[IPK] Kriegsschauplatz Pakistan

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Pakistan:
Kriegsschauplatz Pakistan
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Durch die kalte Hinrichtung von Osama Bin Laden auf Barack Obamas Befehl hat
Pakistan wieder einmal in die Schlagzeilen der internationalen Aktualität
gefunden. Einige haben gemeint, das Verschwinden des Führers von Al-Qaida
würde nicht viel ändern. Das stimmt womöglich, wenn man an die arabische
Welt denkt. Doch aus der Sicht von Washington und Islamabad handelt es sich
keineswegs um eine Anekdote! Sie verschärft die Widersprüche, die in der
pakistanischen Gesellschaft ohnehin am Werk sind. Sie beleuchtet die
Interessenskonflikte, die das Bündnis mit den USA schwächen. Doch Pakistan
ist ein Schlüsselbaustein der Geostrategie, die von den asiatischen früheren
sowjetischen Republiken bis nach China reicht. Die Konsequenzen der
"Operation Geronimo" [1] werden sich nicht auf die Region beschränken.


Von Pierre Rousset


Dieser Artikel beschäftigt sich nur mit Pakistan; wir möchten dennoch einen
kleinen Umweg in Richtung USA einschlagen. Die kalte Hinrichtung von Bin
Laden gab Gelegenheit für eine breite politische Offensive mit dem Ziel, die
Freiheit der Intervention des US-amerikanischen Imperialismus
wiederherzustellen, der in den Augen der öffentlichen Meinung durch die
Lügen und Skandale der Bush-Administration diskreditiert war. Es sollte
gezielten Tötungen, der Kerkerhölle von Guantanamo (die Obama eigentlich
schließen wollte), dem Einsatz der Folter (das Auffinden von Bin Laden soll
durch Geständnisse, die durch fortgesetzte Folter erzwungen wurden,
erleichtert worden sein), der direkten und geheimen Intervention auf fremden
Territorien im Namen des nationalen Interesses und durch den Abschied von
jeder Regel des Rechts und der Moral eine neue Legitimation verschafft
werden. Alles spielte sich auf dem Hintergrund eines gesteigerten
Nationalismus einer Großmacht ab. Diese ideologische Offensive ist umso
verheerender, als sie von Obama angeführt wird, einem schwarzen und
demokratischen Präsidenten, dessen Wahl zu Freudenstürmen bei vielen
fortschrittlichen Menschen in den USA und weltweit geführt hatte.

Kommen wir auf Pakistan zurück. Die Bin-Laden-Affäre bestärkt das Bild eines
Landes, dessen Bevölkerung Geißel von regionalen Konflikten ist -- der
Afghanistankrieg und der Konflikt mit Indien --, aber auch des islamischen
Terrorismus, der Geheimdienste, der Armee und der geschäftstüchtigen
Familienklans, sowie von ausländischem Druck und Interventionen (der USA,
aber auch von Saudi-Arabien und anderen). Leider gibt es an diesem Bild viel
Wahres und wir müssen das Warum zu verstehen suchen.

Ein wichtiger Hinweis: Pakistan ist ein besonders komplexes Land --
wahrscheinlich mehr als die meisten anderen Länder. Aber schon in ziemlich
"einfachen" Fällen ist es niemals einfach, hinter dem Anschein die
untergründigen Realitäten zu erfassen. Wie steht es um den Sunnismus? Das
Universum der Stämme? Die Kultur der Urdu, Paschtu, Belutschi oder Hindi
Sprechenden? Welches ist das besondere Zusammenspiel der Mächte in den
verschiedenen Provinzen, die heute zu Pakistan gehören -- und wie läuft es
auf Bundesebene ab? Der Autor möchte hier nicht auf diese Fragen antworten.
Dieser Artikel hält sich -- sagen wir -- an ein erstes Analyseniveau. Er
verfolgt nur beschränkte Ziele: Diese Komplexität aufzuzeigen, die
nationalen und internationalen Aspekte der gegenwärtigen Krise
herauszuarbeiten und einige grundlegende Fragen zu stellen.

In der Tat zeigt die pakistanische Krise einige hochkritische Aspekte,
vielleicht wegen den Bedingungen, die seiner Geburt vorausgingen (die
Teilung des britischen Reichs der Indien 1947), der Versäumnisse der
herrschenden Klassen und der historischen Schwäche der Linkskräfte. Das gilt
beispielweise für die "Taliban", die Nuklearisierung des Konflikts zwischen
Indien und Pakistan, oder auch die aufeinander folgenden Sackgassen der
imperialistischen Politik der USA. Man kann aus solchen kritischen
Höhepunkten, deren Reichweite weit über diese Region hinausgeht und die uns
alle interessieren, viel lernen.


AM ANFANG STAND DER KRIEG

Pakistan ist als Staat sehr spät (1947) geschaffen worden. Am Anfang standen
die Bevölkerungsverschiebungen auf religiöser Grundlage anlässlich der
"Teilung" des britischen Reichs der Indien: es wurden etwa 17 Millionen
Menschen auf die eine oder die andere Seite "verschoben". Der neue Staat
wurde in den Regionen des Nord-Ostens und Nord-Westens gegründet, wo die
Muslime historisch in der Mehrheit waren. Außerdem kamen noch sieben
Millionen Muslime aus anderen Regionen Indiens nach Pakistan -- die
Muhadschirin ("Auswanderer" [Anm. d. Red.]).

Seit der "Vivisektion" von 1947 gibt es in Pakistan sehr wenige Hindus.
Indien jedoch verfügt über eine beträchtliche muslimische Minderheit mit
über 150 Millionen Menschen, fast ebenso viele wie Pakistan Einwohner hat.
Sie stellen etwa 12 Prozent der indischen Bevölkerung dar.

Sicherlich kann man im heutigen Pakistan alte historische Wurzeln finden,
vor allem in den bevölkerungsreichsten Provinzen Pandschab (in der Mitte)
und Sindh (im Süden). Aber von allen großen asiatischen Ländern ist Pakistan
dasjenige, dessen Grenzen am künstlichsten sind. Zu Beginn umfasste es zwei
Landesteile, die weit auseinander lagen und durch Indien getrennt waren,
einerseits das westliche Pakistan (das die politische Macht monopolisierte)
und sodann das östliche Pakistan (dessen Bevölkerung größer war). Nach dem
Krieg von 1971 hat sich dieser Teil abgespalten und unter dem Namen
Bangladesch seine Unabhängigkeit erklärt.

