[IPK] Spanischer Staat: Der Beginn einer neuen Etappe

Webmaster Inprekorr webmaster at inprekorr.de
So Nov 14 20:09:55 CET 2010


Spanischer Staat:
Der Beginn einer neuen Etappe
-------------------------------------------------------------------

Für den 29. September riefen die Gewerkschaften im spanischen Staat zu einem
Generalstreik gegen die Arbeitsmarktreformen auf, dem ersten seit acht
Jahren. Am Vorabend dieser Aktion analysiert unser Autor die Hintergründe.
In einem weiteren Artikel werten wir die Erfahrungen des Streiks aus.


Von Lluís Rabell


Es wäre unnütz, einige Tage vorher, über die Beteiligung am Generalstreik zu
spekulieren. Aber unabhängig davon, was letztendlich an diesem Generalstreik
erfolgreich sein wird und wo sich seine Grenzen zeigen werden, bleibt eine
Sache auch schon vorher sicher feststellbar: Dieser Aufruf der
Gewerkschaften beendet einen langen Abschnitt ziemlich ruhiger
gesellschaftlicher Beziehungen im Spanischen Staat und führt uns in eine
neue, vermutlich unruhigere und ungewissere Etappe, die die aus der
Transición [1] geerbten wirtschaftlichen Grundmodelle genauso wie die
politischen Einrichtungen als auch den organisatorischen Rahmen der
Arbeiterbewegung zur Disposition stellt.

Die Krise des globalisierten Kapitalismus schlug in der spanischen Ökonomie,
deren Parameter in Europa am glaubwürdigsten durch diese Globalisierung
geformt worden waren, besonders heftig ein. Das "wunderbare" Modell des
spanischen Wirtschaftswachstums -- 2008 konnte Zapatero sogar verwegen
behaupten, dass "wir in der Champions League der Weltwirtschaft spielen" --
kollabierte sprichwörtlich im Strudel der von der Wall Street ausgehenden
Finanzkrise. Eigentlich basierte die spanische Wirtschaft auf einer
gigantischen Spekulationsblase im Immobiliensektor, die Motor des 15jährigen
Wachstums des Bruttoinlandprodukts gewesen war. Die sich daraus ergebende
Konjunktur verhüllte aber die reale strukturelle Schwäche, die dann von der
Krise gnadenlos enthüllt wurde, gefolgt von enormen sozialen Verwerfungen.
Die Arbeitslosigkeit pendelte sich bei rund 20 % der erwerbsfähigen
Bevölkerung ein und ist damit rund doppelt so hoch wie der EU-Durchschnitt.
Rund ein Viertel der Bevölkerung erfüllt die Lebensbedingungen der Armut und
1 Million Menschen überlebt nur durch soziale und wohlfahrtstaatliche
Hilfen. Nach einigen Schätzungen werden in den nächsten 18 Monaten rund
350 000 Familien ihr Haus verlieren, da sie ihre Hypotheken nicht auslösen
können. Die Illusion von Wachstum und Reichtum hat sich endgültig in Luft
aufgelöst und hinterlässt eine bittere Narbe der Enttäuschung in der
Gesellschaft.


EIN GESCHEITERTES MODELL

Es muss festgestellt werden, dass alle Triebkräfte des neoliberalen
spanischen Modells schon die Keime des jetzigen Scheiterns beinhalteten.
Unter dem Antrieb der "fortschrittlichen" Regierungen von Felipe González
passte der Spanische Staat seine Wirtschaft den Forderungen der europäischen
Bauwirtschaft an. Die Schwerindustrien in staatlicher Hand -- Schiffbau,
Metallverarbeitung, Teile des Bergbaus ... -- wurden seit den 1980er Jahren
geschliffen. Das Land verwandelte sich in eine Spielwiese für die großen
multinationalen Unternehmen, deren Investitionen durch zahlreiche
administrative Anreize und Erleichterungen begünstigt wurden. Durch diese
Rahmenbedingungen blühte ein dichtes Netz von Zulieferfirmen -- immer
abhängig von den Entscheidungen der großen Wirtschaftsunternehmen. Während
des Höhepunkts dieser neoliberalen Politik in den 1990er Jahren und massiv
unterstützt durch die konservative Regierung Aznars wurden die zentralen
Sektoren im Energie- und Kommunikationsbereich privatisiert. Das neu
geschriebene Bodengesetz verwandelte das gesamte Territorium in Bauland und
entfesselte eine Expansion des Immobilienmarktes, die keine Grenzen zu
kennen schien. In den 20 Jahren vor der jetzigen Wirtschaftskrise wurde
z. B. in Katalonien mehr gebaut als in der gesamten Zeit von der römischen
Antike bis zum Ende der Francozeit. In dieser Zeit wurde im Spanischen Staat
mehr gebaut als in Frankreich, Deutschland und Großbritannien zusammen.

