[IPK] Fukushima: Mit dem Schlimmsten rechnen!

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Mi Apr 27 00:43:47 CEST 2011


Atomenergie:
Fukushima: Mit dem Schlimmsten rechnen!
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Das Erdbeben vom 11. März in Japan löste das schlimmste Unglück in einem
Atomkraftwerk seit Tschernobyl 1986 aus. Auch bei Redaktionsschluss dieser
Ausgabe war die Situation noch nicht unter Kontrolle. Wenige Tage nach
Beginn der Katastrophe analysierte unser Ökologieexperte die Lage und
benannte die dringendsten Forderungen.


Von Daniel Tanuro


Der Lage auf dem Gelände des Atomkraftwerks im japanischen Fukushima wird
von Stunde zu Stunde ernster. Das Betriebspersonal scheint keinen Einfluss
auf den Lauf der Dinge mehr zu haben. Die Gefahr einer Katastrophe vom
Ausmaß des Tschernobyl-Unglücks oder schlimmer nimmt zu.

Der Komplex von Fukushima-Daichi besteht aus sechs Atomreaktoren vom
Siedewassertyp nach den Plänen von General Electric. Die Leistung dieser
Reaktoren liegt zwischen 439 MW (Reaktor 1) und 1067 MW (Reaktor 6). Der
Brennstoff im Reaktor Nr. 3 ist MOX (eine Mischung aus Oxiden von
abgereichertem Uran und von Plutonium); die anderen arbeiten mit Uran. Die
Inbetriebnahme erfolgte zwischen März 1971 und Oktober 1979. Es handelt sich
also um sehr alte Anlagen, weit über zwanzig Jahre alt, die immer mehr
Anzeichen von Verschleiß zeigen, was zu Störungen führt. Neben den Reaktoren
gibt es am Standort auch Lager für feste Abfälle. Der Anlagenbetreiber Tepco
gibt dazu bekanntlich keine vollständigen und zuverlässigen Informationen
heraus.

Die Reaktoren 5 und 6 wurden vor dem Erdbeben heruntergefahren. Die Risiken
dort scheinen begrenzt zu sein, aber am Dienstag, den 15. März wurde ein
leichter Temperaturanstieg gemeldet. Doch die anderen vier Reaktoren waren
von mehreren schweren Unfällen betroffen: vier Wasserstoffexplosionen, ein
Feuer und drei partielle Kernschmelzen.

Die Probleme begannen im Reaktor Nr. 1. Es scheint, als sei am Dienstag, den
16. März, der Kern des Reaktors zu 70 % geschmolzen und der von Reaktor
Nr. 2 zu 33 %; dies beruht auf Angaben des Anlagenbetreibers (/New York
Times/, 15. März). Die Informationen über eine Kernschmelze im Reaktor Nr. 3
sind widersprüchlich, aber nach Angaben der japanischen Regierung ist der
Druckbehälter dieser Anlage beschädigt (/Kyodo News/, 15. März). Nach
Angaben der französischen Atomsicherheitsbehörde ASN "gibt es keinen
Zweifel, dass in den Reaktoren Nr. 1 und Nr. 3 eine Kernschmelze begonnen
hat und dies wohl auch im Reaktor Nr. 2 der Fall ist" (/Le Monde/,
16. März).

Der Druckbehälter des Reaktors Nr. 2 soll nicht mehr dicht sein (/Le Monde/,
15. März). Nach Angaben der IAEO gab es im Reaktor Nr. 4 eine
Wasserstoffexplosion, auf die ein gewaltiges Feuer folgte. Auch hier soll
der Druckbehälter beschädigt sein, aber der Reaktor wurde beim Tsunami
heruntergefahren; daher soll die Gefahr eines Austritts von Radioaktivität
geringer sein.

Auch die Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente sind von Unfällen
betroffen. In diesen Einrichtungen müssen die Brennstäbe wie in den
Reaktordruckbehältern ständig von einem Wasserstrom gekühlt werden. Da es
nicht genug Wasser gibt, ist die Temperatur der Brennstäbe soweit gestiegen,
dass sie den Rest der Flüssigkeit zum Sieden gebracht haben und der
Überdruck sich einen Weg ins Freie gesucht hat (/BBC News/, 15. März).


DIE SITUATION IST AUSSER KONTROLLE

Die heroischen Arbeiter sind dabei, ihr Leben zu opfern (wie die
"Tschernobyl-Liquidatoren" vor ihnen), aber sie bekommen die Situation nicht
unter Kontrolle. Es wurde versucht, die Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen.
Ein beispielloser und verzweifelter Versuch, bei dem die möglichen Folgen
(aus der Tatsache, dass Meerwasser eine Vielzahl von Verbindungen enthält,
die mit Anlagenteilen reagieren können) ignoriert werden. Fehlschlag. Die
Temperatur ist in bestimmten Einrichtungen (insbesondere den Abklingbecken)
so hoch, dass die Beschäftigten sich ihnen nicht nähern können. Versuche,
Wasser über den Reaktoren vom Hubschrauber aus abzuwerfen, mussten
aufgegeben werden: Die Radioaktivität ist zu hoch. Nach Angaben der
japanischen Atomaufsichtsbehörde beträgt die Dosis (Gradmesser für
Radioaktivität) am Werkstor 10 Millisievert pro Stunde (10 mSv/h); das ist
in einer Stunde das Zehnfache des Werts, der für ein ganzes Jahr akzeptabel
wäre.