Doch auch nach der Abtrennung von Bangladesch (eine zweite Teilung!) blieben
die Grenzen Pakistans auf zweifache Weise künstlich; sie wurden auf der
westlichen Seite durch den britischen Kolonialismus gezogen und auf der
östlichen durch die Teilung von 1947 -- im Norden waren sie durch die Kette
des Himalaja gewissermaßen naturgegeben (auf der anderen Seite befindet sich
China) und im Süden durch das arabische Meer. Auch der Name Pakistan (Land
der Reinen) ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben von Pandschab, Afgania
(Paschtunenprovinzen im NW des Landes), Kaschmir, Sindh und den drei letzten
Buchstaben von Belutschistan.

Häufig gibt es eine stärkere gemeinsame historische Identität zwischen den
Bevölkerungen auf der einen oder anderen Seite der Grenze als zwischen den
verschiedenen Bevölkerungen der pakistanischen Provinzen: Paschtunen oder
Pathanen gibt es im Nordwesten und in Afghanistan, Belutschen im Westen und
im Iran, im Pandschab und Sindh und Indien im Osten oder Kaschmir im Norden.
Die östlichen Provinzen sind vom britischen Kolonialismus tief geprägt
worden, doch dies gilt für die westlichen Provinzen viel weniger: Die
erstgenannten waren in die blutigen Auseinandersetzungen um die Teilung 1947
direkt verwickelt, doch für die westlichen Provinzen gilt dies nicht. Durch
den Zustrom von Vertriebenen ergab sich nach der Teilung zusätzlich ein
Mosaik von Bevölkerungsgruppen, die im zu gründenden Pakistan leben: die aus
Indien eingewanderten Muslime, die Muhadschirin ("Auswanderer" [Anm. d.
Red.]), haben sich gewissermaßen Karatschis bemächtigt und sich den
Bewohnern des Sindh entfremdet.

Die Vereinigung Pakistans wurde nie vollendet und Irredentismus oder
bewaffnete Bewegungen der nationalen Befreiung existieren seit vielen
Jahren, so in Belutschistan, wo fünf Kriege stattfanden: 1947--1949, 1955,
1958--1969, 1973-1977 (8 000 Tote) und seit 2004. Seit seiner Gründung ist
Pakistan also ein Land, in dem Krieg geführt wurde, das von inneren
Konflikten durchzogen und von heftigen Grenzspannungen geprägt ist. Es steht
auch im Zentrum wichtiger geostrategischer Ziele sowohl in Südasien als auch
im Hinblick auf die großen Weltmächte.


GEOSTRATEGISCHER KREUZUNGSPUNKT

Südasien umfasst sieben Staaten (sofern man Birma im Südosten dazurechnet);
zwei sind Inseln (Sri Lanka und die Malediven) und zwei Himalaja-Staaten
(Nepal und Bhutan) mit einer weniger großen Bevölkerungszahl. Den westlichen
bzw. östlichen Rand bilden zwei der bevölkerungsreichsten Länder der Erde,
nämlich Pakistan (über 180 Mio. Einwohner) mit seiner Hauptstadt Islamabad
und Bangladesch (über 165 Mio.) mit der Hauptstadt Dhaka. Trotzdem wird der
gesamte Subkontinent von einem Giganten dominiert, nämlich Indien mit seinen
1,2 Milliarden Menschen und der Hauptstadt Neu-Delhi. Wegen seiner Größe,
der Bevölkerung, der Wirtschaft und seiner Armee ist Indien weit mächtiger
als seine Nachbarn (auch wenn Pakistan ebenfalls über die Atombombe
verfügt). Indien ist die Regionalmacht.

In dieser Region hat die Rivalität zwischen Indien und Pakistan immer (also
seit Ende des 2. Weltkriegs) die politischen Entscheidungen der beiden
Seiten bestimmt. So hat Islamabad die Regierung von Sri Lanka unterstützt,
während Neu-Delhi die tamilischen "Befreiungstiger" gegen das Regime in
Colombo bewaffnete, das man als zu stark westlich orientiert ansah.

Im Übrigen liegt Pakistan geografisch an der Schwelle zwischen dem Nahen
Osten, Zentralasien mit den früheren Sowjetrepubliken und Südasien. Im Osten
hat es eine Grenze mit Indien, im Westen mit dem Iran und im Nordwesten mit
Afghanistan. Kulturell stellt es eine Region der Begegnung zwischen dem
iranischen und dem indischen Raum dar. Als muslimisches Land mit einer
sunnitischen Mehrheit (75 %) und einer schiitischen Minderheit (20 %),
bekommt es die Schläge der Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ab.
Außerdem stellt der Hafen von Karatschi (der wichtigsten Industriestadt des
Landes) den besten Umschlagsplatz für das Öl aus Zentralasien dar.

Schließlich stellte Pakistan zur Zeit des Kalten Krieges und des
russisch-chinesischen Konflikts ein wichtiger Pfeiler der Geostrategie dar.
Damals wurde Islamabad sowohl von Washington wie von Peking gegen Delhi
unterstützt. Tatsächlich suchte das kapitalistische Indien die Hilfe
Moskaus, um sich gegen die imperialistische Herrschaft zu schützen. Außerdem
kam zum sowjetisch-chinesischen Konflikt noch der Konflikt zwischen China
und Indien hinzu. Der Himalaja war und ist eine sehr sensible Zone. In
seinen Höhen standen sich 1962 China und Indien bewaffnet gegenüber (wobei
China den Sieg davontrug), weil es Grenzstreitigkeiten gab. Von Tibet über
Nepal bis Bhutan ist die Kette des Himalajas ein Gebiet heftiger Kämpfe um
Einfluss zwischen den beiden asiatischen Giganten.

Mittels Afghanistan und den islamistischen Bewegungen, die in der ganzen
Region operieren, ist Pakistan auch in die Konflikte zwischen den
Großmächten verwickelt, bei denen es um die Zukunft der früheren
Sowjetrepubliken Mittelasiens geht -- eine Region, die zwischen dem
Kaspischen Meer und China liegt. Es geht vor allem um Tadschikistan,
Usbekistan und Turkmenistan (die alle an Afghanistan grenzen), sowie etwas
nördlicher um Kirgisien, wo die USA ihre erste Militärbase in diesem Teil
der Welt errichten konnten, die Base von Manas, die heute als Stützpunkt für
die NATO-Truppen dient, die in "Afpak" (Kunstwort aus Afghanistan und
Pakistan) operieren.

