[IPK] Griechenland: Wie heiß wird der Herbst?

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Fr Nov 12 22:57:12 CET 2010


Griechenland:
Wie heiß wird der Herbst?
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Die Troika: So nennt man in Griechenland die dreifache Diktatur aus IWF,
Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank. Sie hat dem Land ein
Sparprogramm [1]aufgezwungen, das von der PASOK-Regierung in vollem Umfang
akzeptiert wurde. Dieses Sparprogramm wird von Fachleuten als noch
undemokratischer eingestuft als jenes aus dem Jahr 1898, als Griechenland
während einer schweren Wirtschaftskrise internationaler Kontrolle
unterstellt wurde.


Von Tassos Anastassiadis und Andreas Sartzekis


Am Ende dieses Sommers beglückwünscht der ach so sozialistische
IWF-Präsident Strauss-Kahn im Namen der berühmten Troika seinen Genossen
Premierminister Giorgos Papandreou für die großen Fortschritte seiner
Regierung in so kurzer Zeit. Dieser brüstet sich mit seinem entschiedenen
Kampf gegen Steuerbetrug; so lässt er vor allem die Wohnviertel der Reichen
im Zentrum Athens überfliegen, um nicht deklarierte private Swimmingpools
auszumachen ... Die Bekämpfung des tatsächlich bestehenden Steuerbetrugs
wird zum Leitmotiv, aber kein Wort zu den Steuergeldern, die dem Staat
entgehen, weil sich die großen griechischen Reeder in Steuerparadiesen
niederlassen! Dies ist einer der dramatischsten Aspekte dieses Herbstes:
Obwohl sich die PASOK völlig von ihren Wahlversprechen vom Oktober 2009
abgewendet hat und trotz ihrer unsozialen Maßnahmen, die das Land um
Jahrzehnte zurückwerfen, vermag sie mit ihrer Demagogie ("Wenn ich ein
gewöhnlicher Bürger wäre, würde ich selbstverständlich auch gegen solche
Maßnahmen demonstrieren.") eine gewisse Popularität zu bewahren. In
Meinungsumfragen steht die PASOK trotz Verlusten einsam an der Spitze.


DIE KRISE VERSCHÄRFT SICH

Wie sehen nun die großen Fortschritte aus, die die Troika Mitte September
auszumachen vorgibt? Die Sommerschlussverkäufe (Sommerausverkäufe), die von
den Familien mit tiefem Einkommen immer sehnlichst erwartet wurden, sind
dieses Jahr um 25 % zurückgegangen, in einigen Städten im Norden sogar bis
65 %. Dies lässt sich einfach erklären: ein Arbeiterehepaar verliert ab
sofort vier Monatslöhne pro Jahr. Dies weil der monatliche Nettolohn gekürzt
und die Preise erhöht wurden (Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23 %, höhere
Preise für Heizmaterial). Der jährliche Einkommensverlust eines
Beamtenehepaares wird auf 11 000 EUR geschätzt (-20 %), für ein
Arbeiterehepaar aus der Privatwirtschaft auf -5 % ... Ein anderes Beispiel:
im Tourismus, eine alte Einnahmequelle, ist auf einigen beliebten Inseln die
Bettenbelegung in den Hotels trotz Preissenkungen um bis zu 30 %
zurückgegangen (-29 % auf den Zeltplätzen). So verstärkt sich das Problem
ungenügender Einnahmen trotz der "Jagd auf Steuersünder" weiter. Hinzu kommt
die wachsende Erwerbslosigkeit, die im Juli offiziell bei 11,6 % lag, in
Wirklichkeit 20 % überschritten hat. Die Situation verschlechtert sich
dramatisch, insbesondere in den alten Industriestädten im Norden des Landes:
in Thessaloniki liegt die Arbeitslosigkeit bei 25 % (zweitgrößte Stadt des
Landes), in Kozani, Kastoria und Serres zwischen 30 % und 35 % und in Naussa
sogar bei 50 %. Zudem nehmen die prekären Arbeitsverhältnisse
explosionsartig zu: In Kavala wurden 60 % der Arbeitsverträge in
Teilzeitverträge umgewandelt (gemäß der Tageszeitung /Eleftherotypia/). Im
Oktober soll die Zahl der Erwerbslosen um 100 000 steigen (auf eine
Bevölkerung von 11 Mio.), vor allem im Tourismus und im Baugewerbe.

