[IPK] Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften

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Mo Mär 18 11:56:03 CET 2024


Ukraine:

Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften
Online unter: https://www.inprekorr.de/628-ukr.htm

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Wie Unternehmen in der Ukraine versuchen, die Kriegssituation für die
Schwächung von Arbeitsschutzbestimmungen zu nutzen, erfuhr eine Delegation
von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die die Ukraine im Oktober
dieses Jahres besuchte.

 

 

Von Torsten Neumann

 

 

Nachdem Ungarn Anfang Februar 2024 seine Blockade gegen die Finanzhilfen an
die Ukraine aufgegeben hatte, gab es eine Einigung von Europaparlament und
EU-Staaten. Bis zum Jahr 2027 soll die Ukraine 50 Milliarden Euro bekommen.
33 Milliarden Euro werden als Darlehen vergeben, der Rest als Zuschüsse.
Damit solle die Wirtschaft gestärkt werden, kündigte Selenskyj an. Was das
konkret heißt, erleben die Gewerkschaften und die Beschäftigten in der
Ukraine nicht erst seit dem Angriff Russlands im Februar 2022. Schon 2019
verfolgte die Regierung eine Politik, die die Gewerkschaften schwächen
sollte. Damals liefen die Gewerkschaften Sturm
[https://globalvoices.org/2020/01/14/ukraines-workers-mobilise-against-contr
oversial-new-labour-law/] und die Gesetzesvorlage wurde zurückgezogen.

 

Da nun aber Kriegsrecht gilt und Proteste und Streiks verboten sind,
versucht die Selenskyj-Regierung erneut, Arbeitsrechte abzubauen. Die
Gewerkschaften konnten bisher erwirken, dass einige der Maßnahmen auf die
Kriegszeit beschränkt bleiben. Jetzt, wo sich der Krieg in die Länge zieht,
werden aber auch diese befristeten Maßnahmen zum neuen Normalzustand.
Überdies scheint die Regierungspartei noch weiter gehen zu wollen.

 

Die Regierung hat jetzt einen Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz mit 264
Paragraphen veröffentlicht, der als größter Angriff auf die Rechte der
Arbeitnehmer:innen während der Zeit des Kriegsrechts angesehen werden kann.
Würde das Gesetz wie geplant in Kraft treten, liefen Millionen von Menschen
Gefahr, ihren Kündigungsschutz zu verlieren. Darüber hinaus enthält der
Gesetzentwurf Bestimmungen, wonach bei der Weitergabe von
Geschäftsgeheimnissen leichter gekündigt, die Arbeitszeit auf zwölf Stunden
verlängert werden kann, so wie das Recht der Unternehmer, Urlaub
unterbrechen zu können. Die Zahl der Gewerkschaften in einem Unternehmen
soll auf zwei begrenzt und die für die Gründung einer Gewerkschaft
erforderliche Mindestanzahl von Mitgliedern erhöht werden. Sofern das Gesetz
beschlossen wird, soll es zum 1. Januar 2025 in Kraft treten. Der Entwurf
für das Gesetz wurde in aller Eile von einem kleinen Kreis unter der Leitung
von Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko und der Abgeordneten Halyna
Tretjakowa ohne die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern erarbeitet. 

 

Ein gemeinsames Vertretungsorgan der ukrainischen Gewerkschaften, dem die
beiden Dachverbände FPSU und KVPU so wie die FPU (Föderation der
Transportarbeiter:innen) und mehrere andere Gewerkschaften angehören, haben
zum Gesetzentwurf eine gemeinsame Stellungnahme erarbeitet. Sie fordern von
der Regierung, das Gesetz nicht zu beschließen. Der Gesetzentwurf
gewährleiste nicht die in der ukrainischen Verfassung festgelegten
Arbeitsrechte und -garantien für Beschäftigte. Darüber hinaus berücksichtige
der Entwurf auch nicht in vollem Umfang die Normen und Standards der
internationalen Rechtsakte der IAO und der EU. 

 

Seit ihrer Unabhängigkeit im Dezember 1991 wurde die Ukraine einer
Schocktherapie unterzogen. Dennoch hat sie sich den geforderten Maßnahmen
teilweise widersetzt. Dazu gehört beispielsweise das Verbot, Ackerland an
ausländische Investoren zu verkaufen, oder die Weigerung öffentliche
Infrastrukturen und Dienstleistungen massiv zu privatisieren. Den
Erfahrungen in Griechenland folgend, will das internationale Kapital,
unterstützt von Regierungen und der EU sowie von IWF und Weltbank dies jetzt
unter dem Zwang der Schuldenknute nachholen. Die ukrainische Regierung hat
den Auflagen der EU zugestimmt und ist dabei, das Arbeitsrecht schrittweise
zu verschlechtern.