Durch diese Entwicklungen wurde Pakistan zu einem Eckstein des großen Spiels
zwischen Washington, Peking und Moskau, welches vom nordwestlichen Asien
(Korea und Japan) bis nach Südasien (die Meerengen des Indischen Ozeans),
von Mittelasien (die früheren Sowjetrepubliken) bis zum Nahen Osten (Iran)
abläuft. Diesen Eckstein kann man heute umso weniger vernachlässigen, als er
über Atomwaffen verfügt. Als strategischer Kreuzungspunkt liegt Pakistan im
Mittelpunkt zahlreicher regionaler und internationaler Spannungen.

Die Kriege in Afghanistan binden das Ganze zusammen.


VON DER INDISCHEN ZUR AFGHANISCHEN FRONT

Lange Zeit lag die "heiße Grenze" Pakistans im Osten (gegen Indien),
teilweise auch im Nordosten, weil die Grenzziehung in Kaschmir unklar war,
einem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Gebiet, über das Indien in
erheblichem Maße bei der Teilung die Kontrolle behalten konnte (doch ein
Teil befindet sich auf der pakistanischen Seite der Grenze). Indien
verweigert den Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung, und es gibt dort
eine Reihe von bewaffneten Gruppen, die mit Unterstützung aus Islamabad
operieren, eine Situation, die als Rechtfertigung für den permanenten
Kriegszustand zwischen den beiden Ländern hergenommen wird, der bisweilen zu
offenen bewaffneten Konflikten geführt hat (es gab zwischen Indien und
Pakistan seit 1947 bereits vier Kriege).

Auch wenn die wichtigsten bewaffneten Konfrontationen von Pakistan verloren
wurden, so hat der permanente Kriegszustand mit Indien dem neuen Staat doch
geholfen, seine Einheit durchzusetzen (allerdings konnte dies den Verlust
von Bangladesch nicht verhindern). Die Armee und die Sicherheitsdienste
(ISI [2]) konnten dadurch ihren Vorrang und ihre Allgegenwart rechtfertigen.
Die Bewegungen für Autonomie und Unabhängigkeit, die demokratische
Opposition und die Linke wurden im Namen des nationalen Interesses
unterdrückt und als "fünfte Kolonne" verteufelt.

Der Konflikt mit Indien hat es dem pakistanischen Staat (und besonders der
pakistanischen Armee) also ermöglicht, ihre Legitimität zu begründen. Indien
hat die nützliche Funktion eines "Erbfeindes"; die "Teilung" von 1947 hat zu
einem blutigen Bruch geführt, der seither sorgfältig gepflegt wird. Der
Konflikt zwischen den beiden Ländern wird von den führenden Klassen und
Eliten auf beiden Seiten instrumentalisiert. Man braucht sich daher nicht zu
wundern, dass alle Versuche, Friedensprozesse in Gang zu bringen, versandet
sind. Bis heute gibt es starke Spannungen zwischen den beiden Ländern, die
durch Blutbäder verstärkt werden: der Hindu-Terrorismus gegen die
muslimische (und christliche) Bevölkerung in Indien, der einheimische
islamische Terrorismus in Indien oder von Pakistan manipuliert, wie dies
2008 beim mörderischen Angriff auf ein großes Hotel in Mumbai (Bombay) durch
ein Selbstmordkommando  der Fall war.

Doch mit dem heute von der NATO geführten Krieg in Afghanistan ist die
Nordwestgrenze von Pakistan viel "heißer" geworden als die Grenze zu Indien
-- mit beträchtlichen Veränderungen. Denn der gegenwärtige Konflikt betrifft
nicht die "Erbfeinde" -- ganz im Gegenteil, in ihm stehen sich die
Verbündeten von einst gegenüber: Washington und Islamabad haben beide die
Entwicklung der islamistischen Bewegungen begünstigt, um das laizistische
Regime der Volkspartei in Kabul und nach dem Einmarsch 1979 die Truppen der
Sowjetunion zu bekämpfen. Im Gefolge des mörderischen Attentats vom
11. September 2001 gegen die Twin Towers von Manhattan und das Pentagon
konnte die Regierung der USA leicht aus früheren Freunden Feinde machen. Für
die pakistanischen Führer war dies nicht so einfach.

Angesichts der Bevölkerungsgröße und der geografischen Ausdehnung von Indien
kann allein Afghanistan im Kriegsfall Pakistan eine "strategische Tiefe"
verschaffen, die es bräuchte, um die Truppen neu aufzustellen und zu
reorganisieren. Dazu braucht es in Kabul ein Regime, das dem in Islamabad
gewogen ist: dies waren die Taliban. Der sunnitische Fundamentalismus diente
als ideologischer Zement für diese strategische Allianz, was dadurch
erleichtert wurde, dass die paschtunischen Stämme auf beiden Seiten der (nur
theoretisch bestehenden) internationalen Grenze leben.

Aus der afghanischen Frage wurde dadurch eine inner-pakistanische Frage. Die
Lage in den beiden Ländern ist inzwischen so ineinander verwoben, dass man
in den diplomatischen Kreisen bereits von "Afpak" spricht. Und Washington
betrachtet die beiden Länder inzwischen als eine Operationsbühne.

Der Konflikt mit Indien schließt den pakistanischen Staat zusammen, der
Konflikt in und mit Afghanistan bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Durch die
Intervention der NATO wurde aus der afghanischen Krise eine pakistanische
Krise. Das zeigte sich 2009 im Swat-Tal, einer Hochburg der Taliban im
Nordwesten. Inzwischen ist sie im Pandschab angekommen und destabilisiert
das Land (und nährt gleichzeitig einen massiven Waffenhandel).

Pakistan krankt inzwischen an Afghanistan. Doch die Krise, die das Regime
unterminiert, hat auch andere Wurzeln.


EINE NEUE GEOPOLITISCHE INSTABILITÄT

Die Zeit des Kalten Krieges, als die internationalen Bündnisse stabil und
die Welt in zwei Lager aufgeteilt war, und gemäß dem Motto "der Feind meines
Feindes ist mein Freund" gehandelt wurde, ist längst zu Ende gegangen.
Damals konnte Pakistan gleichzeitig auf die Hilfe von Washington und Peking
bauen; und damals verfügte Islamabad über erheblichen Erpressungsspielraum
gegenüber den Westmächten.

