. Netanjahu behauptet, dass die Abschaffung der UNRWA und die Übergabe seiner Aufgaben an „andere UN-Organisationen und andere Hilfsorganisationen“ Israel sicherer machen würde, weil es von der Hamas unterwandert ist. Aber selbst wenn die israelischen Anschuldigungen gegen die UNRWA zutreffen – was schwer festzustellen ist, da nur wenige Journalisten die „Beweise“ gesehen haben –, ist nicht klar, warum die Ersetzung der UNRWA die Sicherheit Israels verbessern würde. Jede Hilfsorganisation, die im Gazastreifen arbeitet, würde die meisten ihrer Mitarbeiter aus den Einwohnern des Gazastreifens rekrutieren, so wie es die UNRWA tut. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter aus einer Bevölkerung stammen, die größtenteils aus Familien besteht, die 1948 aus dem heutigen Israel vertrieben wurden oder aus Angst geflohen sind, was die Palästinenser*innen die Nakba nennen. Seitdem versuchen die Palästinenser in Gaza – manchmal gewaltsam und manchmal gewaltlos – zurückzukehren. Um dies zu verhindern, ist Israel seit den 1950er Jahren immer mal wieder in den Gazastreifen einmarschiert und hat ihn bombardiert. Seit 1967 ist der Gazastreifen besetzt und seit 2007, nach dem Abzug des Militärs und der Siedlungen im Jahr 2005, hält Israel die Region mit Unterstützung Ägyptens unter einer Blockade und hat damit ein „Freiluftgefängnis“ geschaffen, wie Human Rights Watch es nennt. Seit dem 7. Oktober hat Israel fast 30 000 Palästinenser*innen in Gaza getötet und 90 % von ihnen aus ihren Häusern vertrieben. Angesichts des Ausmaßes der Gewalt, die Israel den Palästinensern in Gaza angetan hat, ist es kaum überraschend, dass viele Bewohner*innen des Gazastreifens glauben, die Palästinenser hätten das Recht, selbst Gewalt anzuwenden. Das rechtfertigt nicht die palästinensischen Angriffe auf israelische Zivilisten. Aber es bedeutet, dass es wenig Grund zu der Annahme gibt, dass eine Nachfolgeorganisation ihre Mitarbeiter wirksamer gegenüber bewaffneten Gruppen isolieren würde, als die UNRWA es getan hat. Dieses Problem besteht nicht nur in Gaza. Forschungen zeigen, dass Flüchtlinge oft den bewaffneten Widerstand gegen die Staaten unterstützen, die sie vertrieben haben. Und wie der Büroleiter der New York Times in Jerusalem, Patrick Kingsley, kürzlich einräumte, „wird Ihnen jeder erfahrene Entwicklungshelfer sagen, dass es eine ständige Herausforderung ist, die Unabhängigkeit von bewaffneten Gruppen oder Rebellengruppen zu wahren, sei es im Südsudan oder im Norden Sri Lankas“. Die UNRWA hat Praktiken entwickelt, um dieses Problem zu lösen. Nach Angaben des UNRWA-Direktors in Washington, William Deere, teilt das Hilfswerk Israel jährlich die Namen, Mitarbeiternummern und Funktionen aller seiner Mitarbeiter im Gazastreifen, in Ostjerusalem und im Westjordanland mit und überprüft sie zweimal jährlich anhand der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrats. Seit Israel seine Anschuldigungen erhoben hat, hat die UNRWA neun der zwölf Mitarbeiter, die beschuldigt werden, an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt gewesen zu sein, entlassen, ohne dass Beweise für die Anschuldigungen vorlagen (zwei sind tot und einer wird noch identifiziert), und die Vereinten Nationen haben zwei Untersuchungen zu den konkreten Anschuldigungen und zum Verhalten der UNRWA im Allgemeinen eingeleitet, aus denen Empfehlungen für weitere Sicherheitsmaßnahmen hervorgehen könnten. In Anbetracht all dessen gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass eine Nachfolgeorganisation ihre Mitarbeiter effektiver gegenüber bewaffneten Gruppen isolieren könnte als die UNRWA. Da kein anderes Hilfswerk in der Lage ist, die Leistungen der UNRWA zu erbringen, würde eine Ersetzung des Hilfswerks die ohnehin schon bedrückende humanitäre Krise im Gazastreifen noch verschärfen und damit wahrscheinlich zu einer weiteren Radikalisierung führen. Ein weiteres zentrales Argument von Netanjahu und Konsorten gegen die UNRWA ist, dass es palästinensische Träume von der Rückkehr der Flüchtlinge schürt, die Israel seit Jahrzehnten zu unterdrücken versucht. Wie üblich hat Netanjahu das Problem nicht in erster Linie bei den Palästinensern selbst, sondern bei den externen Akteuren verortet, die sie angeblich kontrollieren. In A Durable Peace (Ein dauerhafter Frieden) beklagt er die „beständige Weigerung der arabischen Führer, dieses Problem zu lösen“, und wirft ihnen vor, sie hätten „die Flüchtlingsfrage instrumentalisiert, um einer weltweiten Kritik an Israel Vorschub zu leisten“. Vermutlich weil sich Israels Beziehungen zu den arabischen Staaten verbessert haben, hat Netanjahu zuletzt vorwiegend auf die UNRWA eingedroschen. Im Jahr 2018 und auch letzten Monat forderte er die Abschaffung der Organisation, weil sie „das palästinensische Flüchtlingsproblem aufrechterhält“. Aber so wie bei der Frage der Infiltration durch bewaffnete Gruppen verkennt Netanjahu die Zusammenhänge. Die UNRWA zwingt die palästinensischen Flüchtlinge nicht zur Rückkehr; das UNRWA existiert, weil die palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren wollen und nach internationalem Recht dazu berechtigt sind. Die Abschaffung des Hilfswerks würde den Palästinensern nicht das Recht auf Rückkehr nehmen, das sich nicht aus der UNRWA, sondern aus der Resolution 194 der Vereinten Nationen ergibt, in der 1948 erklärt wurde, „dass denjenigen Flüchtlingen, die zu ihren Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden soll“ und die von den Vereinten Nationen mehr als 100 Mal bekräftigt wurde. Dies würde die Palästinenser nicht daran hindern, den Flüchtlingsstatus an ihre Kinder weiterzugeben, da, wie die Vereinten Nationen erklären, „nach dem Völkerrecht und dem Grundsatz der Einheit der Familie auch die Kinder von Flüchtlingen und ihre Nachkommen als Flüchtlinge gelten, bis eine dauerhafte Lösung gefunden ist.“ Dieser Grundsatz gilt nicht nur für die UNRWA, sondern auch für das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), das am häufigsten als Ersatz für die UNRWA vorgeschlagen wird und das mehrere Generationen von Flüchtlingen von Afghanistan über Somalia bis Tibet betreut. Die Anhänger Israels bilden sich zwar ein, dass die Übergabe der palästinensischen Flüchtlinge an das UNHCR ihre Umsiedlung in Nachbarländer bedeuten würde, doch das ist äußerst selten. Die Wahrscheinlichkeit, dass UNHCR-Flüchtlinge in das Land zurückkehren sollen, aus dem sie geflohen sind oder vertrieben wurden, ist sehr viel größer – just das, was Netanjahu und seine Unterstützer*innen verhindern wollen. Außerdem würde die Abschaffung der UNRWA die Sehnsucht der Palästinenser nach Rückkehr nicht auslöschen, denn diese Sehnsucht ist ein zentraler Bestandteil des palästinensischen Selbstverständnisses. Der palästinensische Ex-Knesset-Abgeordnete Yusuf Jabarin sagt hierzu: „Die palästinensische Gesellschaft wurde im territorialen Sinne völlig besiegt; es blieb kein einziger Quadratzentimeter übrig. Der einzige ihr verbliebene oppositionelle Raum war virtuell – das kollektive Gedächtnis“. Die Palästinenser pflegen dieses kollektive Gedächtnis auf vielfältige Weise. Die Politikwissenschaftlerin Leila Khalili hat festgestellt, dass Palästinenser manchmal ihre Töchter nach ihren verlorenen Heimatdörfern benennen. Der palästinensische Forscher Tarek Bakri beschreibt, dass „jeder Palästinenser, der sein Dorf oder sein Land zum ersten Mal besucht, eine Handvoll Erde mitnimmt“. Im März 2018 – 70 Jahre nach der Nakba – begannen Zehntausende Palästinenser, jeden Freitag im Rahmen des „Großen Marsches der Rückkehr“ zur Grenze zwischen Gaza und Israel zu marschieren, und sie hielten mehr