Die Folgen dieser unbeschränkten Entwicklung des Produktionsmodells in
Kombination mit einer strikten Orientierung zugunsten des Tourismus und des
Dienstleistungssektors insgesamt haben einen tiefgreifenden Wandel des
Landes bewirkt, der in allen Bereichen spürbar ist. Die Städte haben sich
weitläufig ausgedehnt. Das Land wurde durch die unnachhaltige Bauwut an den
Stadträndern übel zugerichtet. Der Druck dieses Wachstumsmodells, das
Eindringen der großen multinationalen Handelsunternehmen und die Ausdehnung
des Agrarhandels -- gefördert durch die EU-Politik -- veränderte das Gesicht
der Landschaft grundlegend und begünstigte den Zuzug der Bevölkerung in die
großen Städte. In Katalonien ist nur noch 1 % der Bevölkerung in der
Landwirtschaft tätig, im gesamten Spanischen Staat sind es weniger als 5 %.
Die Bevölkerungsentwicklung und die ethnische und kulturelle Zusammensetzung
der Bevölkerung veränderten sich: Aufgrund der Migration stieg die
Bevölkerung in Katalonien innerhalb von zehn Jahren von 6 auf 7,5 Millionen
Menschen.

Diese Jahre der Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Situation des
Landes mussten jedoch zwangsläufig zu signifikanten Wechseln in den
Arbeitsbeziehungen und den Bedingungen der Arbeiterbewegung führen. Von den
unterschiedlichen Regierungen wurden wirtschaftliche
Liberalisierungsmaßnahmen durchgeführt, die die durch die Arbeiterbewegung
erreichten Errungenschaften und Rechte untergruben. Durch den machtvollen,
von den Gewerkschaften CCOO [2] und UGT [3] ausgerufenen Generalstreik am
14. Dezember 1988 wurde die "sozialistische" Regierung von Felipe González
gezwungen, ihre geplanten Arbeitsreformen zurückzuziehen und stattdessen die
Sozialausgaben in den folgenden Jahren zu erhöhen, die damals deutlich unter
dem europäischen Durchschnitt lagen. Trotzdem gelang es der neoliberalen
Politik seit den 1990er Jahren, die Arbeitsschutzrechte und die Löhne
abzubauen. Nach dem wenig erfolgreichen Generalstreik 1994 begann in diesen
Gewerkschaften erneut eine Dynamik der Sozialpartnerschaft und
zurückhaltenden Taktik, wie sie seit 1977 sowohl unter rechten wie linken
Regierungen üblich war. Lediglich der Generalstreik im Juni 2002 gegen eine
Gesetzesreform der zu diesem Zeitpunkt schon unbeliebten Aznar-Regierung,
die die Rechte der Arbeitslosen beschneiden wollte, unterbrach diese Politik
des "sozialen Friedens".

