[IPK] Spanischer Staat: "Nichts wird mehr sein wie vorher"

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Mo Jul 4 01:09:41 CEST 2011


Spanischer Staat:
"Nichts wird mehr sein wie vorher"
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Interview mit Miguel Romero



?? Wie ist es zu diesen riesigen Mobilisierungen gekommen, die den
Spanischen Staat erschüttern?

Zum besseren Verständnis muss man bis zum Generalstreik vom 29. September
2010 gegen die geplante Rentenreform zurückgehen. Im Gegensatz zu früheren
Jahren war dieser Streik ein Erfolg. Ungefähr ein Viertel der Bevölkerung
hat sich daran beteiligt. In den letzten Jahren ist die Anzahl der Streiks
im Spanischen Staat richtiggehend eingebrochen. Gewerkschaften und
Unternehmerschaft verhandeln ständig über Löhne und über alle anderen
Fragen. Der Streik war das Zeichen für eine erstarkende soziale
Mobilisierung. 

In den Medien wurde sofort eine Gegenoffensive gestartet und die Bewegung
als ein Fehlschlag bezeichnet. Davon ließen sich die Gewerkschaftsführungen
stark beeindrucken, trotzdem war die Mobilisierung beispiellos. Es ist nicht
sicher, ob ein erneuter Streikaufruf abermals befolgt worden wäre, er wäre
jedoch der Beweis für Entschlossenheit und Mut gewesen: "Die Pläne der
Regierung lehnen wir immer noch ab." Stattdessen haben die Gewerkschaften
mit der Regierung verhandelt und die geringfügig veränderte Rentenreform
akzeptiert.

Die Folgen für die Lohnabhängigen wiegen sehr schwer: Die heute 40- bis
45-Jährigen erhalten bei ihrer Pensionierung eine um 20 % niedrigere Rente
als bisher. In der Arbeiterbewegung hat dieses Abkommen zu Frust und zu
Passivität geführt. Bei den Jüngeren hingegen, die gestreikt hatten,
Streikposten gestanden waren usw., hat das Abkommen Wut ausgelöst. Die
Meinung war weit verbreitet, wonach von den Mehrheitsgewerkschaften nichts
zu erwarten sei. Minderheitsgewerkschaften wie die CGT ihrerseits haben
wenig Gewicht. Sie wären stark genug, um zu einem Bezugspunkt zu werden,
aber ihre sektiererische Linie hindert sie daran. Beim Generalstreik haben
sie sich mit einer Erklärung begnügt. Die Voraussetzungen waren also
gegeben, dass eine Initiative aus der Jugend heraus entstand. 


?? Welche Teile der Jugend stehen am Anfang der Bewegung?

Zu Beginn dieses Jahres war eine gewisse Spannung an den Universitäten
spürbar. Doch wir von der Antikapitalistischen Linken waren eher
pessimistisch. Wir konnten keine Perspektiven ausmachen: Die soziale
Sackgasse dauerte an. Im März dieses Jahres führte in Portugal ein
Internet-Aufruf "Junge prekär Angestellte" zu einer Demonstration von
250 000 Teilnehmenden in Lissabon. Der politische Inhalt war eher mager:
"Wir werden gedemütigt", "Wir sind die am besten ausgebildete Generation,
sind jedoch erwerbslos oder haben lediglich prekäre Jobs". Aber die Anzahl
der Demonstrierenden war beeindruckend. 

Dieses Beispiel wirkte unmittelbar auf die Universitäten, vor allem in
Madrid. Beinahe 20 % der Bevölkerung sind erwerbslos, das sind
4,9 Millionen. Bei den unter 25-Jährigen sind sogar 40,5 % erwerbslos. Die
meisten Jungen zwischen 20 und 30 überleben mit kleinen Jobs und 600 EUR pro
Monat. Sie können sich also kein von der Familie unabhängiges Leben leisten.


Etwa hundert Studierende haben die Gruppe "Jovenes sin futuro" gegründet
("Jugendliche ohne Zukunft"). Die Plattform verstand sich als Initiative der
Jugend: "Sin curro, sin casa, sin pensión, sin miedo" ("Ohne Job, ohne
Wohnung, ohne Lebensunterhalt, ohne Angst"). Die wichtigste Losung bei
dieser Aufzählung ist "sin miedo" ("ohne Angst"). Ich habe damals mit diesen
Jugendlichen für /Viento Sur/ ein Interview gemacht. Es sind intelligente
und bescheidene Menschen. Auf ihrer Plattform haben sie für den 7. April zu
einer Demo aufgerufen. Es wurden einige Hundert erwartet, es kamen zwischen
4000 und 5000. 

