[IPK] Spanischer Staat: Der Streik vom 29. September - die soziale Frage kehrt zurück

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So Nov 14 20:13:19 CET 2010


Spanischer Staat:
Der Streik vom 29. September: Die soziale Frage kehrt zurück
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Von Miguel Romero


[1] Eines der Ziele des Neoliberalismus bestand darin, die "soziale Frage"
-- das heißt die vom Kapitalismus aufgrund der sozialen Ungerechtigkeit und
Ungleichheit hervorgerufenen Konflikte -- nicht nur aus der Politik sondern
auch aus dem Bewusstsein der Menschen, die Mehrheit der arbeitenden Klassen
inbegriffen, zu verbannen. Dazu beigetragen hat insbesondere im Spanischen
Staat der sogenannte "soziale Dialog". Das heißt die Erarbeitung eines
Konsenses, bei welchem systematisch die gemeinsamen Interessen zwischen
Unternehmern und Gewerkschaften gesucht wird. Dieser "soziale Dialog" ist in
den Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu einer grundlegenden Norm
geworden. In wirtschaftlicher Hinsicht sind die Folgen katastrophal:
Rückgang des Lohnanteils am Bruttoinlandprodukt und rekordhohes Wachstum der
Unternehmens-"Überschüsse" (Profite) während längerer Zeit. 

Für die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sind die Folgen ebenso
katastrophal: Die Lohnabhängigen in ihrer Mehrheit organisieren sich nicht
mehr in den Gewerkschaften, weil sie in ihnen Kampforganisationen sehen.
Folglich sind sie in deren Strukturen auch nicht mehr aktiv. Politisch
ausgedrückt hat sich eine bipolare Koexistenz von PSOE und PP herausgebildet
und gefestigt. [1] Und die Stimmenmehrheit der PSOE bei Wahlen wird als
linke Mehrheit definiert.

Mit dem Generalstreik vom 29. September 2010 scheint die "soziale Frage"
zurückgekehrt und wieder sichtbar geworden zu sein. Ich sage, es "scheint"
so. Denn zweifellos liegt dieser Generalstreik noch nicht lange genug
zurück, um daraus bereits Schlussfolgerungen ziehen zu können. In diesem
Umfeld ist die Gefahr groß, dass die Hoffnung mit der Realität verwechselt
wird. Alles, was dieser Generalstreik ausgelöst hat, ist noch zuwenig
entwickelt und zu zerbrechlich. Was dabei herausgeschaut hat, hat mehr mit
dessen Möglichkeiten, mit den in ihn gesetzten Erwartungen zu tun als mit
tatsächlichen Errungenschaften. Doch es gibt konkrete Fakten, die mit
einiger Gewissheit darauf schließen lassen, dass die "soziale Frage"
zurückgekehrt ist, die es dringend braucht und die in der gegenwärtigen
Krise des kapitalistischen Systems lebenswichtig ist. Zu diesen Fakten
gehören insbesondere die Reaktionen der Wortführer der Unternehmer und der
politischen Rechten. Die Schlagzeilen auf den ersten Seiten sprachen von
"Generalniederlage" -- nicht zufällig in jenen Zeitungen zu finden, die sich
vor allem durch gezielte Falschinformation auszeichnen, nämlich /El Mundo/
und /ABC/. Sie erheben keinesfalls den Anspruch, die Wirklichkeit
wiederzugeben, sie wollen sie vielmehr heraufbeschwören, um ihre Kunden zu
beruhigen wie die Reliquien und Medaillons, die die Carlisten [2] im
spanischen Bürgerkrieg trugen und auf denen stand "Deténte bala!" ("Kugel:
Halt!").

[2] Der Generalstreik ist mehr wegen der Möglichkeiten ein politischer
Erfolg, die er eröffnet hat, als was damit erreicht werden konnte. Dies zu
übersehen wäre ein großer Fehler. Aber es müssen auch die Schwächen gesehen
werden, alles, was noch zu tun ist, um ausgehend von diesem ersten Schritt
weiter voranzukommen. Um so Zielen näher zu kommen, die noch in weiter Ferne
liegen, deren es aber für radikale wirtschaftliche und politische Änderungen
unbedingt bedarf. 

