[IPK] "Faschisierung"?
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So Jun 29 19:29:44 CEST 2025
Faschismus:
„Faschisierung“?
Online unter: https://www.inprekorr.de/644-fasch.htm
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Häufig wird von Linken bei der Beschreibung bzw. Analyse von aktuellen
Entwicklungen der bürgerlichen Demokratien der Begriff „Faschisierung“
benutzt – und er liegt ja auch nahe.
Von Johann-Friedrich Anders
Zur Charakterisierung der gegenwärtigen Entwicklungen zitiere ich aus der
Potsdamer ISO-Broschüre von 2025 (gelegentlich stilistisch leicht verändert)
„Warum ist die AfD gefährlich?“ [1]:
„Auf die anhaltende Krise und die Verunsicherung der Bevölkerung antwortet
die bürgerliche Politik mit Scheinlösungen. Alle bürgerlichen Parteien
(einschließlich der SPD) bieten für die Lösung der aktuellen Probleme
Sündenböcke an, die von den eigentlichen Ursachen ablenken. Hier treffen sie
sich mit Trump, Orban, Meloni, Wilders usw.“
Und:
„Es gelingt der AfD, das allgemeine Unbehagen großer Teile der Bevölkerung
auf die ihrer Ansicht nach zentrale Frage zuzuspitzen und den Eindruck zu
erzeugen, die Änderung der Flüchtlingspolitik (und allgemeiner: der
Einwanderungspolitik) könne den größten Teil aller Probleme lösen.
Die AfD ist auf dem Vormarsch, und sie treibt die offizielle
Regierungspolitik in der Flüchtlingsfrage vor sich her. Dies kann sie
deswegen, weil die anderen Parteien (ausgenommen DIE LINKE) selbst
rassistische Positionen vertreten, wenn auch weniger offen. Auf diese Weise
finden offen rassistische und faschistische Positionen immer breitere
Zustimmung in der Gesamtgesellschaft und sind längst in der „bürgerlichen
Mitte“ angekommen …
Ein weiteres Kernelement der Politik der AfD ist die Praktizierung von
Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Besonders in den östlichen
Bundesländern versucht die AfD mit Erfolg – zusammen mit neonazistischen
Gangs –, andersdenkende Menschen einzuschüchtern und zu terrorisieren.“
Und schließlich das Programm der AfD und dessen Nähe zur NS-Ideologie:
Zentrales Ziel der AFD ist die Wiederherstellung einer Volksgemeinschaft,
die rassisch homogen ist – eine faschistische Vorstellung.
„Diese völkisch-nationalistische Sicht führt zur Gleichschaltung der
Gesellschaft, zur Abschaffung der sozialen Kämpfe, zur Unterordnung der
arbeitenden Menschen unter die Interessen des Kapitals … Die
‚Remigrations‘-Projekte der AfD würden für Millionen Menschen die
Zwangsvertreibung bedeuten …
Offiziell reden die AfD-Anhänger*innen nicht von rassischer Reinheit; sie
verwenden heute die Begriffe ‚ethnokulturelle Identität‘ und ‚Leitkultur‘.
Aber ihr populistischer Politikstil kann nicht darüber hinwegtäuschen, was
sie damit meinen. Sie wollen den angeblichen ‚kulturellen Zerfall der
Nation‘ verhindern, sie konstruieren den Popanz des ‚demographischen
Niedergangs des deutschen Volkes‘.“ Die Frage ist: Ist diese Situation bzw.
Entwicklung mit dem Begriff „Faschisierung“ zutreffend charakterisiert?
ZUR KRITIK
Wer heute von „Faschisierung“ spricht, spricht vor allem eine Warnung vor
schlimmen, an den Faschismus erinnernden Ereignissen bzw. Entwicklungen aus.
Zugrunde liegt diesem Wortgebrauch eine Theorie, die eine nur wenig
zutreffende Faschismus-Theorie ist, die politisch in die Irre führt.
1) Es sei eine evolutionäre (eine schleichende, allmähliche, organische)
Entwicklung möglich, die ohne explosive Ereignisse, ohne Bruch, zum
Faschismus führen könne.
2) Es bestehe kein qualitativer Unterschied zwischen einem
bürgerlich-parlamentarischen System und einem faschistischen System.
3) Es gebe keinen qualitativen Unterschied zwischen einem autoritären
„starken Staat“ und einem faschistischen System.
zu 1. Tatsächlich ist der Übergang zum Faschismus *keine* schleichende
Entwicklung, *kein* schleichender Übergang, sondern ein Bruch. Das ist
durchaus keine neue Erkenntnis, sondern nur eine offenbar weitgehend in
Vergessenheit geratene.