Die letzten 15 Jahre waren entscheidend, da sie einen Prekarisierungsprozess
in den Arbeitsverträgen, sowohl im privatwirtschaftlichen wie auch im
staatlichen Sektor, und die Vertiefung der sozialen Ungleichheit mit der
Illusion des trickle down des Reichtums verbunden haben. Die spanische
Wirtschaft hat mit gut 2 Millionen Arbeitslosen als Sockel ein beachtliches
Niveau struktureller Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft war durch Schwankungen
geprägt. Die Arbeitsplätze verwandelten sich in unsichere Stellen,
unvorhersehbare Kündigungen nahmen zu. Aber dank der Nachfrage im Bauwesen
und Dienstleistungssektor gab es eine feste Nachfrage nach Arbeitskräften.
Die Charakteristiken dieser beiden Sektoren erklären auch die Nachfrage nach
MigrantInnen, die zugleich beschimpft wie benötigt werden. Die Gehälter
verloren an Kaufkraft. Aber die Kredite waren günstig -- und durch die
Banken wie die öffentliche Hand propagiert -- und erlaubten den Familien ein
Konsumniveau aufrecht zu erhalten, das nicht mehr mit ihren Einkünften
übereinstimmte. In Spanien kam es zu einem ähnlichen Phänomen wie im
US-amerikanischen Immobiliensektor. So etwas Ähnliches wie
Sozialbauwohnungen gibt es nicht. Die Regierungen förderten das Geschäft der
Banken und Baufirmen, indem sie den hypothekengestützten Kauf von Wohnungen
und Häusern durch die Begünstigung der Kreditabschlüsse mittels
Steuernachlässen anstachelten. Parallel dazu und trotz des Wachstums des BIP
blieben die öffentlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und
Sozialversorgung weiterhin 9 Punkte unter dem Mittel des "Europa der 15".
Alles in allem wurde eine schadhafte Realität des Sozialgefüges hinter der
Fassade einer Scheinprosperität verborgen. 


DIE AUSWIRKUNGEN DER KRISE

Dieser Abbau des Arbeitsmarktes und die Zerbrechlichkeit der spanischen
Wirtschaftsstruktur erklären die blitzschnellen Auswirkungen der Krise. Im
Herbst 2008 gab es eine Welle von Firmenschließungen und
Belegschaftsreduzierungen -- mit Pirelli oder Nissan als besonders
auffälligen Beispielen. Die Antwort der Gewerkschaften war, jeden Fall
einzeln zu verhandeln. Gleichzeitig reklamierten sie vergeblich auf
nationaler Ebene einen sozialen Dialog mit den Kapitalverbänden und der
Regierung, um gemeinsam die Krise zu meistern. Gleichwohl war die Mehrzahl
der neuen Arbeitslosen nicht Opfer der Auswirkungen der Regulierungsgesetze
[ERE: spanisches Gesetz, das in Krisenzeiten außerordentliche Kündigungen
ermöglicht], sondern sie stammten aus prekären Arbeitsverträgen, die nun
nicht erneuert wurden, und dem Pleitegehen der zahlreichen "selbständigen"
ArbeiterInnen. Das Bauwesen kam über Nacht zum Erliegen und hinterließ über
eine Million neue und unverkaufte Wohnungen und Häuser. Die Kredite
versiegten und dies beschleunigte den Zusammenbruch von tausenden kleinen
Firmen und Geschäften. Die Bank von Spanien ist ein besonderer Fall: sowohl
durch ihren entscheidenden Einfluss in der Politik, als auch aufgrund der
unglaublichen Privilegien, die sie genießt. Es reicht zu erwähnen, dass im
Falle der Zahlungsunfähigkeit die Banken nicht nur die Zwangsräumung der
Familien erreichen, sondern auf den Versteigerungen trickreich auch die
Wohnung -- und dies meistens zu halbem Preis -- und dann noch den Rest der
Hypothekenschuld versuchen einzutreiben.

Die defizitären Zahlungsbilanzen (der Wert der Importe übersteigt den der
Exporte [4]) bedingten, dass die spanischen Kreditinstitute seit Jahren sich
um Kapital auf dem interbankären europäischen Markt bemühen mussten um in
Spanien Geld verleihen und Geschäfte tätigen zu können -- besonders um
Immobiliengeschäfte zu finanzieren und für deren Kauf Kredite vergeben zu
können. Die Zapatero-Regierung mobilisierte enorme Mengen an öffentlichen
Geldern (260 000 Millionen Euro) um eine Krise unvorhersehbaren Ausmaßes im
Finanzbereich zu vermeiden. Die Banken nutzten diese Finanzspritzen und
Bürgschaften vor allem, um ihre Bilanzkonten zu sanieren und danach, um auf
das Defizit des Staates zu spekulieren, indem sie Teile der öffentlichen
Schuld kauften -- aufgenommen eben darum, um die Kosten der Rettung des
Bankensektors zu finanzieren. (Ungefähr die Hälfte davon ist in den Händen
der großen europäischen Finanzinstitute. Die Deutsche Bank besitzt mehr als
45 000 Millionen Euro an spanischen Staatsschulden).