Zum Beispiel:

* Die Teilnahme an den Streiks vom 29. September muss im Detail genau
angeschaut werden: In den einzelnen Wirtschaftsbranchen sowie in den
einzelnen Regionen, vor allem dort, wo er zu schwach befolgt wurde, um
Wirkung zu zeitigen: in den Banken, Spitälern, Schulen und wie immer im
Verkauf, insbesondere in den Warenhäusern.

* Einige zweideutige Losungen müssen diskutiert werden: "Korrektur (der
Reform)", "So nicht" oder die Forderungen nach Wiederaufnahme des "sozialen
Dialogs", was Antonio Gutiérrez prompt erlaubt, am 30. September im /El
País/ die Ernennung eines "Vermittlers" zu fordern.

* Man wird sich vor den Versuchen der Comisiones Obreras (CCOO)
(Arbeiterkommissionen) und der UGT (Unión General de Trabajadores,
Allgemeine Arbeiterunion) hüten müssen, den Streik zu monopolisieren. Es hat
weitere Gewerkschaften gegeben, die für den Streik einen großen Einsatz
geleistet haben, was sich auch ausbezahlt hat, wie dies die von der
CGT [3]initiierte und geführte Demo in Madrid zeigt. Es war die größte Demo,
zu welcher diese Gewerkschaft je aufgerufen hat. Ein Grund mehr zur Annahme,
dass ihre Teilnahme an der Demonstration der CCOO und der UGT ein größeres
Echo gehabt hätte als der Aufruf zu einer Paralleldemo.

Es gab auch originelle und wirksame Beiträge, die in Zukunft übernommen
werden können: Einheitliche Forderungsplattformen in einzelnen Regionen,
Fahrrad-Demos, Aktionen im Kulturbereich (die allerdings zahlenmäßig kleiner
ausfielen als andere Arten von Mobilisierungen).

* Schließlich muss auch über etwas Negatives berichtet werden. ELA und LAB
(zwei Gewerkschaften im Baskenland-Euskadi) sind dem Streikaufruf nicht
gefolgt und haben sogar Aktionen und Streikposten aktiv behindert. Dieses
Problem kann nicht in wenigen Zeilen abgehandelt werden. Dies ist auf
Probleme zurückzuführen, die weit in der Vergangenheit zurückliegen und von
allgemeinerer Natur sind. Es ist auch nicht erkennbar, wie solche Probleme
überwunden werden können.


Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Ausdruck "politischer Sieg"
folgende innere Bedeutung hat: Er ist die Demonstration einer kollektiven
Kraft, das Gefühl, jene besiegt zu haben, die entschieden der Meinung waren,
der Generalstreik würde scheitern. Er zeigt, dass die Leute "von unten", die
bis anhin skeptisch und resigniert waren, ihre Einstellung ändern können. An
vielen Orten ist die Basis der Mehrheitsgewerkschaften von einer beginnenden
gewerkschaftlichen Eigenaktivität erfasst worden. Man kann sagen, was man
will, aber künftig kann die Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mehr im
geschlossenen Kreis von Sitzungen mit den "Agenten des Marktes" und in den
Gängen des Parlamentes festgelegt werden. Von jetzt an ist mit der Straße zu
rechnen, die bis jetzt nicht zu den offiziellen Festlichkeiten geladen war
und deren Präsenz den etablierten Marschplan der Regierung etwas ins Wanken
gebracht hat.

[3] Es hat sich eine Bresche geöffnet, allerdings nur eine Bresche. Der
Optimismus jener, die zum Streik aufgerufen haben ("Alle Generalstreiks
waren siegreich", "Zapatero wird seine Haltung früher oder später ändern"
...) ist ok, wenn er der Vorbereitung eines Streiks dient. Aber heute müssen
wir uns der Wirklichkeit stellen, voller Hoffnung, aber illusionslos. Denn
es ist falsch, dass "alle Generalstreiks" siegreich waren. Es wurden jeweils
Teilresultate von unterschiedlicher Bedeutung erzielt, aber in der Sozial-
und Wirtschaftspolitik wurden keine grundlegenden Änderungen erzielt. Wenn
man so will, haben sie zu "Korrekturen" geführt, von denen die
Gewerkschaftsführer sprechen, was nur kleine Änderungen von
unterschiedlichem Ausmaß waren (Rückzug eines Gesetzes, das zur Türe
hinausgeht, aber wenig später wieder zum Fenster reinkommt, was mehr als
einmal vorgekommen ist). 