als ein Jahr lang durch, obwohl israelische Scharfschützen und Drohnen mehr als 200 Menschen töteten und mehr als 36 000 verletzten. Die UNRWA hat die Palästinenser nicht dazu veranlasst, dies zu tun. Im Gegenteil, wie der Wissenschaftler Jalal Al Husseini ausführlich dargelegt hat, haben sich die Palästinenser wiederholt gegen UNRWA-Initiativen gewehrt, die ihrer Meinung nach darauf abzielten, sie in ihre Gastländer umzusiedeln, und haben die Organisation dafür kritisiert, dass sie sich nicht ausreichend für ihre Rückkehr einsetzt. Dass israelische und US-amerikanische jüdische Funktionäre diese Sehnsucht nicht begreifen, ist zutiefst ironisch. Jahrzehntelang haben sie argumentiert, dass die Palästinenser ihren Wunsch nach Rückkehr aufgeben, ihre nationale Identität verleugnen und Libanesen, Syrer oder Kanadier werden würden, wenn nur die arabischen Regierungen oder die UNRWA aufhören würden, sie zur Rückkehr zu ermutigen. Aber Israels eigene Unabhängigkeitserklärung rühmt sich, dass „das Volk, nachdem es gewaltsam aus seinem Land vertrieben wurde, ihm während seiner Diaspora die Treue hielt und nie aufhörte, für seine Rückkehr zu beten und zu hoffen“. Die Sehnsucht nach nationaler Rückkehr – ganz gleich, wie viel Zeit vergeht oder wie viel Entbehrungen zu ertragen sind – ist ein zentrales Element des Zionismus selbst. Mit seinen US-Verbündeten könnte Netanjahu in den kommenden Monaten damit durchkommen, die UNRWA lahmzulegen oder gar abzuschaffen. Wenn ihm dies gelingt, werden noch mehr Palästinenser*innen an ihren Verletzungen, ihrer Schutzlosigkeit, Krankheit oder Hunger sterben, weil keine Hilfsorganisation es angemessen ersetzen kann. Wie Jan Egland, Generalsekretär des norwegischen Flüchtlingsrats, kürzlich erklärte: „Wir alle zusammen und auch andere Gruppen können nicht einmal annähernd das leisten, was die UNRWA für die Menschen in Gaza tut“. Aber selbst wenn es Netanjahu und seinen Verbündeten gelingen sollte, die UNRWA zu zerstören, werden sie bei ihrem langjährigen Ziel, den Wunsch der Palästinenser zu zerstören, sich auf ihrem angestammten Land als Nation neu zu konstituieren, nur wenig vorankommen, da dieser Wunsch keiner Erlaubnis bedarf. aus Jewish currents vom 13. Februar2024 Peter Beinart lebt in New York und ist Herausgeber von „Jewish Currents“. Übersetzung:MiWe ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Sun Apr 28 20:16:43 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Sun, 28 Apr 2024 20:16:43 +0200 Subject: [IPK] =?iso-8859-1?q?Gaza-Krieg=3A_Wie_der_V=F6lkermord_gestoppt?= =?iso-8859-1?q?_werden_kann?= Message-ID: <026901da9998$39552110$abff6330$@inprekorr.de> Dossier Gaza-Krieg: Wie der Völkermord gestoppt werden kann Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-mw.htm ------------------------------------------------------------------- Wenn die Nationen der Welt – insbesondere die USA und die arabischen Länder – Israels Schlächtereien, Folter und ethnische Säuberung im Gazastreifen ernsthaft stoppen wollten, könnten sie dies sofort tun, indem sie die Öl-, Waffen- und Technologieimporte und -exporte nach Israel aussetzen. Von Marcy Winograd STOPPT DIE WAFFENLIEFERUNGEN! In einer Pressemitteilung vom Februar gaben sieben nationale Gewerkschaften und über zweihundert lokale Gewerkschaften die Gründung des National Labor Network for Ceasefire (NLNC) bekannt, um „dem Tod und der Verwüstung“ im Nahen Osten ein Ende zu setzen und bei den Gewerkschaften im ganzen Land Unterstützung für den Waffenstillstand zu gewinnen. Nach Angaben des NLNC vertreten die Gewerkschaften, die einen Waffenstillstand fordern, über 9 Millionen Gewerkschaftsmitglieder, d. h. mehr als die Hälfte der Gewerkschaftsbewegung in den Vereinigten Staaten. Zu den sieben nationalen Gewerkschaften gehören: American Postal Workers Union (APWU), die Association of Flight Attendants (AFA-CWA), die International Union of Painters and Allied Trades (IUPAT), die National Education Association (NEA), National Nurses United (NNU), die United Auto Workers (UAW) und die United Electrical Workers (UE). Bis vor kurzem war Italien für fünf Prozent der israelischen Waffenkäufe – Hubschrauber und Marineartillerie – in den letzten zehn Jahren verantwortlich. Der italienische Außenminister Antonio Tajani behauptet jedoch, dass Italien nach der kollektiven Bestrafung des Gazastreifens seit dem 7. Oktober alle Waffenlieferungen an Israel eingestellt hat. Wenn das stimmt, schließt sich Italien damit Spanien und Belgien an, die ebenfalls Waffenverkäufe oder Munitionslieferungen an Israel während der Bombardierung des Gazastreifens ausgesetzt haben. Mitte Februar wies ein niederländisches Berufungsgericht die Niederlande an, die Ersatzteillieferung für F-35-Kampfjets an Israel einzustellen. „Das Gericht stellt fest, dass eindeutig die Gefahr besteht, dass Israels F-35-Kampfjets für schwere Völkerrechtsverstöße eingesetzt werden könnten“, urteilte das Gericht auf eine Klage von Oxfam und anderen Menschenrechtsgruppen hin. In einem Offenen Brief an Kanadas Außenministerin Mélanie Joly forderten mehr als ein Dutzend Organisationen, darunter die Anglikanische Kirche Kanadas, Human Rights Watch und Oxfam Canada, Kanada auf, seine Verkäufe von Waffen und militärischem Gerät, die sich in den letzten zehn Jahren auf mehr als 100 Millionen Dollar beliefen, an Israel zu stoppen. Das kanadische Außenministerium besteht darauf, dass es seit über 30 Jahren keine Genehmigungen für „vollständige Waffensysteme für größere konventionelle Waffen oder leichte Waffen an Israel“ erteilt hat. Die Befürworter des Waffenstillstands argumentieren, ihre Regierung würde nicht offenlegen, welche Komponenten sie für Raketen und Bomben liefert, wenn sie „seit dem 7. Oktober weiterhin Waffenexporte genehmigt, obwohl eindeutig die Gefahr eines Völkermords in Gaza besteht.“ DIE WAFFENLIEFERANTEN Zu den Regierungen, die den israelischen Völkermord unterstützen, gehören an erster Stelle die USA, die seit Jahrzehnten ihren Statthalter im öl- und gasreichen Nahen Osten subventionieren. Nach Angaben des Außenministeriums haben die USA Israels Militärapparat seit 1948, als zionistische Terroristen mehr als 500 Dörfer zerstörten oder niederbrannten, um einen jüdischen Staat auf palästinensischem Land zu errichten, mit über 130 Milliarden Dollar unterstützt. Das US-Außenministerium behauptet stolz, dass US-Subventionen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), die von Kritikern als israelische Besatzungstruppen (IOF) bezeichnet werden, „zu einer der fähigsten und effektivsten Streitkräfte der Welt gemacht haben …“ Seit dem 7. Oktober haben die USA Israel mit 15 000 Bomben, 57 000 Artilleriegranaten und einhundert 2000-Pfund-Bunkerbomben beliefert, um tiefe unterirdische Tunnel unter Wohnungen, Krankenhäusern und Flüchtlingslagern zu zerstören und dicht besiedelte Stadtteile in Friedhöfe zu verwandeln. In einem Bericht (Die Unternehmen, die von Israels Angriffen auf Gaza 2023–2024 profitieren) dokumentiert das American Friends Service Committee die Rolle der US-Militärfirmen bei der Beihilfe zum Völkermord in Gaza: Raytheon (RTX) mit Sitz in Waltham, MA, stattet das israelische Militär mit Luft-Boden-Raketen für seine F-16-Kampfjets sowie mit international geächteten Streubomben und Bunkerbrechern aus. Northrop Grumman mit Sitz in Falls Church, VA, beliefert Israel mit Longbow-Raketenträgersystemen, während Lockheed Martin mit Hauptsitz in Bethesda, MD, Israel mit Hellfire-Raketen, F-16- und F-35-Kampfflugzeugen versorgt, deren Triebwerksteile von Pratt & Whitney, einem Unternehmen aus Farmington, CT, gewartet werden, das 2015 einen 15-Jahres-Vertrag mit dem israelischen Militär unterzeichnet hat. „Pratt & Whitney fühlt sich durch das Vertrauen, das die israelische Führung in uns setzt, geehrt. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit der lokalen Industrie, um die israelischen Streitkräfte weiterhin langfristig zu unterstützen“, sagte Bennett Croswell, Präsident von Pratt & Whitney Military Engines. Sieht man sich die Lieferketten näher an, stellt man fest, dass auch China eine entscheidende Rolle bei der Beendigung des Völkermords spielen könnte, indem es die Produktion von Magneten, die in von Honeywell gelieferten Turbomaschinenpumpen verwendet werden, und von Platinen für die F-35-Kampfjets, die den Gazastreifen bombardieren, einstellt. Als das Pentagon im Jahr 2022 feststellte, dass Teile der F-35 in China hergestellt wurden, stoppte es die Lieferung dieser Teile, um dann zwei Tage später eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, da die Komponenten als zu kritisch angesehen wurden, um sie zu blockieren. Was würde passieren, wenn die US-Militärfirmen den Forderungen der Kriegsgegner in Massachusetts, Kalifornien und Arizona nachgeben würden, die vor den Büros von Raytheon demonstrieren? Wenn der Kongress und das Weiße Haus die jährlichen Subventionen von fast 4 Milliarden Dollar für das israelische Militär einstellen würden? Wenn die Universitäten die Resolutionen der Studenten umsetzen würden, so wie die Universität von Kalifornien in Davis, die beschlossen hat, sich von Unternehmen zu trennen, die von der israelischen Besatzung profitieren? Da die USA rund 15 % des israelischen Militärbudgets bereitstellen, müssten Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und seine rechtsextreme Koalition wohl ihre Offensive zur Auslöschung der Palästinenser überdenken oder ihre Waffenimporte aus anderen Ländern erhöhen, etwa aus Deutschland, das seine Waffenexporte nach Israel seit dem 7. Oktober verzehnfacht hat und laut Reuters Genehmigungen im Wert von fast 323 Millionen Dollar erteilt hat. WELTWEITE KOMPLIZENSCHAFT Im Juni 2023, wenige Monate vor dem Hamas-Überfall und am Vorabend eines Normalisierungsabkommens mit Saudi-Arabien, meldete das israelische Verteidigungsministerium, dass das Land im Jahr 2022 Militärprodukte im Wert von über 12 Milliarden Dollar exportiert habe – Drohnen, Raketen, Luftabwehrsysteme –, wobei fast ein Viertel der Verkäufe an arabische Länder gingen, die die Abraham-Abkommen unterzeichnet haben. Das israelische Verteidigungsministerium wollte seine Waffenkunden nicht nennen, aber zu den Unterzeichnern und Unterstützern des Abraham-Abkommens gehören die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und der Sudan. Minar Adley von Mint Press berichtet, dass Marokko eine militärische Geheimdienstbasis für Israel in Afso an der Grenze zu Algerien errichtet, einem Land, das Israels Völkermord entschieden verurteilt und den UN-Sicherheitsrat zur Unterstützung eines Waffenstillstands gedrängt hat. In „Warum Marokko die Beziehungen zu Israel nicht kappen wird” argumentiert Sarah Zaaimi vom Atlantic Council, dass die marokkanische Regierung trotz massiver Straßenproteste und eines marokkanischen Konsulats in Gaza nicht mit Israel brechen wird, weil die Beziehung „eine Frage der nationalen Sicherheit für eine Monarchie ist, die es geschafft hat, zwölf Jahrhunderte lang zu überleben“. Elbit Systems, Israels größter Waffenhersteller, plant den Bau von zwei Waffenfabriken in Marokko, während Elbit Systems in den Vereinigten Arabischen Emiraten Elbit System Emirates gegründet hat, um die „langfristige Zusammenarbeit“ mit dem israelischen Militär zu fördern. CNN berichtet, dass die USA im Januar in aller Diskretion ein Abkommen mit Katar geschlossen haben, das den Betrieb der größten US-Militärbasis im Nahen Osten für weitere zehn Jahre vorsieht. Der Stützpunkt, der bis zu 10 000 Soldaten beherbergen kann, ist ein „zentraler Knotenpunkt für die Luftoperationen des US Central Command in oder um Afghanistan, Iran und im gesamten Nahen Osten“. Nebenan, im Hauptquartier der US-Marine in Bahrain, hat die Fünfte Flotte der USA, die mit 7000 US-Marines im Roten Meer stationiert ist, ihre Kommandozentrale. ------------ KASTEN ----------------------------------------------- DEUTSCHE BEIHILFE ZUM VÖLKERMORD Seit dem 7. Oktober haben die USA Israel mit 15 000 Bomben, 57 000 Artilleriegranaten und mehr als 5000 sog. 2000-Pfund-Bunkerbomben beliefert, um dicht besiedelte Stadtteile in Friedhöfe zu verwandeln. Für letztere haben die USA laut /Wall Street Journal/ lediglich über 100 JDAM-Systeme geliefert, mit denen diese Bomben gezielt eingesetzt werden können. Dies bedeutet, dass das überwiegende Gros dieser Bomben ungerichtet auf die Zivilbevölkerung abgeworfen werden, wie eine Auswertung von Satellitenbildern durch amnesty international und Berichte der /NYT /zeigen. Trotz der Bedenken der USA wegen Israels geplanter Bodenoffensive gegen die mit Geflüchteten überfüllte Stadt Rafah im Gazastreifen liefert Washington einem Zeitungsbericht zufolge Israel weitere Tausende schwerer Bomben und Kampfflugzeuge. US-Präsident Joe Biden habe ungeachtet der angespannten Beziehungen der beiden Länder in den vergangenen Tagen “in aller Stille” die Lieferung unter anderem von mehr als 1800 der 2000-Pfund-Bomben (etwa 907 kg) vom Typ MK84 sowie 500 MK82-Bomben genehmigt, berichtete die /Washington Post/ Ende März unter Berufung auf US-Beamte. Mit diesen MK84-Bomben werden die C17-Frachtflugzeuge auf ihrem Weg zum Militärstützpunkt der USA in Israel bei Zwischenlandungen in Ramstein beladen. Damit verstößt die BRD gegen das völkerrechtlich gebotene Militärembargo, wonach Waffen oder Munition nicht weitergereicht werden dürfen, wenn diese bei einem völkerrechtswidrigen Einsatz benutzt werden. Dieses Embargo beinhaltet daneben, dass solche Waffen weder gekauft noch verkauft werden dürfen. Auch in diesen Punkten handelt die BRD völkerrechtswidrig. Sie ist nach den USA zweitgrößter Waffenlieferant an Israel. 2015 gingen 50 % aller Rüstungsexporte dorthin, als Thyssen Krupp Marine Systems in einem wegen Korruption skandalumwitterten Geschäft Korvetten und neun atomwaffenfähige U-Boote an die israelische Marine lieferte. In Gaza eingesetzte israelische Panzer fahren mit deutschen Motoren. Rheinmetall produziert 155 mm Artilleriegranaten, mit denen die von der israelischen Armee eingesetzten M 109-Panzerhaubitzen bestückt werden. Zur Umgehung des Kriegswaffenkontrollgesetzes werden sie nicht in toto an Israel geliefert, sondern in Form wesentlicher Komponenten, die vor Ort zusammengebaut werden. Zu den Lieferungen gehören außerdem 500 000 Stück Kleinwaffenmunition 112 mm, mit der bspw. Ende Februar der Hilfskonvoi in Gaza beschossen wurde und dabei 112 Menschen ermordet wurden, oder 10 000 Panzergranaten vom Typ 120 mm. Da Israel nach dem Kauf der deutschen U-Boote und Korvetten gegenüber Thyssen Krupp auf ein Kompensationsgeschäft bestand, beschloss 2016 die deutsche Regierung 16 Kampfdrohnen von Israel zu leasen, wovon zwei gegenwärtig wieder Israel im Rahmen des Gazakriegs zur Verfügung gestellt worden sind. Am 19. Oktober 2023 stimmte der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags der Beschaffung des Raketenabwehrsystems Arrow 3 von Israel in einer Höhe von rund 4 Mrd. Euro zu. Letztlich geht es der BRD also mitnichten um die historische Verantwortung der BRD gegenüber Israel, sondern um die Sicherung der Profite der deutschen Rüstungsindustrie. /MiWe/ ------------------------------------------------------------------- Indien steht an der Spitze der Liste der größten Waffenimporteure Israels mit einem Anteil