[IPK] Palästina: Tote können nicht berichten

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Mi Mär 20 14:49:13 CET 2024


Palästina:

Tote können nicht berichten
Online unter: https://www.inprekorr.de/628-pal-gm.htm

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Der folgende Artikel nimmt u. a. Bezug auf das englischsprachige Programm
von Al Jazeera, für das Journalisten aus unterschiedlicher politischer
Richtung und aus verschiedenen Ländern arbeiten und das sich von dem strikt
islamisch ausgerichteten arabischsprachigen Schwestersender unterscheidet.

 

 

Von Giorgos Mitralias

 

 

Kein Verbrecher will Zeugen für seine Verbrechen und Israel natürlich auch
nicht. Deshalb unternimmt es alles, um seine Verbrechen in Gaza und in den
besetzten Gebieten fernab des Rampenlichts begehen zu können, wobei
verschiedene Methoden zur Anwendung kommen:

 

* Einreiseverbot für ausländische Journalisten in den Gazastreifen, dessen
Eingänge es alle kontrolliert.

* Aufforderung an diejenigen, die in Gaza geblieben sind, den Gazastreifen
sofort zu verlassen, wenn sie nicht sterben wollen.

* Methodische und systematische Ermordung vorrangig derjenigen, die unbeirrt
an ihrer Arbeit als Journalisten festhalten.

* Druck auf integre Journalisten auf der ganzen Welt mit dem
Totschlagargument des „Antisemitismus“, wenn sie sich nicht ausschließlich
in ihrer Berichterstattung über die Geschehnisse im Nahen Osten auf Quellen
der israelischen Armee und der israelischen Regierung stützen.

* Druck auf die Medien anderer Länder – unter der aktiven Kooperation
staatlicher Behörden und sonstiger pressure groups in aller Welt –, eine
bestimmte Terminologie zu verwenden, die Wörter und Ausdrücke verbietet wie
„Eskalation des Krieges“ oder sogar „stop the war!“

 

Aber das ist noch nicht alles. Seit einigen Wochen erleben wir weltweit eine
neue Form der Medienmanipulation durch Israel und seine internationalen
Komplizen: das Blackout, das totale journalistische Schweigen über die
„Aktionen“ der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung.
Der Grund dafür ist offensichtlich: So groß ist das Ausmaß ihrer Verbrechen,
so groß ist der Schock und die Abscheu, die sie fast überall hervorrufen, so
unwirksam sind mittlerweile ihre „Argumente“ und Propaganda, dass Israel und
seine Unterstützer in der ganzen Welt es offenbar bevorzugen, ihren Krieg
„vergessen“ zu machen und nicht mehr täglich darüber zu berichten! So kommt
es, dass beispielsweise Medien, die zwei Monate lang ihre Titelseiten dem
Blutbad in Gaza gewidmet haben, plötzlich und wie von Zauberhand kein Wort
mehr darüber verlieren oder das Thema nur noch kurz und unter ferner liefen
behandeln und die Massaker in Gaza systematisch durch Boulevardberichte
ersetzen.

 

Die Auswirkungen dieses Medien-Blackouts sind bereits spürbar: Der Krieg und
damit die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die
Israel begeht, sind nun Teil der täglichen Routine oder geraten zunehmend in
Vergessenheit. Dies ist zweifellos die größte, gefährlichste und
alptraumhafteste „Leistung“ Netanjahus und seiner Henker, denn sie gewöhnen
uns „an eine Welt, die immer mehr einem Dschungel gleicht, in der nur das
Recht des Stärkeren herrscht und in der die schlimmsten Gräueltaten gegen
die Schwächsten ‚erlaubt’ sind!“

 

Das alles passiert, ohne dass sich jemand darum schert und ohne die
geringste Reaktion der Mediengewerkschaften in unseren Ländern. Sie scheint
es nicht sonderlich umzutreiben, dass nicht nur ein oder zwei, sondern 110
(bis Anfang Januar) ihrer Kolleg*innen hauptsächlich in Gaza und den
besetzten Gebieten von der israelischen Armee und israelischen Siedlern in
nur drei Monaten getötet oder vielmehr ermordet wurden, was bei weitem das
größte Massaker an Journalisten in der Geschichte der Menschheit ist! Worauf
warten sie eigentlich noch, um auf die Straße zu gehen und zu streiken, in
Solidarität und Unterstützung für ihre palästinensischen Kolleg*innen, die
in der Hölle von Gaza leben und sterben und verzweifelt um derlei
Unterstützung und Solidarität bitten?