Seit den 1990er Jahren und der Implosion der UdSSR sind die strategischen
Bündnisse in Südasien viel flüssiger geworden. Die Annäherung zwischen
Washington und Neu-Delhi ist spektakulär, weil auch ein Abkommen über
Atomwaffen erzielt und der Beitritt Indiens zur neoliberalen Weltordnung
vereinbart wurde. Vor den Parlamentswahlen von 2009 brauchte die indische
Regierung der Kongresspartei die Unterstützung des auf Bundesebene von der
indischen Kommunistischen Partei-Marxisten (PCI-M) geführten Blocks als
Mehrheitsbeschaffer, was der Linken gewisse Druckmöglichkeiten verschaffte.
Nach der Wahlniederlage der KPI gilt dies nicht mehr. Nun hat Neu-Delhi
freiere Hand für eine Annäherung an die USA.

Die pakistanische Militärführung versucht, die östliche Front (Indien)
zugunsten der Westfront (Afghanistan) abzubauen. Aber die Taliban und andere
fundamentalistische Strömungen verfügen nach wie vor über erheblichen
Rückhalt in den Geheimdiensten. Denn die pakistanische Armee hat in der
Afghanistanfrage immer ein doppeltes Spiel gespielt: Offiziell war sie gegen
den "islamischen Terrorismus" auf Seiten der NATO, hielt aber dennoch enge
Beziehungen zu den Taliban und den anderen religiösen "extremistischen"
Strömungen aufrecht.

Aber von Seiten der USA betrachtet kann sich Islamabad  nicht mehr alles
erlauben: Nun ist es Washington, das auf Islamabad zunehmend Druck ausüben
kann, was eine Fortsetzung der Politik des doppelten Spiels immer
schwieriger macht. Während also die Intervention der USA in Afghanistan
Pakistan destabilisiert und den "Antiamerikanismus" verstärkt, fordert
Washington von Pakistan ein deutlicheres Engagement gegen die Taliban. Für
ihr Geld möchte die Regierung der USA Taten sehen, denn Islamabad erhält
Manna in Form von Dollars für sein Engagement an der Front, und dieses Geld
wiederum möchte die Armee nicht verlieren. So war die Offensive der
pakistanischen Armee gegen die Taliban im Swat-Tal so groß wie keine vorher
-- es war alles andere als eine kosmetische Operation!

Doch die Affäre um Bin Laden hat einmal mehr bestätigt, dass das alles die
pakistanischen Sicherheitsdienste nicht davon abhalten konnte, ihr doppeltes
Spiel fortzusetzen und sich das Huhn, das goldene Eier legt, warm zu halten
(den Chef von Al-Qaida, dessen Suche die Geldmittel der USA fließen ließ).
Denn Abbottabad, eine Stadt in der Nähe von Islamabad, beherbergt die
wichtigste Militärakademie des Landes! Aber die Ausdehnung des Krieges über
das Swat-Tal hinaus bedrohte gleichzeitig das innere und das äußere
Gleichgewicht.

Ab 2009 trat Pakistan in eine Phase wachsender Instabilität ein, und zwar
sowohl wegen des regionalen Kontextes als auch der Rückwirkungen des
Afghanistankrieges auf das Land.


ZWISCHEN ARMEE UND TALIBAN

Der Krieg im Swat hat illustriert, bis zu welchem Punkt die Bevölkerung
zwischen dem Ambos der Fundamentalisten und dem Hammer der Militärs
eingeklemmt war. Sie wurde von den Taliban einer theokratischen Diktatur
unterworfen. Die Armee hat den Einwohnern befohlen, ihre Dörfer zu
verlassen, um nicht Opfer der Kampfeshandlungen zu werden, bevor sie ihre
Offensive startete. Doch die Flüchtlinge irrten auf den Straßen herum oder
wurden bei unerträglicher Hitze (sie sind an die Kälte der Höhen gewöhnt) in
Zeltsiedlungen abgeschoben, die oft ohne Trinkwasser, ohne sanitäre
Einrichtungen und Verpflegung und ohne Bewachung waren. Insgesamt waren im
ganzen Land wohl etwa 2,5 Mio. Menschen auf der Flucht, was zu einer
riesigen humanitären Katastrophe führte.

Die gleiche Untätigkeit und Unfähigkeit zeigte sich in der neuen humanitären
Krise, von der über 20 Mio. Menschen direkt betroffen waren, als es 2010 zu
außergewöhnlich großen Überschwemmungen kam.

Dass eine "bürgerliche" Armee eine solche Verachtung der Bevölkerung an den
Tag legt, die sie eigentlich beschützen soll, kommt leider immer wieder vor.
Doch in Pakistan geschah Schlimmeres. Seit der Gründung des Staates waren
die Militärs über die meiste Zeit an der Macht. Das Offizierskorps
profitierte davon und breitete sich dadurch in die Gesellschaft aus, als es
sich Ländereien und Unternehmen unter den Nagel riss. Es dient nicht nur den
herrschenden Klassen, es ist zu einem Teil dieser Klassen geworden. Es
reproduziert die traditionelle Arroganz und die Verweigerung von Demokratie
der Großgrundbesitzer und der oberen Kasten in einer Gesellschaft, die zu
denen mit der größten Ungleichheit weltweit gehört.

Die pakistanische Armee bietet eine wirkliche Karikatur einer militärischen
Einrichtung, doch dasselbe gilt auch für die Taliban als fundamentalistische
Bewegung.

Es gibt Unterschiede je nach Region, aber insgesamt stellt Pakistan kein
Land dar, das "natürlich" von den "Bärtigen" bevölkert ist und wo die Frauen
unsichtbar wären. Die Männer tragen häufig nur einen stolzen Schnurrbart.
Und wenn man die Frauen sich entscheiden lässt -- eine von ihnen, nämlich
Benazir Bhutto wurde immerhin Staatspräsidentin, bevor man sie dann
ermordete --, dann tragen sie keinen Schleier oder höchstens ein leichtes
Kopftuch, das die Haare, die Ohren, den Hals nicht verbirgt. Diejenigen
unter ihnen, die Landarbeit verrichten (müssen), tragen ein dickeres
Kopftuch als Schutz gegen Sonne und Regen. Die Durchsetzung von rigiden
Verhaltensnormen hat nichts mit einem "muslimischen Menschsein" zu tun; es
geht hier um gesellschaftliche Gewalt. In der Religion (nicht nur im Islam!)
dienen Verbote dazu, hierarchische, gesellschaftliche und patriarchale
Strukturen abzusichern -- und die Fundamentalisten treiben diesen Tatbestand
nur auf die Spitze.