Die Kreditvergabe bleibt weiterhin blockiert und die nationale Wirtschaft
verharrt in der Rezession. Währenddessen sitzen die Banken, die sich in
Besitzerinnen von Tausenden von Wohnungen, Ausschreibungen und Grundstücken
verwandelt haben, auf offensichtlich gefälschten Bilanzen mit überbewerteten
Aktiva, die sie nur künstlich aufrecht erhalten können. Nach Meinung von
ExpertInnen müsste sich der Preis des Wohnraums mindestens um 30 %
verringern, um den Markt wieder zu reaktivieren. Und die Zukunft hält für
uns neue Schrecken bereit. Um die Gesamtlage zu vervollständigen, bleibt
hinzuzufügen, dass das spanische Steuerrecht eines der regressivsten in
Europa ist. Mitten in der Krise wurden die Steuergeschenke an die Firmen und
Besitzenden von Vermögen vervielfacht. Die Investmentgesellschaften mit
variablem Kapital -- SICAV -- zahlen nur 1 % des Kapitals. Und der Anteil
der vor der Steuer verborgenen Ökonomie wird vom Finanzministerium auf 23 %
des BIP geschätzt.

All dieses hilft zu verstehen, wie zerbrechlich die spanische
Wirtschaftssituation ist. Aber auch die endemische Korruption des
neoliberalen Wirtschaftsmodells und die Offensive der herrschenden Klassen
in der momentanen Situation werden so verständlich. Die antisoziale Wende
der Regierung Zapatero hat die großen Gewerkschaften überrascht, die auf
eine Zusammenarbeit mit der "befreundeten" Regierung gehofft hatten und nun
irritiert sind. Die Reaktionen, denen sich die Gewerkschaftsführungen
ausgesetzt sahen, haben die Unvorbereitetheit der Arbeiterbewegung klar zu
Tage treten lassen. Es geht dabei nicht einfach nur um die Mitgliedschaft in
den Gewerkschaften (CCOO und UGT haben jeweils etwas mehr als eine Million
Mitglieder, und die gewerkschaftliche Organisationsquote liegt bei rund
17 %). Aber diese Zahlen spiegeln auch den Einfluss dieser Organisationen
wieder. Im Grunde genommen stützen sich die Gewerkschaften auf eine Struktur
von Delegierten, die ohne eine aktive Basis in den Firmen agiert. Die
Fragmentation der Produktion und der Arbeitsverträge der arbeitenden Klasse
hat den für die Epoche des Fordismus aufgestellten Gewerkschaften ihre
Grenzen aufgezeigt. Zudem wurden die Gewerkschaften während der Transición
darauf beschränkt, Konflikte in Firmen und politischen Bereichen zu
verhandeln, die die neoliberale Politik und die Globalisierung in Unordnung
gebracht haben: Die Realitäten der Arbeitsverträge sind heute in jeder Firma
anders, und die Wertschöpfungsprozesse korrespondieren nicht mehr mit den
traditionellen industriellen Zyklen. Die Jahre der ökonomischen
Gutwetterlage haben zugleich den Individualismus als auch die Wehrlosigkeit
der Arbeitskraft erhöht. Eine ganze Generation von gewerkschaftlichen
AktivistInnen hat im Prinzip keine andere Gewerkschaftsaktion als die des
gerichtlichen Einspruchs erlebt. Einige der kämpferischsten Streiks hatten
nichts anderes als Ziel, als die Verhandlung über die Abfindungen bei
Kündigungen entsprechend der Zahl der Beschäftigungsjahre in einer Firma.
Auf der andere Seite reiben die Bürokratie und die Abhängigkeit von Geldern
die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften auf und verschlechtern die Beziehung
zu einer durch die Schwere der Krise eingeschüchterten, ungeschützten und
vom Bestreben des "rette sich wer kann" beeinflussten Arbeiterklasse. Dies
sind nicht die besten Bedingungen um eine neue und konfliktive Etappe des
Klassenkampfes zu meistern, die sich andeutet. Aber mensch muss der Realität
so, wie sie ist, gegenüber treten.