Unter linken Faschismus-Forschern dürfte bei allen Differenzen Einigkeit
darüber bestehen, dass Ernest Mandel Recht hat mit dem, was er 1971 in
seiner Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ schrieb:
„Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und
Verselbstständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht
bloß die ‚offene Diktatur des Monopolkapitals‘. Er ist eine besondere Form
der ‚starken Exekutive‘ und der ‚offenen Diktatur‘, die sich durch völlige
Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen – auch der gemäßigten, sicher
der sozialdemokratischen – kennzeichnet. Es ist der Versuch, durch völlige
Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes,
der organisierten Selbstverteidigung und der Lohnabhängigen, gewaltsam zu
verhindern.“ (Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie“, in Leo Trotzki:
„Schriften über Deutschland“, Frankfurt am Main, 1971, S. 32) Um das
durchsetzen zu können, braucht der Faschismus eine aggressive, gewalttätige
Massenbewegung.
zu 2. Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einem
bürgerlich-parlamentarischen System und einem faschistischen System. Dazu
führte 1932 Trotzki aus (in: „Was nun? Schicksalsfragen des deutschen
Proletariats“):
„Zwischen Demokratie und Faschismus besteht ein Gegensatz. Er ist durchaus
nicht ‚absolut‘ oder, um in der Sprache des Marxismus zu reden, bezeichnet
durchaus nicht die Herrschaft zweier unversöhnlicher Klassen. Aber er
kennzeichnet verschiedene Herrschaftssysteme ein und derselben Klasse.“
(Trotzki, S. 193) Trotzki schreibt zusammenfassend:
„Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und
faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar: sie
nimmt zu diesem oder jenem Zuflucht in Abhängigkeit von den historischen
Bedingungen … Die Reihe ist an das faschistische Regime gekommen, sobald die
‚normalen‘ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur
mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Gleichgewichtserhaltung der
Gesellschaft nicht mehr ausreichen.“ (Trotzki, S. 194)
zu 3. Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einem autoritären
„starken Staat“ und einem faschistischen System.
Der „starke Staat“ kann zwar – und er tut es – „Gewalt und Repression
einsetzen und der Arbeiterbewegung oder radikalen Gruppen schwere Schläge
versetzen“, aber er ist nicht fähig zu dem, was der Faschismus leistet: “die
Arbeiterorganisationen zu vernichten und die Arbeiterklasse zu atomisieren“
(Mandel: „Trotzkis Faschismustheorie“, S. 47).
Faschismus ist kein „starker Staat“, sondern „ein radikal autoritärer,
terroristischer imperialistischer Staat, der die systematische Anwendung von
Gewalt gegen seine – tatsächlichen, vermeintlichen oder angeblichen – Feinde
im Innern wie im Ausland sozusagen institutionalisiert, ideologisch
rationalisiert und zur Staatsdoktrin erhebt.“ (Mandel: „Der Zweite
Weltkrieg“, Frankfurt am Main 1991, S. 239)
WAS DROHT HEUTE?
Die bürgerliche Gesellschaft braucht zwar Autoritarismus, aber keine
faschistische Massenbewegung, und die ist auch nicht in Sicht. Zur
Begründung nochmal ein paar Zitate aus der Potsdamer ISO-Broschüre „Warum
ist die AfD gefährlich?“:
„In der aktuellen Situation gibt es vor allem zwei Gründe, warum das
deutsche Bürgertum auf mittlere Sicht nicht auf die Karte einer
faschistischen Machtergreifung setzt:
Zum einen sprechen gegen einen solchen Weg heute ökonomische Faktoren: die
Verflechtung der Weltwirtschaft, vor allem aber die Bedeutung der deutschen
Exportindustrie. Diese würde durch einen Prozess faschistischer
Machtergreifung massiv behindert.
Zum anderen hat es die herrschende Klasse in Deutschland nach wie vor nicht
mit einer starken, klassenkämpferischen Arbeiter*innenbewegung zu tun, die
(für die Bourgeoisie eine Gefährdung ihrer Macht darstellte und) durch ein
faschistisches Regime zerschlagen werden müsste. Deshalb hat die herrschende
Klasse aktuell keinen „Bedarf“ an einer faschistischen Machtergreifung … Und
so ist die Gefahr einer faschistischen Machtergreifung in Deutschland nicht
akut. (Dies ist keine Entwarnung vor den heutigen Folgen und Zielen der
AfD.)“
„Das Problem heute ist die Gewöhnung an die Präsenz einer faschistoiden
Partei, die sich stark im Aufwind befindet. Die aktuelle hauptsächliche
Bedrohung durch die AfD liegt in der zunehmenden Enttabuisierung und der
Verbreitung von tief reaktionären Ideologien, die es den bürgerlich
demokratischen Parteien leichter macht, reaktionäre Maßnahmen ohne großen
Widerstand zu propagieren und umzusetzen.