 

Ein weiterer Schritt das Land unter Ausnutzung der Kriegssituation für
ausländisches Kapital noch attraktiver zu machen, ist die für Juni 2024 in
Berlin geplante Ukraine Recovery Conference. Hier wird es um weitere
Privatisierungen von öffentlichen Betrieben, Infrastrukturen und fruchtbaren
Ländereien, weitere Deregulierung und Abbau des Arbeitsrechts und Abbau
öffentlicher Dienstleistungen gehen. Eines der deutlichsten Zeichen, in
welche Richtung der sogenannte Wiederaufbau der Ukraine durch die Westmächte
gehen soll, ist der Umstand, dass bei der Londoner Ukraine Recovery
Conference 2023 BlackRock und JP Morgan mit der Koordination des
Wiederaufbaus beauftragt wurden. 

 

Wie Unternehmen in der Ukraine versuchen, die Kriegssituation für die
Schwächung von Arbeitsschutzbestimmungen zu nutzen, erfuhr eine Delegation
von Gewerkschafter:innen, die die Ukraine im Oktober dieses Jahres besuchte.
Die Vorsitzende der Gewerkschaft, Natalja Marynjuk, bei ArcelorMittal, einem
der größten Stahlwerke in Krywyj Rih, berichtete, dass das örtliche
Management einen seit 2007 bestehenden Kollektivvertrag, der alle
wesentlichen Arbeitsbeziehungen regelt, in 26 Punkten verändern will. Der
Kollektivvertrag läuft formal am 31.12.2023 aus. 

 

Bisher war es üblich, den Kollektivvertrag einfach zu verlängern. Genau dies
hatte die Gewerkschaft auch vorgeschlagen. Jetzt soll alles anders sein.
Natalja ist der Meinung, dass das Management die Kriegssituation ausnutzt,
um beispielsweise Sicherheitsstandards zu senken. Es gab mit allen elf im
Werk vertretenen Gewerkschaften ein Treffen, um zu beraten, wie man
gemeinsam gegen das Vorhaben des Managements vorgehen kann. Die
Handlungsmöglichkeiten sind durch die Kriegssituation formal beschränkt.
Trotzdem will man eine Streikoption nicht ausschließen. 

 

An den Vorstandschef von AcelorMittal wurde der Appell gerichtet, er möge
doch bitte nach Krywyj Rih kommen und sich ein Bild von der Arbeitssituation
machen. Die Sicherheit für die Beschäftigten sei jetzt schon katastrophal,
da könne man die Standards nicht noch absenken. Man habe nicht vergessen,
wie alle ausländischen Mitglieder der Geschäftsleitung eine Woche vor
Kriegsausbruch die Ukraine verlassen haben. 3000 Beschäftigte kämpfen an der
Front und sorgten für die Sicherheit der Stadt und für die Sicherheit des
Werks. Jetzt den Kollektivvertrag zu kündigen, wäre einfach eine
Schweinerei. 

 

IndustriALL Global Union hat Ende 2023 ein Treffen mit den Topmanagern von
ArcelorMittal organisiert. Natalja Marynjuk forderte bei dem Treffen, die
Laufzeit des Tarifvertrags zu verlängern. Die Unternehmensmanager erklärten
sich bereit, die Normen des bestehenden Tarifvertrags während des
Verhandlungszeitraums einzuhalten – mehr nicht. Es kommt jetzt darauf an,
die Gewerkschaften in Krywyj Rih dabei zu unterstützen, einen neuen
Tarifvertrag abzuschließen, bei dem die Arbeitsrechte der Beschäftigten
gewahrt bleiben. 

 

Die Delegation bereiste die Ukraine in der Zeit vom 9. bis zum 13. Oktober
2023 im Rahmen der Initiative „Gewerkschaftliche Solidarität – Humanitäre
Hilfe für ukrainische Gewerkschaften“. Ziel war es, sich vor Ort einen
Eindruck zu verschaffen, vor welchen Herausforderungen die Gewerkschaften
und soziale Initiativen in der Ukraine angesichts von Krieg und neoliberalem
Umbau der ukrainischen Gesellschaft stehen. Während der Reise, die nach Kiew
und Krywyj Rih führte, konnten viele Gespräche mit Aktivist:innen geführt
werden. Dazu gehörten Gespräche mit Gewerkschaften des Dachverbands FPU und
ein Gespräch mit Ärzten, die sich für die bessere Krankenversorgung
einsetzen und dafür eine unabhängige Gewerkschaft gegründet haben. Der
Initiative „Be like Nina“ ist es gelungen, eine landesweite Kampagne zur
Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern auf den Weg zu
bringen. Auch mit den Gründerinnen gab es ein Treffen. Der Verein
#BeLikeNina zählt jetzt 80 000 Mitglieder. Ziel ist es, eine allukrainische
Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter:innen zu gründen.

 

Durch die Delegationsreise konnten viele persönliche Kontakte vor Ort
geknüpft werden, die jetzt für konkrete Solidaritätsarbeit genutzt werden
können. Nähere Informationen sind zu erhalten über: 

 

 

 

Initiative „Gewerkschaftliche Solidarität - Humanitäre Hilfe für ukrainische
Gewerkschaften“

Kontakt:  <mailto:Christian.Haasen at gmail.com> Christian.Haasen at gmail.com 

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 2/2024 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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