von über 40 % an den israelischen Exporten, aber die Beziehungen beschränken sich nicht nur auf Importe von Waffen aus Israel. Nach Angaben von /Middle East Eye/ produziert Indien gemeinsam mit Israel Waffen und koordiniert gemeinsame Militärübungen. Für den indischen Regierungschef Narendra Modi, einen rechtsgerichteten Nationalisten, der sich die gewaltsame Unterwerfung der 20 Prozent muslimischen Bevölkerung Indiens auf die Fahnen geschrieben hat, gibt Netanjahus Vorgehen gegen die Palästinenser wenig Anlass zur Sorge. Tatsächlich dient Israels 75-jährige Geschichte der Auslöschung der Palästinenser als Vorbild für indische Nationalisten, die hasserfüllte Rhetorik verbreiten, Lynchmobs bilden und muslimische Häuser plündern und niederbrennen. /Al Jazeera/ berichtet, dass schätzungsweise 130 Länder, darunter auch Kolumbien, Drohnen und Spionagetechnologie von Israel gekauft haben, obwohl Israel die Waffenlieferungen an Lateinamerika ausgesetzt hat, nachdem Kolumbiens linksgerichteter Präsident Gustavo Petro, ein ehemaliger marxistischer Revolutionär, es ablehnte, die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober zu verurteilen, und später Israels Zerstörungen im Gazastreifen mit den Gräueltaten von Nazi-Deutschland verglich. STOPPT DIE ÖL-LIEFERUNGEN! Trotz der harschen anti-israelischen Rhetorik des türkischen Präsidenten Erdogan ist die Türkei nach wie vor ein wichtiger Öllieferant Israels mit kilometerlangen Pipelines, die Öl aus Aserbaidschan und Kasachstan, welche 40-60 % des israelischen Öls durchleiten, über den türkischen Hafen Ceyhan im östlichen Mittelmeer befördern. Zuvor, am 21. Oktober, hatte der Tanker Seaviolet Berichten zufolge eine Million Barrel Öl aus dem muslimischen Aserbaidschan zum israelischen Hafen Eilat am Roten Meer transportiert, doch seither haben die jemenitischen Huthis die Lieferungen nach Israel über das Rote Meer blockiert. British Petroleum, das seit drei Jahrzehnten in Aserbaidschan nach Öl bohrt, umgeht die Blockade des Roten Meeres und verschifft das Rohöl über das Kap der Guten Hoffnung in Afrika, aber es gibt eine effizientere Lösung für diejenigen, die die UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord untergraben wollen. /Mint Press News/ zitiert einen Bericht des israelischen Fernsehsenders /Channel 13/, wonach Jordanien, Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate gemeinsam die Bemühungen der Huthis untergraben, die Straße von Bab el-Mandeb zu blockieren, den Durchgang zum Suezkanal, durch den ein Viertel des Welthandels, einschließlich des Öls nach Israel, läuft. Anstatt die Schiffe durch die tückischen Gewässer des afrikanischen Kaps der Guten Hoffnung umzuleiten – was die Fahrt um einen Monat länger und eine Million Dollar für Treibstoff teurer macht – haben die vier arabischen Länder Landkorridore eingerichtet, in denen die Waren zunächst in den Häfen von Dubai und Bahrain entladen und dann auf dem Landweg über Autobahnen von den VAE nach Saudi-Arabien und dann nach Jordanien transportiert werden, bis die Ladung Israel über die 115 Meilen lange jordanische Autobahn entlang des Toten Meers erreicht. Während Israel fast sein gesamtes Öl importiert, exportiert es auch Rohöl nach Bulgarien, Indien, Italien, Palästina und Australien, so das Observatory of Economic Complexity (EOC), ein am MIT Media Lab entwickeltes Datenvisualisierungstool. KONTROLLE ÜBER DIE GASVORKOMMEN Seit Monaten wird darüber spekuliert, dass Israel den 7. Oktober als Gelegenheit nutzt, den Gazastreifen ethnisch zu säubern, um an die Erdgasvorkommen der Küstenregion zu gelangen. Dafür müsste Israel jedoch zunächst die Palästinenser vertreiben, die Anspruch darauf erheben könnten. Nach einem vom Verteidigungsministerium ausgeheckten Plan hat Israel eine Million Palästinenser aufgefordert, sich in den Süden nach Rafah in Sicherheit zu bringen, um dann Wohnhäuser zu bombardieren und eine Bodeninvasion in der Stadt an der Grenze zu Ägypten vorzubereiten. Die Befürworter palästinensischer Rechte sagen, dass dieser Erlass, „nach Süden zu gehen“, die Bewohner des Gazastreifens weiter nach Süden in die sengende Wüste Sinai, in den Schoß Ägyptens, in Zeltstädte und in ein Exil treiben soll, das an die erste Nakba im Jahr 1948 erinnert, als Israel 750 000 Palästinenser aus ihrem Land vertrieb, um ihnen eine Rückkehr zu verwehren. Im Februar genehmigte Israel sechs israelischen und internationalen Unternehmen Lizenzen für die Erdgasexploration in den palästinensischen Seegebieten vor der Küste des Gazastreifens. Mehrere Organisationen – das Al Mezan Center for Human Rights und das Palestinian Center for Human Rights – haben Israel gewarnt, dass es diese Verträge besser annullieren sollte oder die Konsequenzen für die Verletzung des Völkerrechts tragen muss. Da Israel jedoch wiederholt gegen internationales Recht verstößt – einschließlich der Aufforderung des Weltgerichtshofs, das Töten von Palästinensern einzustellen und massive humanitäre Hilfe zu leisten – ist es jedoch unwahrscheinlich, dass diese Verträge in nächster Zeit gekündigt werden, es sei denn, es kommt zu massiven zivilen Unruhen oder zu einem kollektiven Aufruhr in der 193 Mitglieder zählenden UN-Generalversammlung. Gemäß der Resolution von Uniting for Peace könnte die Generalversammlung mit einer 2/3-Stimmenmehrheit (129 Mitglieder) enormen Druck ausüben, indem sie Israel sanktioniert und von UN-Aktivitäten ausschließt. STOPPT DEN TECHNOLOGIEHANDEL! In den USA kam es bei Google zu Protesten von Mitarbeitern, die mit palästinensischen Flaggen am 14.12.2023 eine Straße in San Francisco blockierten, um gegen das Nimbus-Projekt zu protestieren, einen 1,2 Milliarden-Vertrag mit dem israelischen Militär über Cloud-Dienste, das von Google und Amazon entwickelt wurde. Bereits in den Monaten zuvor protestierten Hunderte von Amazon- und Google-Mitarbeitern in vier Städten des Landes unter dem Slogan „No Tech for Apartheid“ gegen den Vertrag. In einem offenen Brief beschuldigten anonyme Mitarbeiter im Jahr 2021 den Nimbus-Vertrag, „rechtswidrige Datensammlungen über Palästinenser zu ermöglichen und die Ausweitung der illegalen israelischen Siedlungen auf palästinensischem Land zu erleichtern“. Multinationale Konzerne wie Microsoft, Google, IBM und Intel unterhalten Niederlassungen in Israel, z. B. Google mit seinem Campus Tel Aviv, einem Zentrum für Start-up-Unternehmen. Hewlett-Packard – ein Ziel der weltweiten BDS-Bewegung – profitiert von der israelischen Besatzung durch den Betrieb eines biometrischen Identifizierungssystems, das an Kontrollpunkten im Westjordanland eingesetzt wird, wo Palästinenser den ganzen Tag warten müssen, um zu ihrer Familie in einem 30 Meilen entfernten Dorf zu gelangen. Ein Boykott der israelischen Technologie – Computer, Elektronik, Cybersicherheitssoftware – könnte die israelische Wirtschaft in eine Inflationsspirale führen, denn Hightech trägt 18 % zum BIP bei, macht über 12 % der Arbeitsplätze und die Hälfte der Exporte des Landes aus und erwirtschaftet 30 % der Steuereinnahmen, laut /CNN/. Zu Israels Überwachungstechnologie gehören Pegasus-Spionageprogramme, die in die Mobiltelefone eindringen, Textnachrichten abfangen und Passwörter sammeln können, Grenzdrohnen, die die Migrationsbewegungen über das Mittelmeer überwachen, Wärmebildkameras, die bei Polizeirazzien Personen hinter Häusermauern aufspüren können, und Gesichtserkennungssoftware für Kameras an Kontrollpunkten und Grenzen. Einer der größten Handelspartner Israels ist die Europäische Union, die 2018 Drohnen von Elbit Systems gekauft hat, um Asylsuchende zu verfolgen und Informationen über sie zu sammeln. Der Einsatz dieser Drohnen gegen Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren, ohne gleichzeitige Rettungseinsätze verstößt nach Ansicht von Kritikern gegen das UN-Seerechtsübereinkommen. Die Menschenrechtsorganisation Euro-Mediterranean Human Rights Monitor fordert seit langem, dass die Verträge gekündigt werden. Professor Richard Falk, Vorsitzender des Kuratoriums von Euro-Med, bezeichnete den Kauf als skandalös angesichts der „repressiven und rechtswidrigen Methoden“, mit denen Drohnen zur Unterdrückung der Palästinenser in den besetzten Gebieten eingesetzt werden. