[IPK] Nicaragua: Die pompöse Beerdigung der Sandinistischen Revolution

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Mo Nov 3 09:33:04 CET 2025


Nicaragua:

Die pompöse Beerdigung der Sandinistischen Revolution

Online unter: https://www.inprekorr.de/648-nic.htm

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Am 46. Jahrestag der sandinistischen Revolution wurden auch ihre letzten
noch verbliebenen Überreste in einer ebenso bizarren wie pompösen Zeremonie
mit Füßen zertreten und beerdigt. [1]

 

 

Von Matthias Schindler

 

 

Am 19. Juli 1979 triumphierte das Volk Nicaraguas über die Diktatur des
Somoza-Clans und eröffnete damit die fast 11 Jahre andauernde Sandinistische
Revolution. 

 

Am 19. Juli 2025, zum 46. Jahrestag, ließ das Diktatorenpaar Daniel Ortega
und Rosario Murillo – hermetisch abgeriegelt von der normalen Bevölkerung –
über 36 000 Schülerinnen und Schüler und 4000 Uniformierte der Polizei und
der Armee auf der Plaza de la Fé (Platz des Glaubens) in streng geordneten
Blöcken von jeweils 150 Personen aufmarschieren, um sich als die absoluten
Herrscher Nicaraguas feiern zu lassen.

 

Der gesamte Ablauf dieser vierstündigen Kundgebung
[https://www.youtube.com/watch?v=s1ilvVjNUF8] war darauf ausgerichtet, dass
Rosario Murillo neben Daniel Ortega als gleichberechtigte Co-Präsidentin
erscheint. Dennoch machten Daniel-Daniel-Daniel-Gesänge deutlich, wer der
eigentliche Herrscher im Lande ist. So begann Ortega seine Rede auch mit den
Worten: „Hier sind wir alle Daniel!“ Der /Comandante/, der niemals am
bewaffneten Befreiungskampf teilgenommen hat und der 1979 in Nicaragua eine
völlig unbekannte Person war, setzt sich hier gleich mit der FSLN, mit der
Sandinistischen Revolution und mit dem gesamten Volk Nicaraguas. Dies ist
jedoch nur ein erneuter Ausdruck seines Größenwahns und seiner Überzeugung,
in Nicaragua eine göttliche Mission zu erfüllen.

 

 

SÄUBERUNGEN UND REPRESSION

 

Seine wichtigste Botschaft bestand in der offenen Bedrohung jeglicher
kritischer oder gar oppositioneller Regungen: „Damit wir in Frieden leben
können, müssen wir Stärke und Kampfgeist beweisen … wir müssen allzeit
bereit sein, Krieg gegen die Verschwörer zu führen.“ Er forderte die ihm
treu ergebenen paramilitärischen Stadtteilstrukturen zur „revolutionären
Wachsamkeit“ gegenüber allen „Terroristen und Vaterlandsverrätern“ auf, denn
„sie sollen wissen, dass man sie fassen und verurteilen wird.“

 

Dass dies keine leeren Worte sind, zeigt die Entwicklung der staatlichen
Repression der letzten Monate und Jahre. Das Jahr 2025 war dadurch
gekennzeichnet, dass die politischen Verfolgungsmaßnahmen sich zunehmend
auch gegen mittlere und höhere Funktionäre des Regimes richteten. Vor dem
Hintergrund immer wiederkehrender Gerüchte über den angeblich schlechten
Gesundheitszustand Ortegas ist aktuell eine wahre Säuberungswelle zu
beobachten, die schon vor über einem Jahr begonnen hat und die inzwischen
sogar engste Vertrauenspersonen des Präsidentenpaares trifft.