Es genügt nicht, ein Glaubensetikett aufzukleben ("muslimisch",
"christlich"), um eine Bewegung zu definieren. Eine sich auf die Religion
berufende Strömung, wie man es heute vorsichtig formuliert, kann sehr links
sein (dies galt für die Befreiungstheologie in Lateinamerika, oder die
Theologie des Kampfes auf den Philippinen), oder aber rechtsradikal (man
nehme die Getreuen von George W. Bush in den USA). Man muss daher die
politische Funktion von religiösen Bewegungen verstehen, sonst kann man sich
bei Begriffen wie "gläubig" oder "religiöse Bezüge" gefährlich irren.

Dank der Untätigkeit des Regimes konnten sie eine gewisse gesellschaftliche
Unterstützung bekommen -- und dies umso mehr, als sie den Männern eine
absolute Kontrolle über die Frauen garantieren. Die wegen des Swat-Krieges
geflohenen Menschen prangerten im Allgemeinen den Terror der Taliban an
(ohne notwendigerweise die Armee zu unterstützen), doch einige billigten die
Rückkehr zur Scharia, um endlich einige lange schwelende Konflikte regeln zu
können. Denn die pakistanische Justiz kümmert sich einen Dreck um diese
Sachen (Erbrecht, Auseinandersetzungen um Ländereien usw.), sofern nur
einfach Leute betroffen sind -- und andernfalls entscheidet sie zugunsten
der Besitzenden, der Einflussreichen, der Korrupten.

Heute bekämpfen die Taliban die USA. Sind sie deswegen fortschrittliche
Antiimperialisten? Sie haben ihren Charakter seit der Zeit, als sie ein
enger Verbündeter des pakistanischen Staates, der selbst mit den USA liiert
war und ist, waren, überhaupt nicht geändert. Sie sind und bleiben
Reaktionäre. Bündnisse werden geschlossen und gekündigt, doch von Pakistan
aus gesehen haben die Taliban nicht einen Hauch von Fortschritt; dies galt
seit jeher und gilt weiter. Sie setzen eine totalitäre und obskurantistische
Macht durch, die sich in die neoliberale Weltordnung einfügt, obwohl sie die
Vergangenheit ideologisch verklärt.

Die Feinde unserer Feinde sind nicht notwendig unsere Freunde. Aus der Sicht
der Volksklassen gibt es in den Konflikten nicht immer nur zwei Seiten, ein
"fortschrittliches" und ein "reaktionäres" Lager. Es können auch drei Seiten
sein und sind es häufig, wenn sie z. B. zwei reaktionäre Lager bekämpfen.
Wie man in solchen Fällen interveniert, ist eine Frage des
Kräfteverhältnisses, das in Pakistan leider sehr ungünstig ist. Doch
deswegen darf man sich nicht hinter die Armee stellen noch die Taliban
unterstützen, wenn die Linkskräfte die Hoffnung haben wollen, das
Kräfteverhältnis zu verbessern.


DIE ISLAMISTISCHE BÜCHSE DER PANDORA

Die radikal-fundamentalistischen Bewegungen sind nicht nur eine Schöpfung
der "afghanischen Kriege", wiewohl die von Pakistan und den USA empfangene
Hilfe gegen Moskau sehr bedeutsam war. Die Entwicklung der Taliban in
Pakistan selbst wurde - vor allem in den 1970er und 1980er Jahren -- durch
den Generalstab und die wichtigsten Parteien begünstigt, die dadurch eine
wirkliche Büchse der Pandora geöffnet haben.

Der pakistanische Staat entstand als muslimischer, aber nicht islamischer
Staat. Zu behaupten, es gäbe im britischen Reich der Indien zwei Nationen
auf religiöser Grundlage, um damit die Teilung zu rechtfertigen, setzte
sicherlich eine Dynamik der "Säuberung" in Gang. Doch der Bezug auf den
Islam konnte kulturell zu verstehen sein -- die behauptete Identität war die
einer Kultur und nicht einer besonderen Religion -- oder gar eine
sektiererische Interpretation einer Religion. Am Anfang waren die großen
Parteien laizistische Parteien. Die Gesetze hatten ihren Ursprung im
britischen Recht -- oder es wurde das Gewohnheitsrecht anerkannt. Die
unvollendete Islamisierung des pakistanischen Staates wurde von oben
durchgesetzt. Der Umschlag ereignete sich zu Ende der 1970er Jahre unter der
Militärdiktatur von General Zia-ul-Haq.

Die vorherrschenden Klassen und Eliten, die Armee und die klientelistischen
Parteien, haben mehrere Jahrzehnte lang jede auf ihre Art mit der Karte der
Islamisierung des pakistanischen Staates und seiner Gesetze gespielt. In der
ersten Zeit hat dies zu sehr scharfen Konflikten zwischen der sunnitischen
und der schiitischen Glaubensrichtung geführt (in einigen Jahren gab es
Hunderte von Toten). Tatsächlich stehen sich in den religiösen Konflikten
verschiedene Strömungen des Islam gegenüber, auch wenn es häufig nicht
günstig ist, einer religiösen Minderheit (Hinduismus, Christentum)
anzugehören, zu der sich etwa drei Prozent der Bevölkerung bekennen, ohne
die Ahmadiyya-Anhänger zu vergessen, die in Pakistan nicht als Muslime
anerkannt werden -- weil diese Minderheiten den Fundamentalisten häufig als
Sündenböcke dienen.

In einem zweiten Zeitraum vermochten die Taliban -- auf dem Hintergrund der
Ereignisse in Afghanistan -- in Pakistan selbst aufzusteigen (bis heute ist
es ihnen gelungen, sich nicht nur in den Gebieten der Paschtunen, sondern
auch im Pandschab festzusetzen). Sie haben die guten Beziehungen zum
Staatsapparat und die verbreitete Ablehnung der USA ausgenützt. Zeitweilig
konnten sie sich auch einer gewissen Unterstützung oder zumindest
wohlwollenden Toleranz der "öffentlichen Meinung" versichern (also der
Medien und der Mittelklassen). Doch ihre Aura als Kämpfer oder Opfer ist
wegen ihrer extremen Brutalität verblasst: Sie haben Läden angezündet, weil
dort Musik verkauft wurde, sie haben Mädchenschulen zerstört, sie haben --
sogar auf einem Campus im Pandschab -- Studentinnen Säure ins Gesicht
geschüttet, weil sie keinen Schleier trugen, sie haben in kurzen Prozessen
Leute abgeurteilt und die Hinrichtungen auch noch gefilmt und ins Netz
gestellt, sie haben GegnerInnen erwürgt und sogar in der Hauptstadt blutige
Entführungen und Attentate vorgenommen.