DER BEVORSTEHENDE WANDEL

Und was noch zu all dem hinzukommt, ist ganz klar ein neuer Abschnitt von
historischer Reichweite. Die Arbeiterklasse hat sich noch nicht auf die
Angriffe der Regierung, die diese im Namen des Marktes durchführt,
eingestellt. Im Juni beschloss sie die Reduzierung der Gehälter der
Staatsangestellten, was eine direkte Auswirkung auf die
privatwirtschaftlichen Sektoren hatte, zudem das Einfrieren der Renten und
der sozialen Hilfen sowie drastische Sparmaßnahmen in den öffentlichen
Ausgaben, welche die Infrastruktur, die staatlichen Einrichtungen und die
öffentlichen Dienstleistungen betreffen. Diese Verschlechterungen öffnen
einer weiteren Anzahl von Privatisierungen die Tür. Die Arbeitsreformen, die
die Leidensfähigkeit der Gewerkschaften überstrapazierten, erleichtern die
Kündigungen, geben den Firmen einen größeren Ermessensspielraum und
erweitern die Möglichkeiten, Zeitarbeitsverträge einzurichten -- und dies
bis in den Sektor der öffentlichen Verwaltung hinein. Zudem -- und das ist
sehr schwerwiegend -- erlauben sie den Firmen, sich von kollektiven
Arbeitsverträgen abzukoppeln, sofern es die partikularen Interessen der
Firma erfordern. Dies ist ein deutlicher Angriff auf die linienlose Politik
der Gewerkschaften. Die Frage der kollektiven Arbeitsverträge ist ein
zentrales Anliegen der Gewerkschaften, ohne diese gibt es eine
Zersplitterung der Arbeiterklasse, eine Verwandlung der ArbeiterInnen in
eine Menge von wehrlosen und der gegenseitigen Konkurrenz ausgesetzten
Individuen. Dass die Rentenreform im Parlament debattiert wird, mit der wie
in vielen anderen europäischen Ländern die Absicht verfolgt wird, das
Renteneintrittsalter auf 67 zu erhöhen, die Einkommen der RentnerInnen zu
kürzen und die privaten Rentenversicherungen zu fördern, verdeutlicht die
Offensive des Großkapitals gegen den Wohlfahrtsstaat. Die im
Nachkriegseuropa erreichten Beziehungen zwischen den Klassen sind in Frage
gestellt -- und mit ihren spezifischen Eigenarten damit auch ganz besonders
die im Spanischen Staat. Die Jahre des siegreichen Neoliberalismus haben ihr
Feld erfolgreich vorbereitet. Mittels einer neuen Variante seiner bekannten
Schocktherapie versucht der Kapitalismus eine qualitativ neue Schwelle zu
überschreiten.

Der Streik vom 29. September wird zeigen wo die Arbeiterbewegung steht, um
sich dieser Herausforderung zu stellen. Die sozialpartnerschaftlich
eingestellten Führungen der einflussreichen Gewerkschaften sind
widersprüchlichen Einflüssen ausgesetzt: Sie fühlen sich dem Druck der
eigenen Organisation und deren Bedeutung ausgesetzt, aber sie träumen von
der Rückkehr der sozialpartnerschaftlichen Zeiten. Ihre Proklamationen
kritisieren heftig die Reformen der Regierung. Einige Positionspapiere von
den Gewerkschaften eng verbundenen Nachbarschaftsvereinigungen schlagen
einen klar linken Kurs aus der Krise vor: öffentliche Banken, progressive
Steuergesetzgebung, Verstaatlichungen, Verteidigung des öffentlichen
Sektors, Senkung der Militärausgaben, ökologische Umgestaltung der
Produktion und Maßnahmen zur geschlechterunabhängigen Bezahlung (Frauen sind
bei Zeitarbeitsverträgen mit 80 % vertreten, werden weiterhin schlechter
bezahlt als Männer, und jeder weitere Rückschritt auf dem Arbeitsmarkt
bezüglich der Sozialleistungen und der öffentlichen Ausgaben betrifft sie
besonders deutlich) ... Trotzdem enden diese Statements mit einer
Aufforderung, den sozialen Dialog wieder auf zu nehmen. Dies wird sicherlich
mit den Mobilisierungserfolgen eines Delegiertenapparats zu tun haben, der
häufig wenig Präsenz und Einfluss in den Arbeitervereinigungen hat. Die
linken GewerkschafterInnen ihrerseits -- vertreten durch
Minderheitenströmungen wie die anarchosyndikalistische CNT, die
Eisenbahngewerkschaft, Cobas, die intergewerkschaftliche Alternative in
Katalonien oder die andalusische SAT -- können trotz der Anzahl ihrer
AktivistInnen und trotz ihrer Präsenz in den verschiedenen Sektoren in
keinem Fall den Kräfteschwund der großen Gewerkschaften kompensieren.
Außerdem ist festzustellen, dass ihre Möglichkeiten nicht dieselben sind:
Während CCOO sich bei der Mobilisierung für den 29. September engagierter
zeigt, ist die UGT unschlüssig, da sie starke interne Spannungen zu
verarbeiten hat, die von den Pressionen seitens der PSOE herrühren, der
diese Gewerkschaft ja historisch und innigst verbunden ist. Bleibt auf eine
Besonderheit hinzuweisen, die die Gesamtlage kompliziert: die Situation in
Euskadi (Baskenland). Dort ist die gewerkschaftliche Mehrheit, vertreten
durch ELA, LAB, STES u. A., traditionell nationalistisch und hat sich häufig
schon mit den gesamtspanischen Gewerkschaften angelegt. Es wurde bereits zu
zwei Generalstreiks mobilisiert, einer im vergangenen Jahr, der andere in
diesem Juni, wobei letzteren die CCOO unterstützte, und beide mit einem
bemerkenswerten Erfolg. Aber dieses Mal hat die gewerkschaftliche Mehrheit
in Euskadi entschieden, den Streikaufruf von CCOO und UGT zu ignorieren und
Einsprüche anzumelden sowie einen eigenen zeitlichen Ablauf der
Mobilisierung einzufordern. Die nationale Problematik, durch die Krise eher
verstärkt als abgeschwächt, beeinträchtigt die Aktionseinheit der
Arbeiterbewegung.

Und natürlich ist dies nicht die einzige Verzerrung auf politischer Ebene.
Der Streik zeigt auch deutlich die unvermeidliche politische Krise der
Linken. Die PSOE zeigt sich verpflichtet, Harakiri zu begehen zugunsten der
Reichen. Seine Politik bereitet die Rückkehr der Rechten an die Macht vor,
deren schmutzige Arbeit sie zu erledigen sich bemüht. Die Wahlen in
Katalonien diesen Herbst werden sicherlich einen Erfolg der
nationalistischen Rechten bringen und damit ein Ende des Zyklus
linksliberaler Regierungen. Die Vereinigte Linke (Izquierda Unida)
debattiert darüber, sich mit einem antikapitalistischen Aspekt neu zu
gründen ... und über ihre Kompromisse auf lokaler und regionaler Ebene mit
der PSOE zusammen zu regieren. Diese neue Periode beginnt mit der dringenden
Notwendigkeit einer grundlegenden Neuorganisation der sozialen und
politischen Linken. Mit ihren bescheidenen aktiven Kräften des Neuaufbaus
hat sich die Antikapitalistische Linke (Izquierda Anticapitalista) klar für
eine Beteiligung im Kampf für den Generalstreik entschieden. Sie ist sich
dabei der Wichtigkeit und der Notwendigkeit bewusst, aus diesem Kampf den
Beginn eines ganzen Zyklus von Kämpfen zu machen, der eine fortschrittliche
Perspektive heraus aus der systemimmanenten Krise und zu Gunsten der
arbeitenden Klassen eröffnet.


23.09.2010


Lluís Rabell ist Leitungsmitglied der Izquierda anticapitalista
(Antikapitalistische Linke), der Sektion der IV. Internationale im
spanischen Staat.


Übersetzung aus dem Spanischen: Sven



-------------------------------------------------------------------
Aus:   Inprekorr Nr. 468/469   (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
Bestellungen:          Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34, 25761 Büsum
E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de
Doppelheft:  4 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR
Jahresabo:            20 EUR (Inland), 12 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%
Artikel im CL-Datennetz:                        cl.medien.inprekorr
Artikel im Internet:                            http://inprekorr.de
-------------------------------------------------------------------

-----
[1]  Übergangsphase vom Franco-Regime zur konstitutionellen Monarchie,
1975-1981/82
[2]  Gewerkschaft, die der kommunistischen Partei nahesteht.
[3]  Gewerkschaft, die der "sozialistischen" PSOE nahesteht.
[4]  Die hier definierte Handelsbilanz ist nur ein -- wenn auch sehr
wichtiger -- Teil der Zahlungsbilanz [Anm. d. Red.]



Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l