Die unmittelbare Gefahr, die die AfD darstellt, liegt hauptsächlich in der
zunehmenden Änderung der Regierungspolitik (auch wenn die AfD nicht an der
Regierung ist) in Richtung Autoritarismus (Beschneidung gewerkschaftlicher
Rechte im Betrieb und außerhalb), Militarisierung, Abbau sozialer
Sicherungssysteme. Die bürgerlichen Parteien werden sich nicht scheuen,
weiterhin Teile des AfD-Programms selbst umzusetzen.
Eine weitere aktuell reale Gefahr, die von der AfD ausgeht, liegt darin,
dass sie die faschistischen Gruppen unterstützt, die mit ihren
terroristischen Aktivitäten (etwa mit ihren Anschlägen auf
Sammelunterkünfte, aber auch mit ihren Angriffen auf Linke und auf andere
Alternative) Menschen mit Gefahr für Leib und Leben bedrohen … Dadurch wird
der Ruf nach dem „starken Staat“ lauter, was es der Regierung erleichtert,
Bürgerrechte zu beschneiden.“
„Die Herrschenden könnten eine Verschärfung ihrer Klassenpolitik – nicht
zuletzt aufgrund der politischen Schwäche der Gewerkschaften – ohne einen
Regimewechsel in Richtung Faschismus erreichen. Eine verschärfte
„Sicherheitspolitik“ (schärfere Polizeigesetze usw.) und mehr Autoritarismus
und Militarismus ließen sich ohne faschistische Massenbewegung und sogar
besser (und leichter?) umsetzen. Die Rechtsentwicklung mit dem Abbau
sozialer Sicherungssysteme und der Beschneidung von Bürgerrechten (wie das
heute etwa in der Türkei und zunehmend in Ungarn, in Italien, den USA usw.
zu erleben ist) könnte weitergehen und stünde sicherlich auf dem Programm
der Herrschenden. Auch eine Beschneidung des Streikrechts dürfte unter den
Herrschenden weiter diskutiert werden und könnte sich durchaus umsetzen
lassen, wenn der Widerstand schwach bleibt.“
Diese – mögliche – Entwicklung wäre keine zunehmende „Faschisierung“ – ihr
Ergebnis wäre kein faschistischer Staat, sondern eine autoritäre bürgerliche
Demokratie, ein „starker Staat“.
FAZIT
Wer heutzutage von „Faschisierung“ spricht, warnt zwar davor, dass die
Gesellschaft der BRD sich zu einer faschistischen Gesellschaft entwickele.
Doch mit dieser Begrifflichkeit werden die qualitativen und politisch
wichtigen Unterschiede zwischen parlamentarischen Demokratien, einem
„starken Staat“ und einem faschistischen Herrschaftssystem ignoriert bzw.
verwischt.
Auch ist es keineswegs erhellend, eine Vielzahl von Ereignissen als
zunehmende „Faschisierung“ moralisch zu verurteilen, dabei aber im Dunklen
zu lassen, wer denn da konkret „faschisiert“.
Erstens müssen die Analysen der gesellschaftlichen Prozesse, der Interessen
der verschiedenen Klassen und der Kräfteverhältnisse vorangetrieben werden.
Dabei muss deutlich gemacht werden, wer die Opfer und wer die Täter dieser
Prozesse und vor allem der staatlichen Politik sind. Diese Analysen müssen
in eine Form gebracht werden, die auch für politisch nicht aktive Menschen
gut nachvollziehbar sind.
Zweitens muss verdeutlicht werden, dass gegen Rechts nur linke Politik
hilft, also eine aktive, klassenkämpferische Politik, die sich an den
Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung und aller unterdrückten Schichten
ausrichtet. Hier sind in erster Linie die Gewerkschaften gefordert. Sie
müssen mit diesen Aufgaben konfrontiert werden. Aber es darf nicht darauf
gewartet werden, bis die Gewerkschaften die Zeichen der Zeit erkannt haben.
Der Widerstand muss praktisch angegangen werden: auf der Straße, am
Stammtisch, in der Schule, am Arbeitsplatz. Überall dort, wo rechtes
Gedankengut (auch und gerade in der Migrationsfrage) auftaucht, müssen wir
dagegenhalten und die Zusammenhänge und die Folgen einer Stärkung der
autoritären Politik aufzeigen.
Letztlich entscheidend wird sein, dass mit klassenkämpferischer Politik eine
reale, machbare und attraktive Alternative sichtbar wird, eine, für die zu
kämpfen sich lohnt. Nur damit kann den Rechtsradikalen die Anziehungskraft
und das Rekrutierungspotential entzogen werden.
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Aus: die internationale Nr. 4/2025
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