Die Katastrophe von Tschernobyl scheint sich vor unseren Augen zu
wiederholen. Das Ergebnis könnte noch schlimmer sein als in der Ukraine vor
25 Jahren. Denn im Falle einer vollständigen Kernschmelze des Reaktors Nr. 3
würde der Reaktordruckbehälter höchstwahrscheinlich brechen und sich der
geschmolzene Brennstoff in den Sicherheitsbehälter ergießen, der dem nicht
standhalten würde. Bei diesem alptraumhaften Szenario werden nicht nur die
Isotope von Jod, Cäsium und selbst Uran in die Umwelt freigesetzt, sondern
sogar Plutonium 239, das gefährlichste aller radioaktiven Elemente. Es
entwickelt sich ein apokalyptisches Szenario des Todes in allen verstrahlten
Bereichen, deren Ausmaß eine Funktion der Kraft und der Höhe ist, mit der
die Partikel in die Umwelt freigesetzt werden ...


------------ KASTEN -----------------------------------------------

SIEDEWASSERREAKTOREN

Siedewasserreaktoren sind die ältere Baulinie von Atomkraftwerken, die von
den Atom-U-Booten übernommen wurde. Der Dampf zum Antrieb der Turbinen wird
direkt im Reaktor erzeugt; radioaktive Stoffe gelangen daher in die Turbine
und ins Maschinenhaus und von dort relativ leicht in die Umwelt, weshalb
dieser Reaktortyp als "schmutziger" gilt.
Bauartbedingt befindet sich auch das Abklingbecken außerhalb des
Sicherheitsbehälters.
In Deutschland gibt es folgende Siedewasserreaktoren, die immer noch nicht
endgültig stillgelegt sind: Brunsbüttel, Isar 1, Philippsburg 1 sowie
Krümmel (bei Hamburg). Auch die Fukushima-Reaktoren sind von diesem Typ.

ABKLINGBECKEN

Abgebrannte Brennelemente müssen mindestens fünf Jahre in einem
wassergefüllten Becken lagern, um die hohe Wärme abzuführen, die beim
Zerfall der Spaltprodukte entsteht. Um Kosten zu sparen, bleiben die
Brennstäbe jedoch häufig viel länger in diesen potenziell unsicheren Becken,
die bei Siedewasserreaktoren durch keinen Sicherheitsbehälter gegen Unfälle
von außen oder Entweichen von Radioaktivität geschützt sind.

bm

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MASSENMOBILISIERUNGEN FÜR DEN ATOMAUSSTIEG!

Auch wenn uns dies Szenario hoffentlich erspart bleibt, wäre die Bilanz
schon schrecklich genug. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass das
Schlimmstmögliche wirklich passieren könnte. Und daraus die Schlussfolgerung
ziehen: vollständiger und schnellstmöglicher Ausstieg aus der Atomenergie.
Ausstieg nicht nur aus der zivilen Atomenergienutzung, sondern auch aus der
Atomrüstung (die beiden Sektoren sind unlösbar miteinander verknüpft).
Mobilisieren wir massenhaft und weltweit für dieses Ziel! Geht auf die
Straße, besetzt symbolische Orte, unterzeichnet Petitionen! Die Atomenergie
ist unbeherrschbar. Zeigen wir unsere kategorische Ablehnung mit allen
denkbaren Mitteln, individuell und kollektiv. Schaffen wir eine Welle der
Empörung und des Entsetzens, um die Herrschenden zu zwingen, unserem Willen
zu folgen. Es geht um unser Leben, um das Leben unserer Kinder und um das
Leben überhaupt.

Man darf den Regierungen nicht vertrauen. Im schlimmsten Fall behaupten sie,
dass die Ursache der Katastrophe von Fukushima -- der seit über einem
Jahrtausend heftigste Tsunami -- "außergewöhnlich" sei, so einzigartig, dass
man mit Erdbeben dieser Stärke in anderen Gebieten der Welt nicht rechnen
müsse.

Es ist das Liedchen, das die französischen und britischen Befürworter des
Atoms summen, und in das ihre politischen Freunde einstimmen.

Als könnten andere außergewöhnliche, also einzigartige Ursachen
(Flugzeugabsturz, Terroranschlag, ...) nicht auch andere Katastrophen in
anderen Teilen der Welt auslösen!