 

Der stellvertretende Generalsekretär der Internationalen
Journalistenföderation (IJF) Tim Dawson hatte bereits vor drei Wochen
erklärt: „Ich glaube nicht, dass jemals so viele Journalisten in irgendeinem
Konflikt getötet wurden. Zu Beginn des Konflikts gab es etwa 1000
Journalisten in Gaza. Auch wenn die genaue Zahl der Toten nicht ganz exakt
bestimmbar ist und zwischen 7,5 und 10 Prozent liegt, ist diese Zahl
außerordentlich hoch.“. Die Vorsitzende der IJF (weltweit 600 000
Mitglieder), Dominique Pradalié, fügte hinzu: „Auf Kriegsschauplätzen kann
es punktuell zu Übergriffen gegen Journalisten kommen. In Gaza jedoch
erfolgen sie systematisch“.

 

------------ KASTEN -----------------------------------------------

 

DRINGLICHE AUFFORDERUNG ...

 

Der Sicherheitsrat muss dringend Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen,
dass Israel Journalisten den Schutz gewährt, den ihre Mission erfordert, und
Israel auffordern, folgende Maßnahmen umzusetzen:

* Das Militär nachdrücklich und ausdrücklich anweisen, seine Verpflichtungen
nach dem humanitären Völkerrecht zum Schutz von Journalisten strikt
einzuhalten.

* die Tore des Grenzübergangs Rafah zu öffnen, um einerseits die Einreise
internationaler Medien nach Gaza und andererseits die Evakuierung
palästinensischer Journalisten, die ausreisen wollen, zu ermöglichen;

* Schutzzonen („shelter areas“) einrichten, um Journalisten, die aus dem
Gazastreifen über den Konflikt berichten, Schutz zu bieten;

* die Lieferung von Schutzausrüstung und Berufsausrüstung für Journalisten,
die ihre Arbeit in und um das Konfliktgebiet fortsetzen, zu erleichtern.

 

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Der Vizepräsident der IJF, der Palästinenser Nasser Abu Bakr, verwies
darauf, dass Journalisten, die in Gaza und den besetzten Gebieten arbeiten,
„regelmäßig mit dem Tod bedroht werden und anonyme oder vom Militär kommende
Anrufe und Nachrichten per whatsapp erhalten. Jeden Tag kommuniziere ich mit
meinen Kollegen, die noch vor Ort sind, und frage sie, wie es ihnen geht.
Sie antworten mir nur eines: Wir sind noch am Leben. Sie rechnen mit ihrem
Tod und fragen sich, wer der Nächste sein wird. Aber sie bestehen darauf,
ihre Arbeit fortzusetzen. Wenn sie aufhören, wer wird dann die
Massenverbrechen und die ethnische Säuberung, die unser Volk erleiden muss,
erzählen und dokumentieren? Israel will die Journalisten töten, da sie
Zeugen seiner Verbrechen sind.“

 

Natürlich ist es kein Zufall, dass die meisten der bedrohten, verletzten
oder getöteten Journalisten für den Sender Al Jazeera arbeiten, denn genau
dieser internationale Fernsehsender ist ständig im Visier Israels, das ihn
um jeden Preis zum Schweigen bringen will. Warum ist das so? Doch, weil Al
Jazeera der einzige Sender ist, der seine Arbeit richtig macht: Er
informiert direkt und in der Regel „live“, berichtet über alle Entwicklungen
und Ereignisse im Nahen Osten – und nicht nur im Nahen Osten – und lässt
alle Seiten zu Wort kommen, auch die abscheulichsten. Da wir den
englischsprachigen Kanal von Al Jazeera in den letzten drei Monaten
ununterbrochen verfolgt haben, können wir bestätigen, dass wir dort sowohl
Vertreter der Hamas als auch israelische Minister und Generäle, sowohl
US-Amerikaner und andere Unterstützer von Netanjahu als auch diejenigen, die
die Palästinenser unterstützen, gesehen haben.

