[IPK] Ukraine: Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine

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Mo Apr 22 13:12:01 CEST 2024


Ukraine:

Für einen selbstbestimmten Wiederaufbau der Ukraine
Online unter: https://www.inprekorr.de/630-ukr-urc.htm

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Nach Lugano (2022) und London (2023) findet am 11. und 12. Juni 2024 in
Berlin die dritte Ukraine Recovery Conference (URC) statt.  

 

 

Von Hermann Nehls

 

 

Offiziell handelt es sich um eine Geberkonferenz von rund 60 Regierungen, um
Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine zu mobilisieren. Die drei
Wiederaufbaukonferenzen haben die Ukraine-Reformkonferenzen abgelöst, die
seit 2017 jährlich stattgefunden haben. Insofern geht das Ziel über eine
reine Geberkonferenz hinaus.

 

Auf der Webseite der Konferenz [https://www.urc-international.com/] werben
die Organisatoren damit, dass sie „ständige internationale Unterstützung für
die Erholung, den Wiederaufbau, die Reform und die Modernisierung der
Ukraine“ mobilisieren will. Zur Konferenz selbst sind nach aktuellem Stand
Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen nicht
zugelassen. Es gibt jedoch ein umfangreiches Begleitprogramm, das von
verschiedenen staatlichen und kommunalen und mit ihnen kooperierenden
Stellen ausgerichtet wird.

 

Die Ukraine ist eines der rohstoffreichsten Länder der Welt und vom Export
seiner Rohstoffe abhängig. So etwa vom Export von Erdgas, was von Russland
mehrfach in „Gaskriegen“ ausgenutzt wurde. Auch die landwirtschaftliche
Produktion (Weizen, Sonnenblumen, Gerste) ist weitgehend exportorientiert
und wird zum Teil von Agrarkonzernen kontrolliert, denen eine große Zahl von
kleinen Landwirtschaftsbetrieben und Bauern gegenübersteht. Die Ukraine
verfügt mit ihren 32 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde über ein
Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Europäischen
Union. 

 

Das Land besitzt zudem einen reichen Schatz an sogenannten kritischen
Rohstoffen wie Kobalt, Titan, Beryllium, Graphit und eine Reihe von Seltenen
Erden. Hinzu kommt eines der größten Lithiumvorkommen weltweit, das auf etwa
500 000 Tonnen geschätzt wird und umweltfreundlich abbaubar ist. Die
Aneignung dieser Schätze ist nicht nur Hintergrund für die russische
Besetzung der Ostukraine, sondern gilt auch als entscheidend für die
Energiewende der EU.

 

Die Löhne gehören mit zu den niedrigsten in Europa, Arbeitsrecht und
Kollektivverträge wurden schon vor Ausbruch des Krieges teilweise ausgehöhlt
und geraten seither immer stärker unter Druck. Die Regierung hatte schon
zuvor versucht, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und die noch aus der
Sowjetzeit stammenden arbeiter*innenfreundlicheren Gesetze abzuschaffen. Das
unter Kriegsrecht stehende Land ist jetzt ein neoliberales Versuchslabor,
das vor allem für europäisches Kapital als perfekter lnvestitionsstandort
dienen soll. 

 

Es ist nicht verwunderlich, dass einige Großkonzerne ein großes Interesse an
der Ukraine haben. Die Weltbank schwärmt von der Öffnung der ukrainischen
Schlüsselindustrie für kapitalistische Unternehmen. Auf der Londoner
Konferenz im vorigen Jahr wurden BlackRock, eine der größten
Vermögensverwaltungen weltweit, und J.P. Morgan, die größte US-Bank, damit
beauftragt, sich um die Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft zu kümmern.

 

Die von der Bundesregierung ausgerichtete Berliner Konferenz gibt vier zu
behandelnde Themenbereiche an: 

 

* die Mobilisierung des Privatsektors für den Wiederaufbau und das
Wirtschaftswachstum;

 

* die sozialen Beziehungen und das Humankapital der Ukraine;

 

* der Wiederaufbau der Gemeinden und Regionen;

 

* der Beitritt zur EU und die damit verbundenen Reformen.

 

 

Konkrete Projekte, die in den Blick genommen werden, sind u. a. der
ukrainische Energiemarkt mit dem Aufbau einer Wasserstoffproduktion, die
weitere Industrialisierung der Landwirtschaft mit Hilfe ausländischen
Kapitals, die Reorganisation des Gesundheitssektors, eine stärkere Rolle
westlichen Kapitals im Städte- und Wohnungsbau sowie lukrative
Beratungsleistungen zur Umsetzung der „nachhaltigen Strukturanpassung“. Wie
ein Wiederaufbau der Ukraine im Interesse der Konzerne, des Finanzkapitals,
des IWF und der EU aussehen würde, zeigt exemplarisch der „Ukraine-Plan“,
der am 18. März 2024 vom Ministerkabinett der Ukraine in Abstimmung mit der
EU als Dekret Nr. 244-p verabschiedet wurde. Dieses Vorhaben wird auch von
der Bundesregierung unterstützt. 