Im Februar 2009 versuchte die Regierung mit einem Flügel der Taliban zu
einem Kompromiss zu kommen; sie hat dabei im Namen eines angeblichen
Gewohnheitsrechtes im Swat-Tal den Einsatz der Scharia gebilligt -- oder
vielmehr eine reaktionäre Konzeption von "islamischer Justiz". [3] Dann kam
es zu einer raschen Folge von Ereignissen, die auf die pakistanische
Öffentlichkeit einen massiven Einfluss hatten. Wie viele Kommentatoren es
vorausgesagt hatten, erwies sich das Abkommen als Luftbuchung: Es kam nicht
zur Feuereinstellung, sondern die Taliban drängten in die Nachbarprovinzen
und ihre militärischen Einheiten drangen bis auf 100 km in Richtung
Hauptstadt vor.

Im Übrigen ermöglichte die Verbreitung eines insgeheim gefilmten Videos im
Internet eine Klarstellung, was der Einsatz der Scharia bedeutet. Es zeigte
eine junge Frau, die wegen "schlechten Benehmens" ausgepeitscht wurde. Ein
religiöses Oberhaupt des Swat-Tals goss noch Öl ins Feuer, als er erklärte,
eigentlich hätte das Opfer gesteinigt werden müssen. Das hat zu einer
starken Emotionalisierung im Land und zu zahlreichen Frauendemonstrationen
geführt.

Als dann im Swat-Tal unter solchen Bedingungen Militäroperationen
durchgeführt wurden, konnten sich Regierung und Arme einer viel größeren
Unterstützung von Seiten der Oppositionsparteien, der Medien, von
intellektuellen Milieus, von NROs und fortschrittlichen Organisationen und
auch der "öffentlichen Meinung" in einem breiteren Sinn erfreuen, als das im
Allgemeinen vorher der Fall gewesen war.


DER TEUFELSKREIS DES RELIGIÖSEN SEKTIERERTUMS

Im Hinblick auf das religiöse Sektierertum verschlimmert sich die Lage
zusehends. Im Gegensatz zu den weit verbreiteten Klischees sind es nicht die
am wenigsten gebildeten Klassen, die die Agenten der Intoleranz und des
religiösen Obskurantismus sind, auch wenn viele arme Familien ihre Kinder in
Koranschulen geben (den Madrassen), weil es keine öffentlichen Schulen gibt.
Die gebildeten "Mittelklassen" können äußerst konservativ sein (das kann man
gegenwärtig auch in Thailand beobachten). Davon zeugt auch die seit einiger
Zeit erfolgende Verbreitung des Ganzkörperschleiers (obwohl man/frau damit
keine Feldarbeit verrichten kann).

Wenn sie einmal losgetreten ist, dann kennt der Teufelskreis der religiösen
Intoleranz keine Grenzen. Ein Gesetz von 1986 sieht für Blasphemie die
Todesstrafe vor -- daraus wurde ein Schulbeispiel. Wer nämlich dieses Gesetz
kritisiert, begeht in den Augen der religiösen Tugendwächter -- Blasphemie.
So wurde am 4. Januar 2011 Salman Taseer, der mächtige Gouverneur der
Provinz Pandschab und Mitglied der laizistischen Regierungspartei PPP [4]
ermordet, weil er sich mutig für die Verteidigung einer christlichen
Dorfbewohnerin namens Asia Bibi eingesetzt hatte, die wegen Blasphemie zum
Tode durch den Strang verurteilt worden war.

Der Gouverneur wurde von einem seiner Leibwächter unter den Augen der
anderen, die nicht eingegriffen haben, umgebracht. Der religiöse
Radikalismus ist in den gesamten Staatsapparat eingedrungen. Was noch
wichtiger ist, der Mörder ist ein Sufi, und der Sufismus wird als eine
tolerante und spirituelle Richtung des Islam angesehen. Die Anwälte gehören
auch dieser Richtung an und sie argumentieren, man könne sie nicht des
Extremismus anklagen, denn Sufis seien /per definitionem/ tolerant. Im
Übrigen sagen sie, ihr Klient sei nicht schuldig, denn nicht er habe Salman
Taseer getötet, sondern Allah. Müssen also die Richter Allah verurteilen?

Dass die Sufi-Gemeinschaft unter anderen öffentlich den Mörder lobt und aus
ihm einen Helden des Islam macht, sagt einiges über die Zersetzung der
pakistanischen Gesellschaft aus. Nur vier Monate nach Salman Taseer wurde
Shahbaz Bhatti ermordet, der einzige Christ im Kabinett und Minister für
Minderheiten.

Die Hälfte der wegen Blasphemie verurteilten Menschen gehört der kleinen
christlichen Minderheit an. Doch das Übel frisst sich in alle Milieus und
gibt die Möglichkeit, alte Rechnungen zu begleichen. So wurde ein Arzt ins
Gefängnis geschickt, weil er die Visitenkarte eines Pharmareferenten in den
Papierkorb geworfen hatte - und der hieß Mohammed. Oder ein junger Schiit,
dessen Motorrad bei einem Unfall an ein Mohammed geweihtes Denkmal stieß. Er
besaß den doppelten Nachteil, ein Schiit und ein Fischer zu sein, der sich
mit einem Nachbarklan um die Fischereirechte in einem See stritt. Noch
während er sich im Gefängnis befand, wurde er auf brutale Weise ermordet.

Über tausend Menschen wurden wegen Blasphemie angeklagt -- eine
Anschuldigung, die einen gesellschaftlichen Ausschluss und eine Flucht in
den Untergrund nach sich zieht, selbst wenn es gar nicht zu einer
gerichtlichen Verurteilung kommt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der
nächste religiös begründete Mord geschieht, an einer Persönlichkeit, die
sich diesem Terrorgesetz entgegenstellt: die Abgeordnete Sherry Rehman --
die der Innenminister angeblich nicht schützen kann.