 

So wurde beispielsweise Bayardo Arce – einer der neun /Comandantes de la
Revolución/, die die Sandinistische Revolution angeführt haben, und der
letzte noch verbliebene Verbündete Ortegas aus diesem Gremium – unter dem
Vorwurf der Korruption am 26. Juli 2025 unter Hausarrest gestellt. Er war
sicherlich einer der größten Profiteure der privaten Aneignung öffentlichen
Eigentums durch hohe Kader der FSLN und kam so in den Besitz diverser
Unternehmen, vor allem bei der Vermarktung von Reis, einem der
Grundnahrungsmittel in Nicaragua. Aber die dort herrschende
Vetternwirtschaft machte aus ihm noch keinen erfolgreichen Kapitalisten,
sondern endete in hohen Steuerschulden und führte letztlich zur Enteignung
seiner Betriebe.

 

Am 14. August widerfuhr sogar Néstor Moncada Lau das gleiche Schicksal. Er
war in diverse terroristische Anschläge verwickelt, hat die militärische
Unterdrückung friedlicher Proteste maßgeblich mitorganisiert, diente auf dem
Papier als Vater mindestens eines der außerehelichen Kinder von Daniel
Ortega, war über viele Jahre hinweg der Sicherheitschef des Sekretariats der
FSLN und gilt – als einer der engsten Vertrauten Ortegas – auch als einer
der besten Kenner aller Skandale innerhalb des Präsidentenhauses.

 

Bereits am 19. Juni 2025 wurde der prominente Kritiker des Ortega Regimes
Roberto Samcam von Auftragskillern in seinem costa-ricanischen Exil
ermordet. Samcam war Major im Ruhestand und einer der besten Kenner der
internen Vorgänge in der nicaraguanischen Armee. Er analysierte und
kritisierte in vielen Artikeln und auch Büchern sehr detailliert die innere
Dynamik des orteguistischen Unterdrückungsapparates und insbesondere auch
die Beteiligung des Militärs an den Repressionsmaßnahmen des Regimes.

 

 

ROSARIO MURILLO ALS NACHFOLGERIN DANIEL ORTEGAS?

 

Dies sind nur drei Beispiele einer Verfolgungswelle, vor der niemand mehr
sicher ist und der inzwischen bereits mehrere tausend Menschen – von
einfachen Privatpersonen bis hin zu höchsten Amtsträgern – zum Opfer
gefallen sind.

 

Dem Regime geht es offensichtlich darum, Rosario Murillo möglichst
reibungslos als Nachfolgerin Ortegas durchzusetzen. Daher werden seit
Monaten nahezu täglich Figuren aus Schlüsselpositionen des Regimes, deren
bedingungsloser Gefolgschaft Murillo möglicherweise nicht komplett sicher
ist, ihrer Posten enthoben und durch andere Marionetten ersetzt. Viele Opfer
dieser Säuberungswelle werden sogar vor Gericht gestellt und wegen
Landesverrates oder Korruption zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Da viele dieser Leute hohe Funktionsträger des Regimes waren, ist es sehr
wahrscheinlich, dass sie sich tatsächlich in großem Stil bereichert haben.
Der eigentliche Grund für ihre Verfolgung liegt jedoch nicht in ihren
Korruptionsgeschäften, die in allen Institutionen Nicaraguas tief verankert
sind, sondern darin, dass Ortega-Murillo Zweifel an deren blindem Gehorsam
haben.

 