 

Eine zentrale Frage beim Wiederaufbau der Ukraine ist die Verschuldung. Die
Ukraine war schon vor Kriegsbeginn im Februar 2022 stark verschuldet. 2020
hatte die ukrainische Volkswirtschaft gegenüber dem Ausland mehr
Zahlungsverpflichtungen, als es ihrer jährlichen wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit entsprach. Der Krieg hat die Auslandsverschuldung der
Ukraine vervielfacht, das Land ist heute der weltweit drittgrößte Schuldner
des IWF. Die zusätzlichen Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg werden
zurzeit auf 750 Milliarden Dollar geschätzt. Nach dem Ende des Krieges
werden vom ukrainischen Staat Rückzahlungen erwartet, insbesondere von den
institutionellen Finanzorganisationen (wie dem IWF), der EU und großen
privaten Anleihegläubigern. Sowohl die hohe und wachsende Verschuldung der
Ukraine als auch ihre Annäherung an die EU bedrohen den Lebensstandard und
die sozialen Rechte der Arbeiter*innen im privaten wie im öffentlichen
Sektor. Dies verringert auch deren Möglichkeiten, beim Wiederaufbau ein
gewichtiges Wort mitzureden, obwohl sie die Hauptlast des Krieges tragen.
Diese Sichtweise aber spielt bisher auf der Konferenz keine Rolle.

 

Die Gewerkschaften in der Ukraine kämpfen an zwei Fronten: Sie kämpfen gegen
die russische Aggression und gegen die neoliberale Politik der
Selenskyj-Regierung, die den Auflagen der EU und des IWF Folge leistet.
Diese Politik spaltet die Gesellschaft und wälzt die Last des Krieges
einseitig auf die arbeitende Bevölkerung ab. Dies schwächt letzten Endes
auch den Widerstandswillen gegen die militärische Aggression. Klar ist, dass
an einen ernsthaften Wiederaufbau des Landes erst zu denken ist, wenn die
Waffen schweigen und die russischen Truppen sich zurückgezogen haben. 

 

Nicht die Interessen der Gläubiger und Konzerne dürfen den Wiederaufbau der
Ukraine bestimmen, vielmehr müssen gute Arbeits- und Lebensbedingungen für
die Bevölkerung und soziale Rechte geschaffen und gestärkt werden. Nachdem
der Krieg die Ukraine ausgeblutet hat, darf es nicht auch noch zum
Ausverkauf ihrer Ressourcen, Mineralien und fruchtbaren Ländereien kommen.

 

Der ukrainische Staat muss in die Lage versetzt werden, die für Leben und
Wirtschaften notwendige Infrastruktur wieder aufzubauen. Die Arbeiter*innen
und die Frauen tragen die Hauptlast des Krieges, sie müssen jetzt das Sagen
haben, ihre Bedürfnisse müssen prioritär berücksichtigt werden. Die Ukraine
braucht Lebens- und Wohnräume, ein Arbeitsrecht und Einkommen, die attraktiv
sind für die Menschen, die dort leben wollen und darüber hinaus für die
zahlreichen Flüchtlinge, die in ein lebenswertes Ursprungsland zurückkehren
wollen. Der Widerstand gegen die russische Aggression wird durch höhere
Einkommen für ukrainische Arbeiter*innen und Bauern und mehr Rechte am
Arbeitsplatz, auf Bildung und Gesundheit gestärkt. 

 

Die Initiative „Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften“, die im Oktober
2023 eine Reise in die Ukraine organisiert hat, um Gespräche mit
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu führen und Kontakte zu knüpfen,
schlägt vor, anlässlich der Ukraine Recovery Conference in Berlin eine
eigene Veranstaltung zu organisieren, bei der die Interessen der
Lohnabhängigen zu Wort kommen sollen. Zusammen mit Aktiven von
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine sollten als Ergebnis
der Veranstaltung Anforderungen an einen Wiederaufbauprozess formuliert
werden, die die Bedürfnisse der Bevölkerung und vor allem der arbeitenden
Menschen berücksichtigt und sie an diesem Prozess beteiligt.

 

Die internationale Unterstützung für den Kampf um soziale Rechte und einen
Wiederaufbau, der Teilhabe ermöglicht und sich an den Bedürfnissen der
arbeitenden Bevölkerung orientiert, ist unerlässlich. Die Vorhaben der
Konzerne und Finanzindustrie müssen öffentlich gemacht werden und zusammen
mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus der Ukraine müssen Vorschläge
für konkrete gemeinsame Projekte und Kampagnen – etwa für die Streichung
illegitimer Schulden – erarbeitet werden.

 

 

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 3/2024 

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