[IPK] Frankreich -- die Bewegung ist noch lange nicht zu Ende

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Fr Nov 12 22:50:58 CET 2010


Frankreich -- die Bewegung ist noch lange nicht zu Ende
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Der folgende Beitrag wurde inmitten der landesweiten und massiven Proteste
noch vor der (inzwischen erfolgten) Abstimmung des Gesetzesentwurfs im Senat
verfasst und ist insofern vorläufig und für heutige LeserInnen von der
Aktualität überholt. Aufgrund der enormen Bedeutung, auch für die weitere
Entwicklung der sozialen Proteste in Europa, haben wir uns trotzdem für den
Abdruck entschieden und werden in einer -- hoffentlich positiven -- Bilanz
auf das Thema zurückkommen. /Die Redaktion/


Von Sandra Demarcq


Seit Mai drücken die Mobilisierungen gegen die geplante Rentenreform dem
Land ihren Stempel auf. Mit jedem Aktionstag entwickelt sich die Bewegung
weiter und gewinnt an Stärke. Darin zeigt sich, wie sehr sie die Bevölkerung
mittlerweile durchdringt und nicht nur die massive Ablehnung der
Rentenreform widerspiegelt sondern darin der Verdruss an der
sozialfeindlichen, rassistischen und repressiven Politik von Sarkozy im
Ganzen zum Ausdruck kommt. Und auch der Unmut über die immer größere und
durch die Krise noch zugespitzte Ungerechtigkeit im Land treibt die Jugend
und die Lohnabhängigen um. 

Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, dass sich die Demonstrationen nicht
totlaufen sondern weiter steigern und am 12. und 19. Oktober mit jeweils
3,5 Millionen Teilnehmern einen Rekord erreichten. Zudem werden sie immer
kämpferischer und radikaler und haben -- nachdem auch der
privatwirtschaftliche Sektor diesmal sehr stark vertreten ist -- inzwischen
die Jugend, d. h. im Moment noch vornehmlich die Schüler, erreicht. Denn
diese haben kapiert, dass sie es mit dieser Reform erheblich schwerer haben
werden, frühzeitig Arbeit zu finden und später die volle Rente in gesundem
Zustand zu erreichen. Nach und nach hat sich das Klima geädert, und
mittlerweile glauben sehr viele, dass wir gewinnen und Sarkozy zum Rückzug
drängen können.

Bereits jetzt und in der gegenwärtigen Mobilisierungsphase hat die Regierung
den Kampf um die öffentliche Meinung verloren. Denn 70 % der Bevölkerung
sind gegen diese Reform und unterstützen die Proteste. Und inzwischen weiß
die Mehrheit der ArbeiterInnen, prekär Beschäftigten und Jugendlichen, dass
es bei der Rente weder um ein demographisches noch um ein
Finanzierungsproblem geht, wie uns die Regierung seit Monaten glauben machen
will.

Die Streiks haben sich so nach und nach eingenistet und mit jedem Aktionstag
wurde es für immer mehr Bevölkerungsteile offenkundig, dass solche
auseinander gerissenen Einzelaktionen die Regierung nicht zum Rückzug
zwingen würden. Und bisher war auch nicht allerorten so sehr von
unbefristeten Streiks die Rede wie in den letzten Wochen, wo sich in
Umfragen 61 % dafür ausgesprochen haben. Was fehlt, sind die
Gewerkschaftsführungen, die sich wohlweislich davor hüten, zum Generalstreik
aufzurufen, auch wenn sie von der Basis zum Durchhalten gedrängt werden. Die
Einheit der Gewerkschaften ist sicherlich von Beginn der Bewegung an ein
Trumpf und elementar für den Erfolg der Streiks und Demonstrationen. Aber
die Gewerkschaftskoordination vermeidet es nicht nur, zu einer
entscheidenden sozialen Konfrontation aufzurufen, sondern sie verlangt noch
nicht einmal die Rücknahme des Gesetzesentwurfs, sondern stattdessen bloß
neue Verhandlungen und Abänderungen.

Glücklicherweise haben jedoch Schlüsselsektoren der Wirtschaft beschlossen,
sich unbefristet in den Streik zu begeben oder ihn auszuweiten. Dies gilt
z. B. für die Eisenbahner, zentrale Stromversorgung oder Raffinerien, was so
seit Mai 68 nicht mehr da gewesen ist. Seit dem 14. Oktober sind alle 13
Raffinerien im unbefristeten Streik und haben den kompletten Betrieb und die
Auslieferung von Treibstoff an Tankstellen und Lager eingestellt. Der Streik
wird ungeheuer breit befolgt und nahezu einhellig fortgeführt.

Ein weiteres typisches Merkmal dieser Bewegung ist aber auch, dass sich
überall etwas rührt, tägliche neue Initiativen und Blockadeaktionen
(Mautstellen, Straßen, Flughäfen, Industriezonen ...) ergriffen werden und
Demonstrationen vor Ort auf einheitlicher und berufsübergreifender Grundlage
stattfinden. Genau so gibt es tägliche Vollversammlungen der verschiedenen
Streiksektoren, anfangs noch schwach besucht, mit der Zeit aber immer
stärker. Zugleich muss man aber sehen, dass zwar zahlreiche Streiks hier und
da im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Sektor stattfinden, die
unbefristeten jedoch noch zu verstreut sind und nur von einer Minderheit
getragen werden und dass außerdem die Beteiligungsquote an den landesweiten
Streiktagen zwar hoch, aber nicht außergewöhnlich war.