Ein weiterer Aspekt darf nicht vergessen werden: Um wegen des neuen
Rentengesetzes nicht länger arbeiten zu müssen, sind diesen Sommer Tausende
von Beamten frühzeitig in Pension gegangen. Vor allem in Schulen und
Krankenhäusern werden sie schmerzlich fehlen. Dies als Folge der neuen
Regel, wonach fast alle Lohnabhängigen, die in Pension gehen, nicht ersetzt
werden dürfen. In den Schulen ist die Lage wegen fehlender Mittel schon
heute miserabel: Im Norden führt der Mangel an Schulhäusern dazu, dass ein
Teil der Schülerinnen und Schüler am Morgen, der andere gegen Abend
unterrichtet wird. Einige Klassen wurden in ehemaligen Lagerhäusern
untergebracht. Diese Situation verschlimmerte sich nach den Sommerferien, zu
Beginn des neuen Schuljahres, wegen fehlender Lehrkräfte weiter. Die
Gewerkschaft OLME (Oberstufe) kritisiert, dass die Klassen auf 30
SchülerInnen oder mehr erhöht werden ... In den Krankenhäusern führt der
Personalmangel bei verschiedenen Behandlungen zu langen Wartefristen: zum
Beispiel bis zu 30 Tage für ärztliche Untersuchungen. Und selbst der Mangel
an Polizeibeamten behindert einfache Verwaltungsdienstleistungen wie das
Ausstellen von Papieren. Die Troika kann beruhigt sein: Am 11. September
waren an der Demo in Thessaloniki über 5000 MAT (Bereitschaftspolizei)
präsent! Und alles in allem geht es gar nicht so schlecht: Die deutsche
Firma Thyssen Krupp wird zwei neue U-Boote liefern zum bescheidenen Preis
von 1,2 Milliarden Euro ...

Die wenigen Beispiele zeigen: Die "Hilfe" europäischer und internationaler
Organisationen bringt nicht den geringsten wirtschaftlichen Fortschritt,
sondern führt im Gegenteil zu Elend und verstärkt noch die Krise des
Systems, das darauf die Flucht nach vorn ergriffen hat: Das
Bruttoinlandprodukt (BIP) wird dieses Jahr voraussichtlich um 4 % sinken.
Der IWF hat soeben grünes Licht gegeben für einen zweiten Kredit von
2,57 Milliarden Euro. Und die Regierung scheint jede Art ausländischer
Investitionen zu akzeptieren, insbesondere im Tourismus: Russische
Kapitalisten und die israelische Regierung scheinen sehr am
online-Casino-Geschäft interessiert zu sein sowie am Kauf kleinerer
Flughäfen, an Energie-Anlagen ...


GROSSE, ABER UNGENÜGENDE MOBILISIERUNGEN

Die Frage, die sich jetzt, Mitte September stellt, ist die folgende: Warum
vermochte die Arbeiterbewegung die unsozialen Maßnahmen nicht zumindest
teilweise zu verhindern, nachdem der Generalstreik am 5. Mai im öffentlichen
Sektor praktisch zu 100 % und in der Privatwirtschaft gut befolgt wurde? Es
fand die größte Demonstration seit dem Sturz der Militärdiktatur statt
(1974). Wie groß ist die Kampfbereitschaft der Arbeiterbewegung heute?

Es lässt sich nur sehr schwer abschätzen, wieweit der Tod der drei
Bankangestellten die Bewegung zurückzuwerfen vermochte, die in einem Brand
umgekommen waren, der von einem Molotow-Cocktail ausgelöst worden war, von
dem man immer noch nicht weiß, ob es sich dabei um eine Provokation der
Polizei oder von Faschisten handelt oder um eine tödliche Idiotie einer
kleinen Gruppe aus der autonomen Szene. Anarchistische Gruppen haben sich im
Nachhinein in vielen Texten gegen Gewalt ausgesprochen, die an die Stelle
der Massenbewegung gesetzt wird. Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt
werden, dass die damals bestehende Aussicht auf unbefristete Streiks mit
einer antikapitalistischen Massendynamik (Tausende verharrten vor dem
Parlament, um gegen die unsoziale Rolle dieser Versammlung zu demonstrieren)
großenteils neutralisiert wurde und dass es keine zweite solche Gelegenheit
mehr gegeben hat.