Aber heute haben wir es nicht mit einem Gesetz zu tun sondern mit einer
Wirtschaftspolitik, die in großem Umfang "korrigiert" werden müsste. Wir
haben es mit einer knallharten Politik zu tun, einer "strukturellen
Anpassung", die den Normen und dem Diktat des Marktes unterworfen ist, von
der EU beschlossen wurde und der sich die Regierung Zapatero wie ein Vasall
unterwirft. 

Die einzige Korrektur, die Sinn macht, besteht in der Veränderung der
Grundlagen von Wirtschaft und Politik, darin, sich von den "Märkten" zu
lösen und von dieser Position aus den Angriffen zu trotzen. Dafür fehlt noch
ein wirksames soziales Netz, ein Subjekt, das sich von unten her aufbaut.
Oder anders gesagt: Es fehlt ein Bündnis, in dem die soziale und politische
Linke für eine längere Zeit des Widerstandes und des Erlernens neuer
Aktions- und Organisationsformen zusammenfindet. Um hier voranzukommen, muss
eine "Linke links der Linken" gestärkt werden, die mit der heutigen Politik
der institutionellen Linken bricht, einem schlimmen Erbe der
Übergangszeit. [4]

[4] Hat ein neuer politischer Zyklus begonnen? Im Moment ist dafür die
Möglichkeit gegeben. Also muss der Beginn möglich gemacht werden. 
Wir haben alles erreicht, worin wir Vertrauen hatten und was wir für diesen
Streik gemacht haben. Bestimmt die einen mehr, die anderen weniger. Jene,
die meinen, aus diesem Streik mit politischer Autorität und gestärkt
hervorgegangen zu sein, in erster Linie die Comisiones Obreras, wären gut
beraten, wenn sie sich etwas umsehen und erkennen würden, dass sie nicht die
einzigen waren, schon gar nicht in den Streikposten. Und wenn sie zur
Kenntnis nehmen würden, dass die Koexistenz von Leuten aus verschiedenen
politischen Strömungen in den Streikposten viel einfacher war, als dies die
Zusammenstöße zwischen den Organisationen vermuten lässt. Mit dem
29. September bietet sich jedenfalls seit 20 Jahren zum ersten Mal auch die
Gelegenheit, dass eine gewerkschaftliche, pluralistische, radikale und
einheitliche Linke entsteht, die sich in den täglichen Kämpfen mit den
sozialen Bewegungen verbindet. 

Es ist auch ein neuer, größerer Spielraum für die antikapitalistische Linke
entstanden wie für viele andere organisierte und unorganisierte
Aktivistinnen und Aktivisten. Jetzt geht es darum, sich ehrgeizig und
gleichzeitig bescheiden in Bewegung zu setzen. Der Schlüssel der Zukunft
liegt in der Fähigkeit, Einheit in der Aktion zu erreichen und diese Arbeit
mit antikapitalistischen Forderungen zu kombinieren, die den gegenwärtigen
Tageskämpfen entsprechen. Entscheidend ist jetzt auch, sich mit all jenen
Menschen zu verbinden, die bei den Demos zur Überzeugung gekommen sind, dass
weitere Streiks notwendig sind, dass diese gut vorbereitet und gut
durchgeführt werden müssen und dass sie mit Sicherheit breiter und stärker
sein werden als der Streik vom 29. September.


30. September 2010


Miguel Romero ist verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift Viento Sur


Übersetzung: Ursi Urech



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[1]  PSOE: Partido socialista obrero español, PP: Partido popular
[2]  Strömung der Royalisten, entstanden in Spanien in der ersten Hälfte des
19. Jh.
[3]  Confederación General de Trabajo, Minderheitsgewerkschaft, aber sehr
aktiv, selbstverwaltet, auf Klassenpositionen; sie ist aus einer Abspaltung
von der anarchistischen CNT entstanden.
[4]  Nach dem Ende der Franco-Diktatur Übergang zu einer
Zweiparteiendemokratie unter einem tendenziell bonapartistischen König.



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