ZWISCHEN MILITÄRDIKTATUREN UND KORRUPTER DEMOKRATIE

In Pakistan gibt es keinen Staat, der über eine demokratische Legitimation
verfügte. Die meiste Zeit herrschten Militärdiktaturen im Land, zwischen
denen kurze parlamentarische Zwischenspiele stattfanden. "Parlamentarisch"
bedeutet keineswegs "demokratisch" -- der Unterschied ist bedeutungsvoll.
Die Zivilregierungen wurden von klientelistischen, korrupten und der
Geschäftswelt verpflichteten Parteien gestellt. Den Militärs wurde es leicht
gemacht, den Parlamentarismus zugunsten von bestimmten Privatinteressen als
Politik zugunsten der "politischen Klans", die "die 22 großen Familien"
vertreten, die das Land beherrschen, anzuprangern. Und die Parteien hatten
leichtes Spiel, die Militärs als unfähig hinzustellen, auf Dauer den Staat
zu lenken. Durch seine Untätigkeit hat der Generalstab es erreicht, dass
Militärregime abgelehnt werden. Durch ihre Raffsucht haben es die "großen
Familien" erreicht, dass die parlamentarischen Regime abgelehnt werden.
Beide haben die Korruption immer weiter ausgedehnt. Daraus ergab sich der
Wechsel zwischen einer direkten Machtausübung durch die Armee und dem
"direkten Zugriff" der Zivilen mittels Parlament -- ein Wechsel, der beide
Seiten gegenseitig schwächte; danach befand sich das Land schließlich in
einer tiefen Legitimitätskrise.

Das Bündnis von Islamabad mit Washington hat diesen Zustand nur
verschlimmert. Von Pakistan aus gesehen verfügen auch die USA über keine
demokratische Legitimität. Sie haben die schlimmsten Diktaturen unterstützt
und die übelste Korruption gedeckt. Sie haben Afghanistan in einen endlosen
Krieg gestürzt. Sie entschuldigen sich auch nicht für die häufigen
militärischen "Fehlleistungen" oder "Kollateralschäden", die in der
Zivilbevölkerung, die in der Nähe der afghanischen Grenze lebt,  zu einer
immer höheren Zahl von Opfern geführt haben. Bush hat das Feuer des "Kampfes
der Kulturen" angefacht, indem er /urbi et orbi/ verkündet hat, sein
christlicher Gott sei für die Entsendung von US-amerikanischen Truppen in
muslimische Länder -- und dies geschah dann auch noch auf dem Hintergrund
von Lügengebäuden wie im Irak. Trotz seines vorsichtigeren Stils hat Barak
Obama Afpak zu einem wichtigen Thema seiner Präsidentschaft gemacht, und er
schaut mit Argusaugen auf die pakistanische Politik. Er ordnete die
flagranteste Verletzung der pakistanischen Souveränität an, indem er
Kommandos losschickte, um Osama Bin Laden umzubringen.

Die massive Finanzhilfe, die die USA Pakistan nach dem 11. September 2001
haben zukommen lassen, hat die Lage der PakistanerInnen nicht verbessert. Im
Gegenteil, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) durchgesetzte
neoliberale Wirtschaftspolitik hat dazu beigetragen, die gesellschaftliche
Krise zu verschärfen.


EINE FRAGMENTIERTE STAATSMACHT

Pakistan scheint ein Land zu sein, das von einer Armee strukturiert wird,
die in der Gesellschaft kampiert und den Staat kontrolliert. Doch hinter
dieser Fassade verbirgt sich eine weitgehend fragmentierte Staatsmacht.

Wegen ihrer Allgegenwart und ihrer zentralen Rolle in der Politik hätte die
Armee jenseits der regionalen Unterschiede ein Mittel der Integration und
der Zusammenführung von Eliten sein können. Solches hat sich nicht ereignet.
Das Offizierskorps wird von Pandschabis kontrolliert und bleibt es auch
weiterhin. Die pakistanische Volkspartei (PPP), die zu einer bestimmten Zeit
die Hoffnungen der fortschrittlichen Kräfte auf sich zog und der es gelang,
im ganzen Land solidarische Strukturen aufzubauen, wurde vom Bhutto-Klan
privatisiert (der aus dem Sindh stammt, aber über beträchtlichen Einfluss
auch im Pandschab verfügt). Inzwischen ist sie eine Klientelpartei unter
anderen. Islamismus und Fundamentalismus haben die Bevölkerung nicht nur
nicht zusammengeführt, sondern die Konflikte verschärft. Die
Sonderinteressen der Herrschenden haben sich überall durchgesetzt, und das
bisweilen sogar zum Schaden der kollektiven Interessen der führenden Klassen
und der Eliten -- ein Kollektivinteresse der Besitzenden, das keine
politische Kraft je vertreten hat, nachdem der Elan der Gründerzeit von
Pakistan einmal verpufft war.

Die Privatisierung der Staatsmacht hat zu einer Fragmentierung zwischen den
großen Familien, den Fraktionen des Militärs und den kommunitären Strukturen
geführt. Auf der Grundlage des Kräfteverhältnisses und der "Gebräuche" fällt
die Anwendung der Gesetze je nach Ort durchaus unterschiedlich aus -- und
keineswegs immer so, wie es die "Herren" vor Ort möchten. In der Politik
braucht man große Geldmittel, um ein Mandat zu bekommen, und solch ein
"business" muss sich rentieren. Die Korruption ist daher in den Augen der
Besitzenden das (legitime) Mittel, diese Rentabilität zu sichern. Die
Allianzen ändern sich je nach den Interessen jedes Klans oder jedes
Stammesrates. Alle bedienen sie ihre Klientel.

Die Konflikte laufen gleichzeitig auf mehreren Ebenen ab: Sektenkriege
zwischen Anhängern muslimischer Strömungen, Gewaltakte zwischen
verschiedenen Gemeinschaften (Muhadschirin gegen Sindhis, Sindhis gegen
Pandschabis, Muslime gegen Christen usw.), Morde zwischen verschiedenen
rivalisierenden politischen Klans, Blutrache zwischen Stämmen, die Armee
gegen BürgerInnen, Besitzende gegen Ausgebeutete, patriarchale Herrscher
gegen Frauen usw. Hinter einem scheinbar einfachen Konflikt auf politischer
oder religiöser Grundlage verstecken sich häufig viel tiefere und
komplexere. So geben die Taliban z. B. vor, sich am weltweiten Dschihad zu
beteiligen, doch die betroffenen paschtunischen Stämme im Nordwesten
Pakistans sind in sehr lokale Machtkämpfe verwickelt, was zu sich rasch
ändernden Allianzen zwischen Klans führt.

Ein Konflikt kann "strukturierend" sein und stabile politische
Kräftekoalitionen und auf Dauer ausgerichtete politische Projekte
hervorbringen. Dies gilt für das heutige Pakistan nicht. Tatsächlich ist es
der pakistanische Staat insgesamt, bei dem das Risiko besteht, dass er
morgen auseinander zu fallen beginnt. Wir möchten daran erinnern, dass es
sich hier um einen Staat handelt, der über Atomwaffen verfügt!