An den Todesumständen von Humberto Ortega – dem Bruder von Daniel – wird
deutlich, welch überragende Bedeutung die Nachfolgeregelung Ortegas für das
Regime gegenwärtig hat. Humberto war ebenfalls einer der neun /Comandantes/
der Nationalen Leitung der FSLN. Er war darüber hinaus auch der Stratege des
Befreiungskampfes und der Revolution, Chef der Sandinistischen Armee und bis
zur Aktualität ein starker Mann im Hintergrund der nicaraguanischen Politik.
Am 19. Mai 2024 veröffentlichte die argentinische Internetplattform
/infobae/
[https://www.infobae.com/america/america-latina/2024/05/19/humberto-hermano-
de-daniel-ortega-su-poder-dictatorial-no-tiene-sucesores-tras-su-muerte-debe
ra-haber-elecciones/] ein Interview mit ihm, in dem er die
Führungsqualitäten von Rosario Murillo in Frage stellte und von der
Notwendigkeit sprach, einen Kompromiss mit den oppositionellen Kräften zu
finden. Als Antwort darauf wurde innerhalb weniger Stunden sein Haus von der
Polizei umstellt, ihm wurden alle Kommunikationsmittel abgenommen, er wurde
in völliger Isolation gehalten, und insbesondere wurde ihm die medizinische
Versorgung, die er wegen verschiedener Erkrankungen brauchte, verweigert.
Eine Woche später verurteilte Daniel Ortega seinen Bruder öffentlich als
„Verräter“. Am 9. Juni schickte Humberto von einem geheimen Handy aus noch
einen letzten Hilferuf an die Redaktion der Internetplattform
/Confidencial/. Am 11. Juni wurde er ins Militärkrankenhaus eingeliefert,
aber unter diesen Bedingungen verschlechterte sich sein Gesundheitszustand
zusehends, sodass er – persönlich isoliert und medizinisch vernachlässigt –
am 30. September 2024 verstarb.

 

 

DIE PROTESTE VOM APRIL 2018

 

Die aktuellen Wellen der Repression gegen die Bevölkerung und der
Säuberungen in den staatlichen Institutionen gehen auf den
hunderttausendfachen Protest zurück, den die Menschen im April 2018 gegen
die politische Unterdrückung und die maßlose Bereicherung der Familie
Ortega-Murillo friedlich auf die Straße getragen haben. Als jedoch die
Polizei und Ortega treu ergebene Paramilitärs immer brutaler gegen die
Demonstrationen vorgingen und Oppositionelle in ihren Stadtvierteln
verfolgten und ermordeten, wurden viele Barrikaden errichtet, um die
Unterdrückungskräfte nicht mehr in die Wohnquartiere hineinzulassen. 

 

Auf diese Situation reagierte das Regime mit äußerster Gewalt. Über 2000
Personen wurden in den Folgemonaten ins Gefängnis geworfen, über 300 durch
Schüsse – teilweise aus Scharfschützengewehren der Armee – getötet. Der
autoritäre Staat, der bis dahin noch gewisse Freiräume der Information, der
Lehre, der Religionsausübung und der politischen Debatte zugelassen hatte,
wandelte sich zu einer offenen Diktatur, die jegliche nicht staatlich
kontrollierte Aktivität der Bevölkerung immer gnadenloser unterdrückte.

 

Von diesem Moment an wurden unzählige Maßnahmen ergriffen, um das Volk
endgültig zum Schweigen zu bringen. Es wurden reihenweise Gesetze erlassen,
um den Repressionsmaßnahmen der Regierung einen legalen Schein zu verleihen.
Demonstrationen wurden unterdrückt, selbst wenn sie nur darin bestanden, die
blau-weiße Nationalfahne Nicaraguas öffentlich zu schwenken. Nach und nach
wurden alle Parteien illegalisiert, die sich der Diktatur nicht unterwerfen
wollten. Die Wahlen von 2021, die von etwa 80 Prozent der Bevölkerung
boykottiert wurden, waren eine totale Farce. Das neue Parlament fasste
seither alle Beschlüsse einstimmig und ohne Gegenstimmen.

 

Die beiden bekanntesten Vertreter der ethnischen Minderheit der Miskitus,
Steadman Fagoth Müller und Brooklyn Rivera, wurden verhaftet und sind seit 2
Jahren „verschwunden“. Über 4.000 Nichtregierungsorganisationen – darunter
Universitäten, Kirchen, Berufsverbände, das Rote Kreuz, Frauenvereinigungen,
Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte usw. – wurden verboten,
deren Eigentum und Vermögen beschlagnahmt. 2023 wurden 222 politische
Gefangene aus Nicaragua in die USA deportiert. Insgesamt über 300 Personen
wurde ihre Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Eigentum wurde konfisziert,
ihre Rente wurde ihnen gestrichen, und aus dem Sozialregister wurden sie
entfernt.