Nach diesem Erfolg haben die OrganisatorInnen für den 15. Mai erneut zu
einer Demo aufgerufen. In der Zwischenzeit war eine andere Gruppe
aufgetaucht: "Democracia real ya" ("Wirkliche Demokratie jetzt"). Deren
Forderungen waren politisch sehr schwach. Auf sozialer Ebene sprach sie sich
gegen die Erwerbslosigkeit aus, gegen die Diktatur des Marktes usw. Aber
politisch sagte sie "Weder rechts noch links". Der radikalen Linken war
diese Initiative sehr suspekt, weil wir es heute im Spanischen Staat mit
einer äußerst aggressiven Rechten zu tun haben. Und niemand kannte die
GründerInnen dieser Gruppe. 

Zu Beginn war die Gruppe "Democracia real ya" auf Madrid beschränkt. Dann
kam es in weiteren Städten zu solchen Aufrufen. Die Beteiligung war sehr
bescheiden, doch in Madrid kamen zwischen 20 000 und 25 000 an die Demo. Es
war ein sehr kämpferischer und fröhlicher Demozug, ganz anders als die
üblichen eher langweiligen Demonstrationen. Die Demo führte zur Puerta del
Sol, wo von der Mehrheitsgewerkschaft sehr linke und sehr kritische Reden
gehalten wurden, nicht von Jugendlichen, sondern von Persönlichkeiten,
insbesondere von Carlos Taibo -- einem libertären Universitätsprofessor. 

Im Demo-Zug gab es, wie oft, einen kleinen Schwarzen Block, der
Zwischenfälle provoziert hat. Die Repression hat sehr hart zugeschlagen.
Vierzehn von ihnen wurden verhaftet. Dies hat sofort eine Solidarisierung
gegen die Polizei ausgelöst. Zu diesem Zeitpunkt hatten einige völlig
unbekannte und unorganisierte Leute die geniale Idee, bis zum nächsten Tag
an der Puerta del Sol ein Zeltlager zu errichten. Die Initiative war sehr
sympathisch, auch wenn sie etwas seltsam anmutete. Kaum zwanzig oder dreißig
Leute waren geblieben. Doch dies hatte sofort einen Schneeballeffekt.
Nachdem die Polizei den Platz am Morgen des 16. Mai geräumt hatte, waren
hundert Leute vor dem Gericht anwesend. Am Nachmittag versammelten sich
mehrere Hundert, ja sogar mehrere Tausend an der Puerta del Sol.

Dies hat in der Bevölkerung riesengroße Sympathie ausgelöst. Die
Menschenansammlungen täglich um 20:00 Uhr wurden immer größer: 15 000, dann
20 000 Menschen. In über hundert Städten kam es zu Kundgebungen, die
Wahlkampagne blieb rasch auf der Strecke. Am 20. Mai kam es in Valencia,
einer Stadt, die sehr rechts ist, zu einer Kundgebung mit 10 000 Menschen.
Dies hat es seit langer, langer Zeit nicht mehr gegeben. Kürzlich
demonstrierten 15 000 in Barcelona, 30 000 in Madrid -- so viele, dass man
nicht mehr auf den Platz gelangen konnte. Die Kundgebung vom 20. Mai in
Madrid wurde vom Wahlrat untersagt. Der Innenminister musste folglich die
Auflösung anordnen. Dies war jedoch nicht möglich. Dieser Minister,
Rubalcaba, ist ein prinzipienloser, aber intelligenter Politiker. Er stand
Felipe Gonzales nahe und war vermutlich Gründungsmitglied der GAL (geheime
paramilitärische Gruppen, die für zahlreiche Morde an Mitgliedern und
SympathisantInnen der ETA -- Organisation für die Unabhängigkeit des
Baskenlandes -- verantwortlich sind. [Anm. d. Red.]). Dieser Rubalcaba hat
erklärt: "Im Grunde genommen ist es die Aufgabe der Polizei, Probleme zu
lösen, und nicht, Probleme zu schaffen. Die Auflösung einer Demo von 30 000
Leuten schafft ein noch größeres Problem. Die Polizei soll nur im
Konfliktfall eingreifen. Es gibt aber keinen Konflikt." Rubalcaba handelte
intelligent, spielte aber auch die Karte seiner Person aus, denn er
kandidierte bei den Wahlen. Die Leute befürchteten eine Vertreibung der
DemonstrantInnen nach Mitternacht. Um zwei Uhr morgens zog sich die Polizei
zurück: Es brach ein Freudentaumel aus. In 538 Städten auf der ganzen Welt
haben Solidaritätskundgebungen stattgefunden!