NEUE GEOSTRATEGISCHE GEGEBENHEITEN?

Die "Operation Geronimo" hat in Pakistan zu einem politischen Sturm und
einem ersten mörderischen Attentat geführt. Doch bis heute gab es wenige
Mobilisierungen der Bevölkerung (die Empörung ist weniger lebhaft als nach
der Freilassung von David Ramond, einem CIA-Agenten, der mitten am Tag in
Lahore zwei Pakistanis niedergeschossen hatte). Die Regierung wird
gleichzeitig angeklagt, zugelassen zu haben, dass die USA die Souveränität
des Landes verletzten, und Bin Laden beschützt zu haben, oder aber nicht zu
wissen, was die Geheimdienste so alles tun. Die politische Krise ist tief,
doch scheint es mir schwierig zu sein, ihren Ausgang vorhersagen zu wollen.
Mehr denn je ist Pakistan ein Schlüssel im geopolitischen Spiel, an dem
zahlreiche Akteure teilnehmen.

Die USA brauchen eine politische Lösung für den Afghanistankrieg -- also ein
Abkommen mit Teilen der Taliban, das man schwerlich durchsetzen kann, wenn
die pakistanischen Geheimdienste (die heute im Hinblick auf solche
Verhandlungen noch Mullah Omar beschützen) nicht mit im Boot sind. Doch ist
die Definition des "guten Talibans" nicht notwendiger Weise die gleiche. Für
Islamabad muss ein guter Taliban ausschließlich in Afghanistan kämpfen und
nicht gegen den pakistanischen Staat -- aber das dringendste Problem für
Washington betrifft genau jene Gruppen, die es auf die NATO-Streitkräfte
abgesehen haben.

Islamabad möchte in keinem Fall in Kabul eine Regierung akzeptieren, die
gute Beziehungen zu Neu-Delhi unterhält -- doch Indien hat seine Aktivitäten
in Afghanistan von Jahr zu Jahr verstärkt. Dies hat die gegenwärtige Krise
beschleunigt, denn die pakistanischen Regierungsbehörden hatten wohl das
Gefühl, dass hinter ihrem Rücken Verhandlungen über Afghanistan stattfanden,
um zu einem Abkommen zu kommen, bei dem sie keine Rolle spielten.

Schließlich hat Peking eigene Karten und unterstützte in der Affäre um Bin
Laden Islamabad bedingungslos. In Pakistan gibt es bereits Kräfte, die zu
einer Veränderung bei den Bündnissen aufrufen, um die Möglichkeit der
Erpressung gegen Washington wiedergewinnen zu können: Wenn man drohte, sich
ausschließlich auf China zu stützen, hätte das seine Wirkung, weil das
Gewicht des Freundes in Asien beständig zunimmt; dann könnte man die
imperialistische Arroganz der USA anprangern.

Sicherlich möchte die Regierung der PPP nicht mit Washington brechen, denn
ohne dessen Hilfe würde sie stürzen; auch die Regierung Obama möchte die
Lage nicht weiter anheizen. Doch sie sind nicht die einzigen Spieler am
Tisch.

In diesem Schachspiel (oder Go oder Poker), das um das
afghanisch-pakistanische Operationsfeld geführt wird, sind die betroffenen
Bevölkerungen die großen Abwesenden. Doch sie kämpfen auch ...

Solche Kämpfe gab es auf Seiten der Ziegeleiarbeiter, die im Hinterland
sklavenähnlichen Bedingungen unterworfen sind, oder bei den Textilarbeitern
im Wirtschaftszentrum Faisalabad. Es sind die Bauern des Pandschabs oder die
Fischer des Sindh, die gegen die militärischen Einrichtungen kämpfen. Es
sind die Frauen, die tagtäglich Widerstand gegen eine uralte patriarchale
Unterdrückung leisten -- oder aber auch gegen den mächtigen Aufstieg des
religiösen Fundamentalismus. Es sind die fortschrittlichen Kräfte aller
Richtungen, die versuchen, die demokratischen und die Menschenrechte zu
verteidigen.

Diese Kämpfe des einfachen Volkes kommen in den Schlagzeilen der
internationalen Medien nur selten vor. Das macht sie nicht weniger wichtig.
Nachdem wir den "Kriegsschauplatz Pakistan" behandelt haben, müssten wir sie
in einem Artikel mit dem Titel "Kampfschauplatz Pakistan" ehren.


Pierre Rousset ist Mitglied des Exekutivbüros der IV. Internationale und der
Neuen Antikapitalistischen Partei Frankreichs (NPA). Er arbeitet im Netzwerk
Europe solidaire sans frontières (Solidarisches Europa ohne Grenzen, ESSF)
mit, dessen Website eine wahre Fundgrube für die internationale Aktualität
ist. (www.europe-solidaire.org)
Übersetzung: Paul B. Kleiser



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Aus:   Inprekorr Nr. 4/2011    (Internationale Pressekorrespondenz)
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[1]  Der Apachenkrieger Geronimo wurde am 16. Juni 1829 geboren und starb am
17. Februar 1909 im Gefängnis. Bei seiner Geburt wurde er Go Khla Yeh (der
Gähnende) genannt; er kämpfte in Mexiko und den USA. Das Weiße Haus hat
diesen Namen Geronimo an Osama Bin Laden vergeben, eine bezeichnende
Namengebung, aus der eine tiefe Verachtung einer der wichtigsten Gestalten
des indianischen Widerstandes gegen die europäische Landnahme Nordamerikas
spricht. Sie zeigt aber auch eine sowohl unfreiwillige wie unverdiente
Ehrung für Bin Laden.
[2]  Inter-Services Intelligence, die wichtigste und mächtigste der drei
pakistanischen Geheimdienstorganisationen. Sie hängt eigentlich von der
Regierung ab, stellt aber einen Staat im Staate dar.
[3]  Dieser Punkt ist mir wichtig. Der Begriff "Scharia" ist sehr vage und
für viele Interpretationen offen. Für viele Muslime handelt es sich um ein
spirituelles Konzept, eine Richtschnur für den persönlichen Weg, und nicht
um einen rigiden juristischen Codex. Es hat verschiedene Einflüsse bei der
Ausarbeitung der Rechtsprechung gegeben, je nach Land und Rechtsschule. Das
muslimische Recht ist veränderlich und kein unbewegliches, "heiliges" Recht.
Was man häufig als Anwendung der Scharia ansieht, stellt tatsächlich eine
äußerst reaktionäre Interpretation des muslimischen Rechtes dar.
[4]  Pakistanische Volkspartei.



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