 

Mit anderen Worten: Wir haben festgestellt, dass Al Jazeera genau das tut,
was die große Mehrheit der Medien, darunter natürlich auch die in unseren
„liberalen“ Ländern, verweigert. Was die Verleumdungen betrifft, die
traditionell selbst von vielen „Progressiven“ gegen sie in die Welt gesetzt
werden, nämlich dass Al Jazeera das Sprachrohr der „Muslimbruderschaft“ oder
der Hamas sei, so sind dies ebenso plumpe Lügen wie die Behauptung, Israel
bombardiere und töte wahllos nicht palästinensische Zivilisten, sondern
„Hamas-Terroristen“. Es wäre auch zumindest paradox, wenn Al Jazeera
islamistisch, obskurantistisch und reaktionär wäre, wo es doch jedwede Form
von Antisemitismus hart kritisiert und progressive und antirassistische
Bewegungen auf der ganzen Welt vorbehaltlos unterstützt und fördert,
einschließlich derjenigen von Juden in den USA und anderswo, die täglich
demonstrieren und einen sofortigen Waffenstillstand fordern.

 

Es liegt also an seinen Journalisten, dass Al Jazeera in diesen barbarischen
Zeiten, in denen objektive Informationen immer schwerer zu finden sind, so
einzigartig und wertvoll ist. Daher rührt und erschüttert uns ihr
unglaubliches Leid noch mehr. Es sind nämlich nicht nur inzwischen 110
Journalisten von der israelischen Armee getötet worden, sondern auch
Familienmitglieder von ihnen, von den Großeltern bis zu den Enkeln und
Babys, ebenfalls ganz vorsätzlich! Besonders tragisch ist, neben vielen
anderen, der Fall des Chefreporters von Al Jazeera in Gaza, Wael Al-Dahdouh,
der bei drei aufeinanderfolgenden israelischen Bombenangriffen seine Frau,
seine Tochter, seinen jüngsten Sohn und sein Enkelkind sowie acht weitere
Familienangehörige verloren hat.

 

Außerdem ist sein Kameramann verblutet, weil die israelischen Soldaten den
Krankenwagen nicht zu ihm durchließen – obwohl er selbst verletzt war –, und
schließlich sein ältester Sohn, der ebenfalls Journalist war! Wir brauchen
nicht zu sagen, dass es keine Worte für die Gefühle eines Zuschauers gibt,
wenn er sieht, wie jemand – und das ist mehrmals passiert – einen
Al-Jazeera-Reporter unterbricht, während er live aus den Trümmern der
unzähligen israelischen Bombenangriffe berichtet, und ihm ins Ohr flüstert,
dass gerade Familienmitglieder getötet worden seien. Und dabei noch sieht,
wie der Reporter versteinert und blass wird und Tränen in den Augen hat …
während er weiter berichtet und über den Tod anderer spricht!

 

Es sind also diese Journalisten, die die Ehre des internationalen
Journalismus retten, denen die Journalistengewerkschaften in unseren Ländern
dringend und mit Taten ihre Solidarität zeigen müssen, nicht nur, weil sie
ihnen zu Dank verpflichtet sind, sondern auch, weil die Gesundheit und gar
das Leben dieser unerschrockenen Journalisten von unserer Unterstützung
abhängt. Doch nicht nur unsere Journalistengewerkschaften, sondern die
gesamte fortschrittliche Opposition und die Linken müssen ihre
Existenzberechtigung unter Beweis stellen, indem sie das gemarterte
palästinensische Volk nicht nur mit Worten, sondern mit Taten unterstützen.
Etwa durch ihre aktive Unterstützung für die südafrikanische Völkermordklage
gegen Israel am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Und zwar indem sie
auf die Straße gehen und in den Parlamenten Druck auf ihre Regierungen
ausüben, sich der Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof
anzuschließen oder sie zumindest zu unterstützen. Hic Rhodus, hic salta …

 

 

Aus: essf  vom 12. Januar 2024
[https://europe-solidaire.org/spip.php?article69345]

Übersetzung: MiWe

 

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Aus:   die internationale Nr. 2/2024 

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