?? Wer führt diese Bewegung an? Ist deren Inhalt heute klarer erkennbar?
Welche Rolle spielen die Frauen? Und die ImmigrantInnen?

Die Koordination zählt ungefähr 60 Mitglieder. Sie sind zwischen 25 und 28
Jahre alt. Es sind junge, gut qualifizierte StudienabgängerInnen, die
entweder erwerbslos oder prekär angestellt sind oder unter schlechten
Arbeitsbedingungen leiden. Sie haben keine politische Erfahrung und sind
nicht politisch organisiert. Unter ihnen gibt es keine Studierende. An den
Kundgebungen nahmen sehr wenig Jugendliche aus den Vorstadtvierteln teil. Um
zu verhindern, dass der Bewegung ein innerstädtisches Image anhaftet, hat
die Madrider Koordination beschlossen, ab sofort in diese Quartiere zu
gehen. Ihr Manifest ist ganz gut. Es verlangt die Verstaatlichung der
Banken, den Schutz der Erwerbslosen usw. Es spricht sich gegen das
Wahlgesetz aus. Es ist ein Programm für demokratische und soziale Reformen.
Der Umweltschutz ist darin enthalten, allerdings eher am Rand. Das
antikapitalistische Bewusstsein ist noch nicht sehr entwickelt. Der Slogan
"a-a-a-anticapitalista" ist auf den Demos oft zu hören, es fehlt ihm
allerdings an ideologischem Inhalt. 

In der Bewegung gibt es viele Frauen, doch die Frauenbewegung ist abwesend,
Frauenforderungen fehlen. Es gibt viele Plakate, die an den Mai 68 erinnern,
aber kein einziges mit einer feministischen Forderung. Das ist beunruhigend.
Dies ist eventuell darauf zurückzuführen, dass sich die Frauenbewegung seit
30 Jahren auf spezifische Frauenforderungen beschränkt. Im Manifest kommt
das Wort "Frau" kein einziges Mal vor. Das gleiche gilt für die jungen
ImmigrantInnen: Viele nehmen an der Bewegung teil, in der Koordination sind
sie jedoch kaum vertreten. Die WortführerInnen sind alles Einheimische.
(Nach Informationen von Miguel Romero vom 21. Mai nehmen an der Puerta del
Sol zahlreiche MarokkanerInnen, Sahrauis und LateinamerikanerInnen teil.
[Anm. d. Red.]).


?? Welche Perspektiven hat deiner Meinung nach diese Bewegung?

Mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnt die Rechte die Wahlen. Sie wird in
zahlreichen Regionen und Gemeinden gewinnen, die PSOE folglich verlieren.
Interessant wird das Ergebnis der Izquierda Unida (Vereinigte Linke) sein.
IU hat versucht, als politischer Ausdruck der Bewegung zu erscheinen. Das
ist sehr opportunistisch, weil die IU eine institutionelle und keine
antikapitalistische Linke darstellt. Umfragen zufolge kommt die IU auf 6 --
8 % der Stimmen. Übersteigen sie 8 %, ist dies eine Folge der Bewegung. IU
will mit der Bewegungsführung Gespräche führen. Das birgt eine gewisse
Gefahr. IU wird die Bewegung nicht hegemonisieren können, denn sie ist keine
Organisation von AktivistInnen, sie ist sektiererisch und
institutionalistisch. Aber ihr institutionelles Gewicht kann für die Führung
der Bewegung attraktiv sein. Diese kann darin einen Steigbügel ins Parlament
erblicken. Dieser Umstand könnte für die Unabhängigkeit und Radikalität der
Mobilisierung ein Risiko darstellen. Auch die Gewerkschaften haben ein
Gespräch verlangt. Die Bewegung ist ein politischer Bezugspunkt für alle
Kräfte geworden.

Es wird sich die Frage stellen: "Wie weiter mit dem Zeltlager?" Man wird es
abbrechen müssen, aber dies muss diskutiert werden. Andere Initiativen
müssen an seine Stelle treten, insbesondere Initiativen in den
Vorstadtvierteln (Madrids [d. Übers.]). In den Medien wird es heißen:
"Schluss jetzt"; Soziologen sagen das bereits. Ihnen darf man nicht glauben.
Ich bin vielleicht zu optimistisch, aber es scheint mir wenig
wahrscheinlich, dass die Bewegung verschwindet. Es gehören zu viele dazu, zu
viele Jugendliche, zu viele, die dies für "meine Bewegung" halten und die
wollen, dass "der Kampf weitergeht". 