Selbstverständlich hat die Taktik der Gewerkschaftsführungen -- GSEE für den
Gewerkschaftsbund der Privatwirtschaft, ADEDY für den öffentlichen Dienst,
beide mit mehrheitlicher PASOK-Führung -- lähmend gewirkt. Bis Ende Juni
haben die Gewerkschaften zu eintägigen Generalstreiks aufgerufen, die
genügend weit auseinander lagen, so dass die ArbeiterInnen diese nicht
unbefristet weiterführten, solange kein neuer Streikbeschluss vorlag. Diese
Taktik ist bekannt und kann schwere Konsequenzen haben, wie zum Beispiel
2009 in Frankreich, als sich am letzten Streik im Juni nur noch wenige
beteiligt hatten. In Griechenland haben die brutalen Abbaumaßnahmen und die
große Wut dazu geführt, dass die Bewegung bis zum letzten Streik ziemlich
stark war, doch die Demos wurden immer kleiner. Sechs oder sieben
landesweite Streiktage in sechs Monaten, tägliche Streiks in verschiedenen
Sektoren und als Ergebnis die vollumfängliche Umsetzung der
arbeiterfeindlichen Maßnahmen -- dies führt unweigerlich zu einer mehr oder
weniger starken Entmutigung. Selbst wenn am 11. September zwischen 15 000
und 20 000 Arbeiterinnen, Arbeiter und Jugendliche an der nationalen
Demonstration in Thessaloniki teilgenommen haben, entspricht dies doch nicht
dem Schaden, den die bereits getroffenen und die zukünftigen Maßnahmen
anrichten und noch anrichten werden.

Aber wenn die Gewerkschaftsbürokratie mit ihrem Terminkalender die Bewegung
so leicht ermatten konnte, so ist dies vielleicht vor allem auf die Schwäche
der griechischen Arbeiterbewegung zurückzuführen. Die antikapitalistische
Linke sollte jetzt dringend konkrete Vorschläge machen, damit die Bewegung
wieder Vertrauen fasst. Sonst droht sie zu resignieren oder es kommt zu
sozialen Explosionen, die in der Sackgasse enden. Es ist jetzt vorrangig,
die Bürokraten und verschiedenen Sektierer daran zu hindern, die
Arbeiterbewegung zu spalten, indem mit dem Argument zu getrennten
Demonstrationen aufgerufen wird, die anderen seien Klassenverräter. In den
Kämpfen muss dringend eine Einheitsdynamik angestoßen werden. Die äußerst
sektiererische KKE (Kommunistische Partei Griechenlands [2]), die bestens zu
spalten versteht, muss daran gehindert werden. Die Demonstration vom 5. Mai
war nur deshalb so groß und stark, weil wegen der riesigen Zahl von
Teilnehmenden zwischen den einzelnen Demozügen kein Abstand durchzusetzen
war. Im Gegenteil: Es kam an jenem Tag sogar zu einer gewissen Vermischung,
was der KKE-Führung nicht gefallen hat.

Eine weitere große Schwäche der Bewegung (wie übrigens auch der
Jugendbewegung im Dezember 2008) besteht darin, dass ihr jede
Selbstorganisierung fehlt. Ein klarer Fortschritt hat sich in einer
Differenzierung gezeigt. In den Demonstrationszügen waren Gruppierungen von
Gewerkschaftssektionen oder sogar von regionalen Gewerkschaftsbünden mit
radikalen Forderungen zu sehen (für unbefristete Streiks). Aber de facto
gibt es bis heute keine wirkliche Arbeiterkoordination. Die radikale und
antikapitalistische Linke (Syriza, Antarsya) hat zur Schaffung von
Einheitskomitees gegen die Abbaumaßnahmen aufgerufen, aber bis heute sind
sie nicht sehr zahlreich und mit einem zu kleinen Echo, um wirklich Gewicht
zu haben. Die Bildung von offenen und demokratischen Strukturen der
Selbstorganisierung vorschlagen und dazu beitragen ist eine weitere
Priorität. Kommt eine weitere Dimension dazu: Die Radikalität der
Forderungen der KKE ("Gegen den Kapitalismus ... und die Monopole") und der
der PASOK nahe stehenden Gewerkschaftsführungen ("Wir bezahlen nicht für
?deren' Krise") mag manchmal erstaunen. Die Forderungen und Transparente der
kleinsten Demonstrationen zeigen klar eine Massenradikalisierung. Doch
dahinter stehen große Zweifel wie bei der ganzen europäischen
Arbeiterbewegung. In den Augen der allermeisten Lohnabhängigen muss sich die
konkrete Umsetzung der am meisten erhobenen Forderungen erst noch zeigen.
Dies gilt für Massenforderungen wie "Nein zu den Privatisierungen!", "Keine
(Teil-) Rückzahlung der Schulden!", "Kein Geld für die Armee!". Die
kürzliche Gründung eines Komitees gegen die Rückzahlung der Schulden, das
dem CADTM [3] nahe steht, ist eine gute Sache, aber die fortschrittlichsten
Teile der Arbeiterbewegung müssen dringend zusammen solche Fragen
diskutieren, um für solche Forderungen wirksame und selbstorganisierte
Massenkämpfe zu initiieren. 