 

Die gesamte politische und kulturelle Elite Nicaraguas befindet sich
inzwischen im Exil. Die 86-jährige Vilma Núñez, die Präsidentin des Zentrums
zur Verteidigung der Menschenrechte CENIDH, ist die einzige Person aus
dieser Gruppe, die sich bis heute standhaft weigert, das Land zu verlassen.
Wegen ihres hohen Alters und ihrer internationalen Bekanntheit wagt es das
Regime jedoch offensichtlich nicht, sie anzutasten. Und so muss sie ihr
Leben aktuell ohne irgendeinen rechtlichen Status in weitgehender Isolation
verbringen.

 

 

DIE KRISE DES SYSTEMS

 

Am 18. Februar 2025 wurde auf verfassungswidrige Weise eine neue Verfassung
in Kraft gesetzt. Sie ändert den gesamten Aufbau des Staates, hebt die
Trennung der Staatsgewalten auf und unterstellt diese Instanzen – nun nicht
mehr „Gewalten“, sondern „Organe“ – der Präsidentschaft. Sie ersetzt aber
auch die Funktionen des Präsidenten und Vizepräsidenten durch die Figur
zweier gleichberechtigter „Co-Präsidenten“, eines Mannes und einer Frau. Auf
diese Weise ist die absolute Macht im Lande an Daniel Ortega und Rosario
Murillo übertragen worden. Damit wurde jedoch auch die von der
Sandinistischen Revolution geschaffene Verfassung – mit rechtsstaatlichen
Garantien, Gewaltenteilung, weitgehenden Freiheiten und politischem
Pluralismus – bis in ihre Grundmauern zerstört.

 

Während der Revolution war Ortega der Koordinator der Revolutionsjunta und
der Präsident Nicaraguas, aber er wirkte unter der demokratischen Kontrolle
des Parlamentes und der Führung der FSLN. Aktuell ist er – zusammen mit
seiner Frau Rosario – der alleinige diktatorische Herrscher im Lande und hat
ohne die geringste demokratische Legitimation nun auch die immer noch
bestehenden Reste der republikanischen Verfassung abgeschafft.

 

Nicaragua liegt am Boden. Die kapitalistische Vetternwirtschaft hat die
Ökonomie zerstört. Die Haupteinnahmequellen sind inzwischen nur noch der
Export von umweltzerstörerisch abgebautem Gold und die Rücküberweisungen von
emigrierten Familienangehörigen, hauptsächlich aus den USA. Das
allgegenwärtige Misstrauen und die Angst prägen aktuell die Grundstimmung im
Lande. Die Gesellschaft ist zerfressen durch immer neue Unterdrückungs- und
Säuberungswellen. Die organisierte Opposition – sie befindet sich
vollständig außerhalb Nicaraguas – ist schwach und zersplittert. Sie wird
die Diktatur nicht stürzen. Aber die inneren Widersprüche des Regimes führen
zu immer absurderen Maßnahmen, die irgendwann zwangsläufig auch zu internen
Zerwürfnissen und Spaltungen führen müssen. Viele sehen in der Implosion des
Systems augenblicklich die wahrscheinlichste Variante seines Untergangs.
Viele Menschen hoffen darauf, dass dies möglichst bald geschehen möge. Aber
bei vielen steigt auch die Erwartung, dass dies tatsächlich innerhalb
kürzerer Zeit passieren kann.

 

 

Lissabon, 7. Oktober 2025

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2025 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1]  Dieser Artikel wurde motiviert durch den Artikel /Nicaragua feiert 46
Jahre Revolution/ in der /jungen welt/ vom 22.07.2025, der nichts weiter als
eine Wiedergabe der aktuellen Staatspropaganda darstellt und mit der
tatsächlichen gesellschaftlichen Realität Nicaraguas kaum noch etwas zu tun
hat.

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