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo abweichende Meinungen und Gewerkschaften verboten sind, riskieren diejenigen, die gegen die engen Beziehungen ihres Landes zu Israel protestieren, Gefängnis und Folter. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die königliche Familie 2022 die Errichtung eines israelischen Technologiezentrums in Abu Dhabi begrüßte und ihrerseits Pläne für ein VAE-Technologieinstitut in Haifa im Jahr 2024 bekannt gab. „Wir werden an einigen der interessantesten Herausforderungen im Bereich der künstlichen Intelligenz arbeiten und gleichzeitig zur Vision der wissenschaftlichen Zusammenarbeit beitragen, die im Abraham-Abkommen vereinbart wurde“, schreibt Yoelle Maarek, die künftige Leiterin des Zentrums, die zuvor als Führungskraft bei Google, IBM, Amazon und Yahoo tätig war. Ein weiterer Hauptabnehmer israelischer Technologie ist Indien, das laut der /New York Times /2017 Pegasus Spyware kaufte, um Gegner von Modis ultranationalistischem Regime zu überwachen. Und es ist kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien einer der besten Kunden Israels für israelische Technologie ist, die dazu verwendet wird, Telefone zu hacken und Personen auszuspionieren, die als Staatsfeinde gelten. Obwohl das geplante Normalisierungsabkommen zwischen Saudi-Arabien und Israel vorerst vom Tisch ist, investiert Saudi-Arabiens 620 Milliarden schwerer Staatsfonds (PIF) weiterhin in israelische Tech-Start-ups. Das israelische Militär behauptet, es verlasse sich auf ein auf künstlicher Intelligenz basierendes System namens Habsora (Evangelium), um im Gazastreifen, wo Israel bisher mehr als 33 000 Menschen getötet und über 70 000 verwundet hat, „in hohem Tempo Angriffsziele auszuwählen“. Richard Moyes von der Antiwaffenkampagne Article 36 mit Sitz in Großbritannien bezweifelt die Genauigkeit der KI-Algorithmen und sagte dem /Guardian/: „Es wird deutlich, dass von Präzision keine Rede sein kann und stattdessen ein Stadtgebiet mit schweren Sprengstoffwaffen in Schutt und Asche gelegt wird.“ WAS GETAN WERDEN KANN Wenn es den Ländern in der Lieferkette ernst damit ist, den Völkermord in Gaza zu beenden und eine Ausweitung des Kriegs zu verhindern, können sie sich auf das S in BDS berufen und Israel sanktionieren, indem sie die Ein- und Ausfuhr von Öl, Waffen und Technologie verbieten. Wenn die USA, Kanada, Großbritannien, Deutschland, Indien und die arabischen Länder, die sich an Israels Gemetzel mitschuldig gemacht haben, sich weigern, ihren Kurs zu ändern, und trotz der Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof und der weltweiten Proteste gegen Israels Gemetzel weiterhin Beihilfe zum Völkermord leisten, dann ist es an der Zeit, dass andere Länder Israel und seine Helfershelfer vor ein internationales Völkertribunal stellen und die Verbrecher, von Biden bis Netanjahu, wegen Völkermordes anklagen. Bis dahin schließt sich CODEPINK dem weltweiten Aufruf an die UN-Generalversammlung an, Israel zu sanktionieren, da es schamlos gegen die Anordnungen des IGH verstößt, das Massaker an den Palästinensern einzustellen und massive humanitäre Hilfe zu leisten. Unsere Delegationen überbringen bei ihren Besuchen in den UN-Vertretungen eine strategische Botschaft: „KEINE WAFFEN, KEIN ÖL UND KEINE TECHNOLOGIE MEHR FÜR ISRAEL“. Es mag ein Klischee sein zu sagen: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, aber die Wahrheit ist, dass die kollektive Macht der Welt – oder auch nur eines Teils der Welt – das Gemetzel morgen beenden könnte. Marcy Winograd ist leitende Mitarbeiterin von CODEPINK CONGRESS, einer US-amerikanischen pazifistischen Bürgerrechtsbewegung zur Beendigung existierender militärischer Konflikte. Sie wird hauptsächlich von Frauen getragen und unterstützt die Klage der RSA vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH). /Übersetzung und Bearbeitung: MiWe/ ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: From webmaster at inprekorr.de Sun Apr 28 20:23:33 2024 From: webmaster at inprekorr.de (Inprekorr-Webmaster) Date: Sun, 28 Apr 2024 20:23:33 +0200 Subject: [IPK] =?iso-8859-1?q?Gaza-Krieg=3A_Die_=22Staatsr=E4son=22_ger?= =?iso-8859-1?q?=E4t_zur_Farce?= Message-ID: <027601da9999$2e2e8e60$8a8bab20$@inprekorr.de> Dossier Gaza-Krieg: Die „Staatsräson“ gerät zur Farce Online unter: https://www.inprekorr.de/630-pal-ms.htm ------------------------------------------------------------------- Während sich die Unterdrückung von Solidarität für Palästina in jedem Sektor des Lebens etabliert, wird das liberale Selbstbild des Staates immer mehr zu einer Geschichte, die nur Deutsche sich selbst erzählen können. Von Michael Sappir Nach den vielen Jahren, in denen der Raum für Solidarität mit Palästina immer kleiner wurde, dürfte es nur wenige Beobachter überrascht haben, wie rigoros der deutsche Staat nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem darauf folgenden Angriff Israels auf den Gazastreifen gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen ist. Die Aufregung jedoch, die um das prestigeträchtige internationale Berliner Filmfestival Ende Februar herum aufbrandete, beförderte die Absurdität von Deutschlands Pro-Israel-Fanatismus in ganz neue Höhen. Sowohl der Palästinenser Basel Adra als auch der Israeli Yuval Abraham – beide seit vielen Jahren als Autoren für /+972 Magazine/ [https://www.972mag.com] und /Local Call/ [https://www.972mag.com/introducing-local-call-972-magazines-sister-site-in- hebrew/] tätig – wurden von deutschen Politikern lauthals überkritisch niedergemacht, nachdem ihr Film „No Other Land“ [https://www.berlinale.de/en/2024/programme/202409761.html] (Kein anderes Land) bei den Filmtagen von der Jury die Auszeichnung „Beste Dokumentation“ erhalten hatte und der Film auch den Publikumspreis in dieser Kategorie einheimste. Die beiden Aktivisten sind zwei der vier Co-Regisseure und auch selbst Akteure des Films. Sie benutzten ihre Dankesreden als Plattform, um Israels gewalttätige Unterdrückung der Palästinenser und Deutschlands Komplizenschaft im Krieg gegen Gaza aufzuzeigen. Als Reaktion auf Adras und Abrahams Worte, die sich in den sozialen Medien mit Windeseile verbreiteten, beschuldigte Berlins Bürgermeister Kai Wegner von der konservativen CDU die beiden der Verbreitung „nicht tolerierbarer Relativierungen“ und des „Antisemitismus“. Deutschlands Kulturstaatsministerin Claudia Roth erklärte, sie hätte nur für den „jüdischen Israeli …, der sich für eine politische Lösung und eine friedliche Koexistenz in der Region ausgesprochen hatte“ applaudiert – aber anscheinend nicht für seinen palästinensischen Kollegen, der sich für genau das Gleiche ausgesprochen hatte. Dieser selektive Applaus wirkte umso bizarrer, als Abraham in seiner Rede ja gerade speziell kritisch über die unterschiedliche Behandlung sprach, die ihm und Adra unter Israels Apartheitssystem zuteil wird. Solche öffentlichen Beschuldigungen sind in Deutschland mittlerweile zur Regel geworden, genau wie die unweigerlich folgenden Rufe nach verschärfter Zensur sowie Drohungen, Finanzierungen