In Portugal hat die Großdemonstration mit 250 000 Teilnehmenden keine
Fortsetzung gefunden. Das Besondere an der Bewegung im Spanischen Staat
besteht darin, dass sie während der Wahlkampagne stattfindet, während der
populärste Slogan lautet: "PSOE, PP, la misma mierda es" ("PSOE, PP ist die
gleiche Scheiße"), der zu einem Bezugspunkt für die Bevölkerungsmehrheit
geworden ist. Die Begeisterung ist riesig. Es herrscht die (korrekte)
Meinung vor, dass "nichts mehr sein wird wie vorher", dass alles besser
wird. Für unsere junge, unsektiererische, undogmatische Strömung, die mit
den sozialen Bewegungen eng verknüpft ist, ist dies eine Gelegenheit. Eine
Fortsetzung ist aber schwierig.

Eine Schlüsselvoraussetzung für ein Andauern der Bewegung besteht darin,
dass sie sich ausweitet, indem sie sich mit anderen sozialen Bewegungen
verbindet: mit der Frauenbewegung, mit der Umweltschutzbewegung und
natürlich mit der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Dafür ist eine
mittelfristige Perspektive notwendig, die Gewinnung neuer Mitglieder und
Anstöße von außerhalb der Bewegung. Im Jahr 2009 machten wir eine schlechte
Erfahrung mit einer sehr starken Bewegung für bezahlbare Wohnungen: Sie
konnte nicht weitergehen, weil es zu internen Streitigkeiten gekommen war,
die von Sektierern ausgelöst worden waren. Solche Bewegungen können nur
überleben, wenn sie die Einheit bewahren können.


?? Hat es von gewerkschaftlichen Sektoren Anstöße gegeben?

In den großen Gewerkschaften gibt es keine linken Strömungen und die CGT
(kleine radikale Gewerkschaft mit libertärem Einfluss [Anm. d. Red.]) ist
marginal. Leider gab es nichts außer Erklärungen von Spitzenleuten, die sich
für die Bewegung ausgesprochen hatten (sie konnten nichts anderes tun). Von
Betriebskommissionen, von streikenden Belegschaften gab es keinerlei
Solidaritätsbotschaften. Es handelt sich also um eine völlig neue Bewegung
ohne Verbindung mit bestehenden Mobilisierungen. (Die CGT hat mehrere
Unterstützungsbotschaften verschickt, ebenso die Comisiones Obreras (CCOO)
Kataloniens. In Asturien haben die Besetzungen in den beiden wichtigsten
Städten der Region -- Oviedo und Gijón --, auf die kleinen Bergbaustädte mit
langer Tradition von Arbeiterkämpfen übergegriffen. [Anm. d. Red.]).


?? Welchen Einfluss haben die arabischen Revolutionen? In den Aktionsformen
ist eine gewisse Ähnlichkeit festzustellen ...

Was die Besetzung des öffentlichen Raumes und die Kommunikationsmittel
betrifft, haben die arabischen Revolutionen sicher einen Einfluss gehabt.
Auch der Mut der Demonstrierenden war beeindruckend. Aber Achtung! Ein
Genosse sprach vom "Tahrir-Platz in Barcelona". Das ist eine Übertreibung;
die Kämpfe im arabischen Raum sind ungleich härter!


?? Welches waren eure Aktivitäten als AntikapitalistInnen?

Seit Beginn sind wir bei den Kundgebungen mit dabei. Vorher waren wir
bereits bei den "Jovenes sin futuro" ("Jugendliche ohne Zukunft") dabei. Bei
"Democracia real ya" ("Wirkliche Demokratie jetzt") hingegen haben wir nicht
mitgemacht, wie übrigens alle anderen politischen Strömungen auch. Dann
haben wir bei der Verfassung des Manifests mitgewirkt. Wir unterhalten sehr
gute Kontakte zu den unsektiererischen Autonomen, die in der Bewegung stark
vertreten sind. Im Allgemeinen ist bei Selbstdarstellungen z. B. durch
Fahnen, Aufkleber usw. Vorsicht und Zurückhaltung geboten.

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Miguel Romero ist Mitglied der Izquierda Anticapitalista
(Antikapitalistische Linke, Sektion der IV. Internationale im Spanischen
Staat) und Redakteur der Zeitschrift Viento Sur
Das Interview wurde durchgeführt von Daniel Tanuro am 21. Mai 2011.
Übersetzung: Ursi Urech



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Aus:   Inprekorr Nr. 4/2011    (Internationale Pressekorrespondenz)
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