DIE KOMMENDEN WOCHEN

Die Kämpfe der Lohnabhängigen und Jugendlichen muss neu lanciert werden.
Denn die Troika stellt weitere Forderungen. Sie verlangt die Deregulierung
des Arbeitsrechts (keine Flächentarifverträge mehr in der Privatwirtschaft),
weitere Privatisierungen (die Bahnen sind im Visier). Die Unternehmer
verlangen Steuergeschenke, und Papandreou scheint bereit, die Gewinnsteuer
von 24 % auf 20 % zu senken, was bedeutet, dass es in den öffentlichen
Kassen noch weniger Geld geben wird. Vor diesem Hintergrund erstaunt es
nicht, dass einer von zwei EinwohnerInnen Papandreou nicht glaubt, wenn er
verspricht, dieses Jahr keine weiteren Abbaumaßnahmen mehr zu erlassen.

Die Gemeinde- und Regionalwahlen Anfang November sind in diesem Zusammenhang
fast eine Farce. Dies auch, weil sie zugleich die zunehmende
Dezentralisierung der Sparpolitik und einen wahnsinnigen Fusionsprozess der
Gemeinden absegnen. Wenn auch in verzerrter Form, so werden sie doch das
Kräfteverhältnis widerspiegeln. Die Wahlabstinenz wird groß sein. Die
AntikapitalistInnen müssen diese Menschen ansprechen können. Heute besteht
das Hauptproblem in der schnellen Stärkung der antikapitalistischen Linken
in einem Umfeld, wo sich links der PASOK (in der es für zentrifugale Kräfte
ein gewisses Potenzial gibt) die KKE zu verstärken scheint (laut Umfragen
auf 9 %), wo Syriza abstürzt (2,8 % verglichen mit 6,8 % der extrem rechten
LAOS [4]) und wo es zwischen der ehemaligen und der heutigen Führungsfigur
von Syriza zum offenen Streit gekommen ist. Dies wiederum hat dazu geführt,
dass es in Attika, der größten Arbeiterregion Griechenlands, zwei
Syriza-Kandidaturen geben wird. Wir kommen darauf zurück, denn die Situation
verändert sich rasch, und eine Bilanz dieses radikal-reformistischen
Bündnisses drängt sich auf. Wichtig ist aber vor allem die Frage, ob der
antikapitalistische Zusammenschluss Antarsya (mit -- unter anderen -- den
beiden wichtigsten Organisationen der revolutionären Linken und mit
OKDE-Spartakos, der griechischen Sektion der IV. Internationale), welche bei
den Mobilisierungen im Frühling eine Rolle gespielt hat, die wahrgenommen
wurde, sich zu entwickeln vermag. 


Athen, 15. September 2010

Tassos Anastassiadis und Andreas Sartzekis sind Leitungsmitglieder der
OKDE-Spartakos, griechische Sektion der IV. Internationale. Diese wiederum
ist Mitglied des Bündnisses der antikapitalistischen Linken Antarsya.

Übersetzung: Ursi Urech



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Aus:   Inprekorr Nr. 468/469   (Internationale Pressekorrespondenz)
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[1]  Das Sparprogramm besteht aus einem Kredit von 110 Milliarden EUR zu
einem Zins von beinahe 5 % (selbst auf den "Märkten" wurde Mitte September
weniger Zins verlangt: 4,85 %!). Als Gegenleistung wird eine Lohn- und
Rentensenkung verlangt, die Abschaffung des Arbeitsrechts, die "Belebung"
der Konkurrenz mit möglichst vielen Reprivatisierungen.
[2]  (Kommounistikó kómma Elládas)
[3]  Komitee für die Annullierung der Schulden der "Dritten Welt".
[4]  Laïkós Orthódoxos Synagermós -- "orthodoxe Sammlung des Volkes"
(Wikipedia: "völkisch-orthodoxe Sammlung"), wobei das Parteikürzel selbst
wieder "Volk" bedeutet.



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