zu entziehen. Diese Atmosphäre allgemeiner Verdächtigungen ballt sich inzwischen immer mehr zu einer dunklen Wolke zusammen, die die berühmte pulsierende internationale Kulturszene des Landes zu ersticken droht. Es gibt nur wenige Anlässe, bei denen die Beschuldigten so berühmt und die Anschuldigungen so absurd sind, dass sie international Aufmerksamkeit erregen, aber genau solche Skandale müssten der Welt eine Warnung sein – sowohl was Deutschlands eigenen illiberalen Weg betrifft als auch was die Gefahren angeht, die drohen, wenn israelfreundliche Politik in der Öffentlichkeit erzwungen wird. DRAKONISCHE VERBOTE Direkt nach dem 7. Oktober verhängte Deutschland ein fast totales Verbot von pro-palästinensischen Protesten. Die wenigen (aufgrund ihrer geringen Größe oder opportunen Inhalte) genehmigten oder trotz des Verbotes stattfindenden Demonstrationen wurden zumeist von der Polizei aufgelöst, einige [https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-hunderte-menschen-vers ammeln-sich-fuer-pro-palaestina-demo-am-potsdamer-platz-100.html] auch mit Gewalt. Als alarmierend muss auch dieser Vorfall gesehen werden: Als Berliner Eltern einen Protest gegen Gewalt in Schulen organisierten, nachdem dokumentiert worden war, dass ein Lehrer einen Schüler, der eine Palästina-Flagge trug, körperlich angegangen war … wurde auch dieser Protest verboten und von der Polizei aufgelöst. Zur gleichen Zeit, und gerade als Israel die erste Phase seines von Rache getriebenen Bombardements auf Gaza entfesselte, während israelische Führungspersonen sich in Genozid-Rhetorik übten, ergingen sich deutsche Behörden in überschäumenden Unterstützungsbezeugungen für Israel, allen voran die Vorsitzenden sämtlicher großen politischen Parteien. In ganz Deutschland erließen Behörden drakonische Verbote von Reden und Symbolen mit pro-palästinensischem Hintergrund. In Berlin, einer Stadt, in der die größte palästinensische Diaspora Europas zu Hause ist, verbot die Polizei sogar die uralte Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ (Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein). Selbst bei Variationen wie „From the river to the sea, we demand equality“ (Vom Fluss bis zum Meer fordern wir Gleichheit) setzte die Polizei das Verbot durch [https://www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationen-berlin-tausende-teilneh mer-bei-propalaestinensischer-demo-in-berlin-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101 -231104-99-819180], und laut Augenzeugen ging sie sogar gegen ein Plakat vor, auf dem nur die rudimentären Worte „From the — to the —,“ zu sehen waren. Anfang November, als die Bundesregierung die Hamas in Deutschland für gesetzlich verboten [https://www.sueddeutsche.de/politik/nahostkonflikt-palaestina-demos-parole- verbot-1.6301624] erklärte, wurde „From the river to the sea“ als verbotene Parole der Organisation definiert, und zwar in jeder Sprache und gleichgültig, was auf diese Worte folgte. In der Praxis erfolgte die Durchsetzung jedoch auf unglaublich einseitige Weise. Ein aus dem Dezember stammendes Video [https://twitter.com/RashadAlhindi/status/1735298142545809514] zeigt, wie Pro-Israel-Demonstranten an der Berliner Humboldt-Universität eine israelische Flagge hochhielten und spöttisch skandierten: „From the river to the sea, that’s the only flag you’re gonna see.“ (Vom Fluss bis zum Meer ist das die einzige Flagge die ihr sehen werdet.) Der unbekannte Kameramann geht zu Polizisten und fordert sie auf, gegen die verbotene Parole vorzugehen. Die Polizei weigert sich jedoch mit der Aussage, dass diese Parole zulässig sei. Praktisch vertraten deutsche Behörden die Position, dass Unterstützung für Palästinenser als Unterstützung von blindwütiger Gewalt gegen Israelis angesehen werden müsste. Darüber hinaus stellten sie sich ausdrücklich hinter die Ansicht, dass der Ruf nach einem Ende des Krieges gleichbedeutend sei mit der Weigerung, Israel das Recht zuzugestehen, sich angesichts solcher Angriffe zu verteidigen. Dementsprechend wurden nicht nur explizit pro-palästinensische Proteste aufgelöst, nein, die Polizei unterdrückte auch oftmals Rufe nach „Waffenstillstand“ oder „Stoppt den Krieg“. Und als Reaktion auf Südafrikas Klage vor dem internationalen Gerichtshof mit der Anschuldigung, dass Israel in Gaza Völkermord begehe, erklärte die deutsche Regierung umgehend, dass „diese Anklage jeglicher Grundlage entbehrt“. Desweiteren haben Behörden innerhalb Deutschlands oft damit gedroht, die Wiederholung dieser Anschuldigung als Hassrede zu behandeln. SYMPATHIE REICHT SCHON AUS Nachdem sich die Behörden mit starkem Widerstand in Berlins Straßen und auch zunehmenden juristischen Problemen bezüglich des pauschalen Verbots von Demonstrationen konfrontiert sahen, lockerten die Verantwortlichen im November und Dezember Schritt um Schritt die Auflagen und ließen schließlich Antikriegs- und pro-palästinensische Demonstrationen zu. Solche Proteste finden seither regelmäßig in vielen deutschen Städten statt. Andere Formen der Unterdrückung gibt es jedoch auch weiterhin unvermindert, ein jahrelanger diesbezüglicher Trend setzt sich ungehindert und immer intensiver fort. Im Jahr 2019 verabschiedete der Bundestag eine rechtlich nicht verbindliche Anti-BDS-Resolution. Darin werden Institutionen aufgefordert, niemandem eine Plattform zur Verfügung zu stellen, der auch nur im Entferntesten mit der Boykott-Bewegung in Verbindung stehen könnte. Diese Art, Menschen zum Schweigen zu bringen, die sowohl durch Zensur als auch durch Selbstzensur immer wirkungsvoller wurde, erfuhr nach den Ereignissen des 7. Oktober direkt einen ungeheuren Schub. Das Ergebnis war, dass Künstler, Journalisten und Akademiker, die sich gegen Israel aussprachen, ihre Jobs verloren, dass eine Veranstaltung nach der anderen abgesagt wurde und dass die Möglichkeiten für freie Debatten und Meinungsäußerungen seither in atemberaubendem Tempo immer mehr verschwinden. Die davon betroffenen Veranstaltungen haben dabei meistens gar nichts direkt mit Israel und Palästina zu tun. Es reicht völlig, wenn einer der Eingeladenen Sympathie mit Palästinensern bekundet hat. Sehr häufig kommen diese drastischen Maßnahmen, einschließlich fristloser Kündigungen, erst zum Einsatz, nachdem Dinge, die eine bestimmte Person in den sozialen Medien gepostet hat, von pro-israelischen Aktivisten oder Journalisten im großen Rahmen veröffentlicht und so zu einem Skandal aufgebauscht werden. Seit dem 7. Oktober wurden viele Posts, die sich mit der Gewalt im Gaza-Streifen befassen, dieser öffentlichen Empörung preisgegeben. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass sich derlei Skandale auf viele jahrealten „Beweise“ stützten, wie Unterschriften [https://www.sueddeutsche.de/bayern/theater-augsburg-warner-muss-sich-gegen- antisemitismus-vorwuerfe-wehren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240115-99-62 1229] unter offenen Briefen [https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/laurie-anderson-tritt-folkw ang-professur-nicht-an-19477836.html] und Petitionen, einschließlich solcher, die lediglich die Anti-BDS-Resolution als Bedrohung der freien Meinungsäußerung kritisieren. Die Diaspora Alliance [https://diasporaalliance.co/], eine internationale Gruppe, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus und dessen Instrumentalisierung verschrieben hat, ist solchen Fällen nachgegangen. Und das war der Anlass, warum ich im November damit begann, bei diesen Nachforschungen mitzuhelfen und darüber zu schreiben. Allein zwischen dem 7. und dem 31. Oktober haben wir 25 Fälle dokumentiert. Das sind fast so viele wie die 28 Fälle, die in den neun Monaten vor Beginn des Krieges dokumentiert wurden. Einer der ersten Vorfälle, durch den die Eskalation dieses Zwangs zum Schweigen deutlich wird, ereignete sich am 8. Oktober. Malcolm Ohanwe, ein schwarzer deutsch-palästinensischer Journalist, brachte in einem Twitter-Thread [https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/was-erwarten-leute-bayeri scher-rundfunk-trennt-sich-von-malcolm-ohanwe-li.2147143] den Angriff vom 7. Oktober mit der Jahrzehnte währenden israelischen Besetzung und Belagerung von Gaza und der Unterdrückung palästinensischer Proteste in Zusammenhang. Obwohl der Thread in keiner Weise Gewalt verherrlichte, wurde ein solcher Kontext bereits als ausreichender Grund für eine Bestrafung erachtet, was dazu führte, dass die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt Arte sofort und öffentlich alle Verbindungen mit Ohanwe kappte. Etwas später im selben Monat feuerte der Axel-Springer-Verlag einen Nachwuchsjournalisten, weil dieser intern Fragen zur pro-israelischen Politik des Verlagshauses stellte. Der Bundesliga-Club Mainz 05 reagierte mit sofortiger Suspendierung [https://www.spiegel.de/sport/fussball/mainz-05-stellt-anwar-el-ghazi-nach-a ntiisraelischem-beitrag-frei-a-8fc39a7a-117e-4611-89d7-3de39b369f7f] eines seiner Spieler (und hob wenig später den Vertrag dieses Spielers komplett auf), weil er auf Instagram „From the river to the sea, Palestine will be free“ gepostet hatte, ein Post, den er inzwischen gelöscht hat. An die Öffentlichkeit gelangte dieses Posting durch die Bild-Zeitung, die zu dem gerade genannten Verlagshaus Axel Springer gehört. Ebenfalls im Oktober musste die schleswig-holsteinische Staatssekretärin [unter anderem] für Integration ihre Pflichten ruhen [https://www.kn-online.de/schleswig-holstein/toure-setzt-staatssekretaerin-n ach-aerger-um-instagram-post-vor-die-tuer-OOLCFVHABZBPRNV4WAEGWJRYYU.html] lassen (und um Entlassung bitten), da sie einen Post geteilt hatte, in dem sowohl die Hamas als auch die israelische Okkupation verurteilt wurden. VORSICHT, SONST … Denunziation und Paranoia haben einen solchen Umfang angenommen, dass sie so gut wie jeden Lebensbereich in Deutschland beeinflussen. Das schließt auch die Wissenschaft mit ein – die ja eigentlich eine Bastion der freien Meinungsäußerung sein sollte –, denn das Max Planck Institut z. B. feuerte im Februar den renommierten Anthropologen Ghassan Hage [1]. Die illiberale Entwicklung hat aber vor allem auch Deutschlands Kulturszene stark erschüttert, denn jetzt ist nicht nur die Karriere von Einzelnen in Gefahr, nein, ganze Institutionen sind gefährdet. Im Laufe des Oktobers erlebten Sänger, Künstler, Publizisten, Aktivisten, Akademiker und DJs, wie ihre Vorstellungen, Museumsgespräche, Ausstellungen, Gedichtbandvorstellungen und Konferenzen abgesetzt oder Interviewzusagen zurückgezogen wurden. Einigen wurden überhaupt keine spezifischen Anklagepunkte mitgeteilt, wie z. B. als eine Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli, die anlässlich der Frankfurter Buchmesse stattfinden sollte, einfach auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Die Absagen, Ausladungen und auch Kündigungen erfolgten den ganzen November über in rascher Reihenfolge, fast jeden Tag wurde ein neuer Fall bekannt. Zwar hat die Intensität solcher Geschehnisse seither abgenommen, trotzdem vergeht keine Woche, in der nicht eine weitere Geschichte über Aggressivität und Mobbing ans Licht kommt. So enthüllte [https://www.facebook.com/mohammadshawky/posts/pfbid02DHoKSCba4hadjsSm9swPWe Ex8pB6NA1GCUHAotrgb1qMdAQCRDC1hwkJsP1FW91Vl] z. B. der ägyptische Filmemacher Mohammad Shawky Hassan, dass zur selben Zeit wie der Berlinale-Skandal eine Berliner Galerie von ihm gefordert hatte, dass er, bevor er als Teil einer Gruppenausstellung arabische Schriftzeichen an einer Wand anbringen konnte, erst eine Übersetzung des geplanten Textes beibringen sollte, damit dieser von der Galerie und deren „Kooperationspartnern“ geprüft werden könnte. Die Direktion der Galerie rechtfertigte die Überprüfung der Übersetzung damit, dass sie von der Stadtverwaltung als Voraussetzung einer finanziellen Unterstützung durch die Stadt gefordert worden sei. Im November hatten inzwischen sämtliche Mitglieder der Findungskommission für die künstlerische Leitung der nächsten Ausgabe der Weltkunstausstellung („documenta“), die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, ihren Rücktritt erklärt: Einer ihrer Kollegen war zum Rücktritt gezwungen worden, nachdem die /Süddeutsche Zeitung/ ihn ob seiner Unterschrift unter einer Petition im Jahr 2019 des Antisemitismus bezichtigte. Das Chaos der letztjährigen Documenta, die ins Zentrum eines gigantischen antisemitischen Skandals geraten war, wirkt auch jetzt noch unvermindert nach: Noch immer konnte keine neue Findungskommission für die für den Sommer 2027 geplante nächste Ausgabe der Ausstellung vorgestellt werden. Inzwischen wurde die Biennale für aktuelle Fotografie 2024 in der Metropolregion Rhein-Neckar komplett abgesagt, weil der Vorstand der Biennale Anstoß an Postings eines Kurators in den sozialen Medien genommen hatte. In der Pressemitteilung, in der die Absage verkündet wurde, sagten die Veranstalter, dass dadurch die Zukunft der seit nunmehr zwei Jahrzehnten stattfindenden Veranstaltung gefährdet würde. Das besonders Erschreckende an dieser Angelegenheit ist: Die Zurverfügungstellung einer Plattform für jüdische Kritiker am Staat Israel wird von deutschen Politikern als Freibrief genommen, kulturellen Institutionen zu drohen. So erging es z. B. Oyoun, einem von Migranten geleiteten Kulturzentrum, das sich weigerte, dem politischen Druck nachzugeben und die Jubiläumsveranstaltung zum 20. Jahrestag der jüdischen Antizionistengruppe „Jüdische Stimme“ im November abzusagen. Berlins Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Joe Chialo, beendete den Vertrag der Stadtverwaltung mit dem Zentrum, dem er „verborgenen Antisemitismus“ vorwarf, wodurch Oyoun praktisch arbeitsunfähig wurde. Dieses gefährliche Narrativ nahmen einige deutsche Politiker, vor allem solche aus der Mitte-Rechts-Partei FDP, zum Anlass, zukünftige öffentliche Finanzierungen für die Berlinale in Frage [https://fdp-brandenburg.de/2024/antisemitismus-muss-geaechtet-und-nicht-gef oerdert-werden-streichung-der-oeffentlichen-berlinale-foerderung/] zu stellen. Sie bezogen sich dabei sowohl auf den Skandal um Abraham und Adra als auch darauf, dass einige weitere Künstler die Bühnen des Filmfests genutzt hatten, um ihre Solidarität mit Palästinensern zu erklären. Großzügige finanzielle Unterstützung für Kunst und Kultur durch den Staat wurde lange Zeit als wichtiger Teil der Bewahrung einer demokratischen Gesellschaft in Deutschland angesehen. Aber während in der Verfassung eine große Bandbreite an künstlerischer Freiheit garantiert wird, sind Kultureinrichtungen an sich von finanziellen Zuwendungen aus der öffentlichen Hand abhängig. Politiker wiederum können sehr effektiv mit einer Streichung dieser Finanzierungen drohen, wodurch die Kultureinrichtungen einem starkem Konformitätsdruck ausgesetzt sind. Auch ohne formelle, die künstlerische Freiheit einschränkende Regeln signalisieren solche Dinge Direktoren und Kuratoren, dass sie vorsichtig agieren müssen, sonst … LEGITIMIERUNG VON FREMDENFEINDLICHKEIT Während dieser Kaskade an zunehmender Zensur proklamierten deutsche Behörden und Politiker*innen immer wieder dasselbe grundlegende Motiv: den Kampf gegen Antisemitismus als Teil der historischen deutschen Verantwortung nach dem Holocaust. Aber während große Bereiche des politischen