Seit einigen Tagen und besonders seit dem 19. Oktober beteiligen sich die
Jugendlichen mit breiten und dynamischen Demonstrationen sowie zahlreichen
Schulblockaden an den Protesten. Man spürt dort eine Entschlossenheit und
Politisierung wie nie zuvor bei vorangegangenen Protesten. Und je lauter es
hallt, sie seien ferngesteuert und hätten kein Recht zu protestieren, umso
größer wird ihre Entschlossenheit. Auch an den Universitäten fangen die
Proteste langsam an zu greifen. Die kommenden Tage kurz vor den Schulferien
werden entscheidend sein.

Die Rechte, die Unternehmer und die Regierung Sarkozy sind angesichts der
Lage unnachgiebig entschlossen, die Reform durchzuziehen. Sarkozy versetzt
das Land in eine Blockade und probt seine Macht. Und er schreckt dabei nicht
vor Gewalt zurück, wie die Polizeieinsätze gegen Schüler und Streikende in
den Raffinerien zeigen. Er zieht seine parlamentarische Mehrheit durch und
verweigert jede Diskussion selbst mit den moderatesten Gewerkschaftsführern.
Diese Entschlossenheit rührt daher, dass die Rentenreform das Herzstück der
Austeritätspolitik ist, mit der sie die Zeche der Krise auf die
Unbeteiligten abwälzen wollen. Gelingt sie, gewinnen sie Pluspunkte auf den
Finanzmärkten und verschaffen sich die Gelegenheit, die Kräfteverhältnisse
weiter zu ihren Gunsten zu ändern und die Umverteilung von unten nach oben
voranzutreiben. Zudem können sie sich dann die "sozialen und steuerlichen
Lasten" vom Hals schaffen, die in früheren Kämpfen errungen wurden, und die
widerständigsten Kreise in die Knie zwingen. Für Sarkozy geht es auch darum,
wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen sein Gefolge hinter sich zu
scharen. Kurzum stehen bei den gegenwärtigen Protesten die globalen
Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen auf dem Spiel. Sarkozy ist weit
davon entfernt, zu gewinnen und den Widerstand zu brechen und mundtot zu
machen. Er, der zu Beginn seiner Präsidentschaft tönte, dass von den
vermeintlichen Streiks nichts zu sehen sei, wird von den Ereignissen auf der
Straße seit dem letzten Mai widerlegt.

Die Breite der Proteste zeigt, dass eine Niederlage der Regierung machbar
ist. Umso notwendiger ist die Einheit der gesamten politischen und sozialen
Linken in diesem Kampf. In diesem Sinn engagiert sich die NPA in allen
übergreifenden politischen Initiativen für die gemeinsame Formierung unserer
Kräfte, besonders im Rahmen des von der Fondation Copernic und Attac
initiierten Nationalen Kollektivs. Aber hinter den Parolen "Rente mit 60"
und "Rücknahme des Gesetzesentwurfs" lassen sich grundsätzliche und
strategische Differenzen besonders mit der PS nicht verbergen. Diese
verteidigt zwar die Rente mit 60, hat aber mit der Rechten im Parlament für
die Aufstockung der Beitragsjahre auf 41,5 gestimmt, was de facto das
Eintrittsalter aufschiebt. Und angesichts der wachsenden Proteste verlegt
sie sich auf Wahlversprechungen für 2012 und bereitet so einen
Regierungswechsel vor. Es bestehen Divergenzen mit der radikalen Linken,
besonders mit der Linkspartei von Melenchon, die im Wesentlichen auf die
strategische Vorgehensweise zielen. Denn diese tritt für ein sofortiges
Referendum ein und will damit die Proteste von der Straße an die Urne holen,
obwohl die entscheidende Kraftprobe noch vor uns liegt.

Die NPA tritt seit Beginn der Mobilisierung als treibende Kraft in den
Kämpfen auf und macht sich für die Einigung der betroffenen Bevölkerung
entlang bestimmter politischer Forderungen stark: Rücknahme bzw. -- wie die
Dinge liegen -- Abschaffung der Gesetzesreform und Rücktritt von Sarkozy und
Woerth, die für die soziale Krise verantwortlich sind. Daneben vermitteln
wir antikapitalistische Perspektiven, die auf einen Bruch mit dem System und
soziale wie politische Sofortmaßnahmen und auf Autonomie zielen.


Die kommenden Tage werden die Entscheidung bringen. Das Gesetz wird
angenommen, aber die Proteste nicht zum Verstummen bringen, weil die
Machthaber in den Augen aller, die heute auf den Straßen und im Streik sind,
keine Legitimation haben. Außerdem sind wir viel zu viele, die genau wissen,
dass auch ein bereits verabschiedetes Gesetz zu Fall gebracht werden kann,
was 2007 mit dem Erstanstellungsvertrag CPE geschehen ist und auf ein da
capo wartet.


22.10.2010
Sandra Demarcq ist leitendes Mitglied der NPA und der IV. Internationale
Übersetzung: MiWe



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