Im besten Fall werfen die Regierungen Ballast ab und kündigen eine Prüfung
der Sicherheitsstandards, einen Investitionsstopp oder ein Moratorium für
Entscheidungen über Laufzeitverlängerungen bestehender Anlagen oder sogar
die Schließung der baufälligsten Anlagen an. Das ist die Linie, wie sie am
spektakulärsten von Angela Merkel verfolgt wird, die in der Frage gerade
eine Wende um 180 Grad vorgenommen hat. Die Gefahr ist groß, dass diese
Linie in den meisten Fällen hauptsächlich die Bevölkerung einlullen wird,
ohne die Atomenergie radikal in Frage zu stellen.

Denn der Kapitalismus kann kurzfristig auf die Atomenergie nicht einfach
verzichten. Als durch und durch produktivistisches System kann er auf das
Wachstum der materiellen Produktion nicht verzichten, was zu steigender
Belastung der natürlichen Ressourcen führt. Es gibt reale Fortschritte bei
der Effizienz der Nutzung dieser Ressourcen, die aber durch die absolute
Zunahme der Produktion mehr als ausgeglichen werden. Angesichts der Gefahr
des Klimawandels und angesichts der physischen und politischen Spannungen
(die Revolutionen in der arabisch-muslimischen Welt!), die die Versorgung
mit fossilen Brennstoffen belasten, ist die Energiefrage für dieses
unersättliche System wirklich die Quadratur des Kreises.


DAS UNMÖGLICHE WAGEN, EINE ANDERE GESELLSCHAFT WAGEN!

Die einzig realistische Lösung ist letztlich, das Unmögliche zu wagen: die
Perspektive einer Gesellschaft zu vertreten, die nicht für den Profit
produziert, sondern für die Befriedigung der wirklichen (nicht vom Markt
entfremdeten) menschlichen Bedürfnisse, unter demokratischer Kontrolle und
sorgfältiger Beachtung der natürlichen Grenzen der Ökosysteme.

Eine Gesellschaft, in der die Grundbedürfnisse erfüllt sind, wird das
menschliche Glück allein mit dem wirklich entscheidenden Maßstab messen:
freie Zeit. Zeit zum Lieben, Spielen, Genießen, Träumen, Arbeiten, Schaffen,
Lernen.

Der Weg zu dieser unerlässlichen Alternative führt nicht in erster Linie
über das Umschwenken des Einzelnen zu einem (gleichwohl erforderlichen)
umweltbewussten Verhalten, sondern durch gemeinsamen Kampf für gewiss
ambitionierte, aber durchaus realisierbare politische Forderungen wie z. B.:

* Allgemeine radikale Reduzierung der Arbeitszeit ohne Lohnverlust, mit
entsprechenden Neueinstellungen und drastischer Reduzierung der
Arbeitsgeschwindigkeit. Man muss weniger arbeiten; alle sollen arbeiten und
weniger produzieren;

* Abschaffung der nutzlosen oder schädlichen Produktion unglaublichen
Ausmaßes, die entweder dazu dient, die Märkte künstlich aufzublähen
(überflüssige Produkte) oder uns für das menschliche Elend unserer Existenz
zu entschädigen, oder dazu dient, uns für Rebellion gegen dieses System zu
bestrafen (Waffenproduktion) -- mit Umschulung der in diesen Branchen
beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter;

* entschädigungslose Enteignung des Energie- und Finanzsektors. Energie ist
ein Gemeingut der Menschheit. Ihre kollektive Rückeroberung unter Bruch mit
den Imperativen des Profits ist die Voraussetzung für eine gerechte,
effiziente und schnelle Energiewende hin zu erneuerbaren Quellen. Dieser
Übergang erfordert andererseits erhebliche Ressourcen, was die Beschlagnahme
des Vermögens von Banken, Versicherern und anderen parasitären Kapitalisten
ausreichend rechtfertigt.

* radikale Ausweitung des öffentlichen Sektors (kostenlose öffentliche
Verkehrsmittel hoher Qualität, öffentliche Unternehmen zur Gebäudeisolierung
etc.) und ebenso radikale Rücknahme der Waren- und Geldwirtschaft:
kostenlose Versorgung mit Gütern des Grundbedarfs wie Wasser, Energie und
Brot bis zu einem vernünftigen Verbrauchsniveau.


Der Kapitalismus ist ein System des Todes. Möge es Fukushima gelingen,
unsere Sehnsucht nach einer ökosozialistischen Gesellschaft voranzubringen,
einer Gesellschaft von Produzentinnen und Produzenten, die sich frei
assoziieren, um unseren schönen Planeten, die Erde, umsichtig und
respektvoll zu verwalten. Es gibt nur die eine.


17. März 2011

Daniel Tanuro ist Mitglied der Leitung der Ligue communiste révolutionnaire
(LCR, der belgischen Sektion der Vierten Internationale). Kürzlich erschien
sein Buch "L'impossible capitalisme vert" (Der grüne Kapitalismus ist
unmöglich), veröffentlicht in /Les empêcheurs de penser en rond / Le
Découverte/, Paris, 2010. Der hier vorliegende Artikel erschien unter
http://www.lcr-lagauche.be/

Übersetzung: Björn Mertens



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