Spektrums des Landes willens sind, derartige behördliche Interventionen zur Aufrechterhaltung des Zionismus zu akzeptieren und sie sogar unterstützen, wird immer deutlicher sichtbar, wie diese Aktionen unterschwellig auf all jene abzielen, die in Deutschland als Ausländer betrachtet werden. Dabei handelt es sich vor allem um Menschen, die aus Ländern mit muslimischer Mehrheit und anderen Ländern des Globalen Südens stammen. In den letzten Monaten hat die deutsche Regierung eine „Abschiebungsoffensive“ auf den Weg gebracht, anscheinend als Antwort auf die seit Jahren ständig zunehmende Migranten-feindliche Hysterie, die einen Nährboden für die aufsteigende extreme Rechte bereitstellt. Eine ihrer Rechtfertigungen war das Gespenst vom „importierten Antisemitismus“. Dieser Ausdruck bezieht sich auf von Neuankömmlingen, vor allem aus dem Nahen Osten, geäußertes antiisraelisches Gedankengut. Diese Politik der Unterstützung Israels, die Migranten als Quelle von Antisemitismus in Deutschland dämonisiert, vereint die extreme Rechte mit der Rechten, der Mitte und signifikanten Teilen der Linken. Damit wird der so wichtige Kampf gegen Bigotterie in eine legitimierte Ideologie der Fremdenfeindlichkeit verwandelt. Und wenn das dann darin mündet, dass jüdische Menschen direkt zu Schaden kommen, ist die Absurdität des Ganzen nicht mehr zu übersehen. Als der auf die Berlinale folgende wütende Protest dazu führte, dass Israelis aus dem extrem rechten Lager das Haus von Yuval Abrahams Familie in Israel angriffen, schrieb Abraham in einem von Millionen gelesenen Tweet [https://twitter.com/yuval_abraham/status/1762558886207209838], wie schändlich es ist, dass deutsche Politiker Hass gegen jüdische Kritiker Israels schüren, einschließlich gegen Nachkommen von Holocaust-Überlebenden wie ihn selbst. Aber da Deutschland seinen „Kampf gegen Antisemitismus“ im Verlauf des letzten Jahrzehnts verschärft hat, ist es inzwischen schon fast zu einer alarmierenden Normalität geworden, dass eingeladene ausländische Gäste, sogar jüdische Gäste, von Deutschen im Namen dieses „Kampfes“ Opfer einer vernichtenden Kritik werden. Deutsche Behörden haben diese Agenda immer mehr institutionalisiert und auf allen Regierungsebenen „Antisemitismus-Beauftragte“ ernannt. Doch wie die gefeierte jüdische russisch-amerikanische Schriftstellerin Masha Gessen Anfang November in einem Essay [https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holoc aust] im auflagenstarken /The New Yorker /schrieb, sind die meisten dieser Beauftragten keine Juden – aber viele ihrer Angriffsziele sind Juden. Tatsächlich hatte, wie von der Diaspora Alliance dokumentiert, fast ein Viertel aller Fälle von Zensur und Absage im Jahr 2023 Juden zum Ziel. Gerade mal einen Monat nach ihrem Essay im /New Yorker/ wurde Gessen Teil genau dieser Statistik. Eine große pro-israelische Gruppe, die zum Teil vom deutschen Außenministerium finanziert wird, stieß sich [https://www.zeit.de/news/2023-12/13/hannah-arendt-preis-an-masha-gessen-kri tik] an einem Vergleich, den Gessens Essay zwischen Gaza und von Nazis eingerichteten Ghettos zog. Die Gruppe drang erfolgreich auf die Absage [https://www.zeit.de/news/2023-12/13/hannah-arendt-preis-an-masha-gessen-kri tik] einer Zeremonie, in der Gessen mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken ausgezeichnet werden sollte. ‚STRIKE GERMANY‘ Obwohl es viele Deutsche vorziehen mögen, von sich selbst als „weniger antisemitisch als die anderen“ zu denken, dringt die internationale Kritik manchmal dennoch durch. Wenn eine Person, die wie oben beschrieben attackiert wird, über genügend Berühmtheit verfügt, so wie es bei Gessen und Abraham der Fall war, können die harschen, von außen kommenden Reaktionen innerhalb der deutschen Blase nicht mehr ignoriert werden – vor allem nicht von Kultureinrichtungen, die stolz auf ihr internationales Ansehen und Prestige sind. In Gessens Fall brachten diese Reaktionen die Heinrich-Böll-Stiftung dazu, nach der abgesagten Zeremonie ein öffentliches Gespräch [https://www.youtube.com/watch?v=oHczC-xKIqo] mit der Schriftstellerin anzuberaumen. Der Versuch, ihr mit der Absage eine Plattform zu entziehen, war gescheitert. Im Gegenteil, dadurch wurde Gessens Kritik eine noch größere Sichtbarkeit zuteil. Dieses Ergebnis war jedoch von der Plattform abhängig, die sie bereits hatte. In den allermeisten Fällen hören nur wenige Menschen von dieser Art der Zensur und noch wenigere erfahren davon außerhalb der deutschen Grenze. Aktivisten haben versucht, die Aufmerksamkeit auf diese Flut von Fällen zu lenken, was unter anderem zu einem „Archive of Silence [https://www.instagram.com/archive_of_silence/]“ (Archiv des Schweigens) führte, dem Tausende auf Instagram folgen. In der Zwischenzeit haben seit Oktober Kulturschaffende und Akademiker weltweit damit begonnen, aus Protest gegen die Zensurmaßnahmen und die antipalästinensische Außenpolitik Deutschlands öffentlich Einladungen in dieses Land zurückzugeben und abzulehnen. Im Januar wurde eine kollektive Aktion unter dem Titel „Strike Germany [https://strikegermany.org/]“ gestartet, die von solch prominenten Persönlichkeiten wie z. B. der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Annie Erneaux [https://www.ndr.de/kultur/buch/Strike-Germany-Worum-geht-es-bei-dem-Boykott -Aufruf,strikegermanydebatte100.html] Unterstützung erhielt. Als Antwort darauf unterstellte der deutsche Journalist Sebastian Engelbrecht in einer Sendung des Deutschlandfunks [https://www.deutschlandfunkkultur.de/folgen-des-boykottaufrufs-strike-germa ny-berlinale-absage-und-verlagstrennung-dlf-kultur-0fe5ce84-100.html], dass Deutschland aufgrund seiner Unterstützung von Israel jetzt selbst zur Zielscheibe von Antisemitismus geworden sei. Strike Germany, so seine Argumentation, versuche, „Deutschland aus dem Bewusstsein zu tilgen“, und zwar in einer Art, die dem historischen Versuch gleiche, jüdisches Leben physisch auszulöschen. Je größer diese Absurdität wird, desto schwieriger wird es für internationale Beobachter zu ignorieren, wie Deutschlands obsessiver Pro-Israelismus in ein Werkzeug des Autoritarismus und der Fremdenfeindlichkeit verzerrt wurde. Als Ergebnis wird das Selbstbild des Landes – zivilisiert, kosmopolitisch und offen – immer schneller zu einer Geschichte, die Deutsche nur sich selbst erzählen können. Und da auch in vielen anderen Ländern der Versuch gemacht wird, Kritik an Israel zu unterbinden unter dem Vorwand, Juden zu beschützen, muss diese deutsche Travestie eine Warnung sein, die weit über die deutschen Grenzen hinaus hallt und gehört werden muss. 21. März 2024 Michael Sappir ist ein in Deutschland lebender linker Schriftsteller und Organisator aus Israel. Quelle: +972 [https://www.972mag.com/germany-israel-palestine-solidarity-repression/] /übersetzt von Antje H./ ------------------------------------------------------------------- Aus: die internationale Nr. 3/2024 Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht Bestellungen: die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln E-Mail: vertrieb(at)inprekorr.de Einzelheft: 5 EUR; Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR Jahresabo: 25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50% Artikel im Internet: https://www.inprekorr.de ------------------------------------------------------------------- ----- [1] Zu den Hintergründen siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Ghassan_Hage#Controversies [https://en.wikipedia.org/wiki/Ghassan_Hage#Controversies] [Anm. d. Red.] -------------- nächster Teil -------------- Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt... URL: