[IPK] Die Bedeutung von Occupy

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Fr Nov 16 20:41:32 CET 2012


Die Bedeutung von Occupy
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Die Occupy-Bewegung, die erste derart breite, nationale, themenübergreifende
Massenbewegung seit vierzig Jahren, war ein Test für die
revolutionär-sozialistische Linke in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Würde die
Linke ihre Bedeutung erkennen und sich sofort bewegen, um ein aktiver Teil
von ihr zu werden und in ihr zu arbeiten, um zu helfen, eine Führung
aufzubauen? Zweitens: Wäre die Linke in der Lage, sowohl die Stärken von
Occupy zu schätzen als auch eine Kritik ihrer Schwächen und Grenzen zu
entwickeln? Wäre sie gleichzeitig in der Lage, sozialistische Propaganda zu
verbreiten und für die sozialistische Bewegung zu rekrutieren? Drittens:
Wäre die Linke in der Lage, die Occupy-Erfahrung im Nachhinein zu
analysieren und daraus zu lernen, um sich selbst auf künftige Bewegungen
vorzubereiten? 

Das nachstehende Dokument wird als Teil des Prozesses des Verstehens und
Analysierens von Occupy und der wichtigsten Entwicklung der Occupy-Bewegung,
ihrer Wechselwirkung mit den Gewerkschaften, gesehen. Diese Wechselwirkung
stellte die wichtigste Aufgabe für die Bewegung und für diejenigen von uns,
die sie verstehen und von ihr lernen wollen, dar.


Von Dan La Botz, Robert Brenner und Joel Jordan



DIE BEWEGUNG BEGINNT: OCCUPY! WIR SIND DIE 99 %

Die "Occupy Wall Street"-Bewegung" (Besetzt die Wall Street), die Mitte
September 2011 im Zuccotti-Park in der Nähe der Wall Street in New York als
Protestschrei gegen die erdrückende Macht der Konzerne, die enormen
Ungerechtigkeiten in der amerikanischen Gesellschaft und die übermäßige
Rolle des Geldes in der Politik begann, breitete sich Innerhalb weniger
Wochen über das ganze Land aus. Der brillante Slogan "Wir sind die 99 %"
weckte nicht nur die Phantasie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sondern
auch von weiten Teilen der breiteren amerikanischen Öffentlichkeit, und das
aus gutem Grund. In den vergangenen Jahrzehnten hat es eine epochale
Umverteilung der Einkommen nach oben hin zu dem obersten 1 % und noch höher
gegeben, und das Kapital und die Reichen haben Politiker und Regierung in
einem Ausmaß im Würgegriff, das man seit dem Gilded Age [1] nicht gesehen
hat. In den Herbstmonaten des Jahres 2011 nahmen Tausende an den Occupy-
Camps in den Städten des ganzen Landes teil, während sich Zehntausende an
Demonstrationen und Protestmärschen der Bewegung beteiligten; Occupy
entwickelte sich zur größten und wichtigsten sozialen Bewegung in den
Vereinigten Staaten seit den 1960er und 70er Jahren. Occupy Wall Street und
ihre Ableger waren die erste ernsthafte Antwort von arbeitenden Menschen und
der Bevölkerung allgemein auf die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 und
spielten die Rolle, die in einem anderen Land oder in früheren Zeiten
vielleicht eine starke Arbeiterbewegung oder eine neu entstehende
populistische oder sozialistische Partei gespielt hätte. Die
Occupy-Erklärung [2] repräsentierte einen umfassenden und radikalen Protest
gegen das wirtschaftliche und politische Establishment und den Status quo,
wie wir es seit den Bürgerrechts- und Black-Power-Kämpfen, der
Antikriegsbewegung und den Students for Democratic Society (Studenten für
eine Demokratische Gesellschaft -- SDS) nicht mehr erlebt haben. 

Bevor die Occupy-Bewegung entstand, dominierte die rechte Tea-Party-Bewegung
Nachrichten und Kommentare in Amerikas Zeitungen, Radio- und
Fernsehprogrammen, doch kaum war Occupy aufgetaucht, rückte sie in den
Mittelpunkt. Praktisch das gesamte politische Establishment trommelte für
Sparpolitik als grundlegende Antwort auf die Wirtschaftskrise und nur wenige
Wochen zuvor hatte die Obama-Regierung auf Vorschlag ihrer eigenen
Bowles-Simpson-Kommission eine "große Lösung" zur Verringerung der
Staatsausgaben und zum Ausgleich des Haushalts vorgeschlagen, die vor allem
aus einer Kürzung der öffentlichen Rentenversicherung und der
Gesundheitsprogramme Medicare und Medicaid  [3] bestand. In nur wenigen
Monaten hatte die Occupy-Bewegung den nationalen Diskurs von den rechten
Themen der Tea Party wie Steuersenkungen und Haushaltskürzungen verschoben
zu Diskussionen über die übermäßigen Gehälter und Boni der Banker und
Vorstandsvorsitzenden, die finanziellen Zuwendungen der Reichen an Politiker
und vor allem die Wirtschaftskrise, von der Millionen von Amerikanern
betroffen sind. Obama selbst musste, zumindest vorübergehend -- bis zu den
Wahlen --, alles Gerede vom Gürtel enger schnallen einstellen. Occupy
kritisierte die anhaltend hohe Rate der Arbeitslosigkeit, die
Zwangsräumungen von Haus- und Wohnungseigentümern, die Unzulänglichkeit des
Gesundheitswesens (einschließlich Obamas Gesundheitsplan) und die Krise der
Kosten der Hochschulbildung. Obwohl nie explizit antikapitalistisch und
sicher nicht pro-sozialistisch, tendierte die Kritik von Occupy dazu, das
System insgesamt in Frage zu stellen -- und das System war der Kapitalismus,
auch wenn er meist nicht benannt wurde. Der Ruf der Bewegung "Wir sind die
99 %!" hallte nicht nur durch die Steinschluchten der Wall Street, sondern
ertönte auch in Städten und Universitäten überall in den Vereinigten Staaten
und bald kam das Echo aus der ganzen Welt, als Occupy-Camps in vielen
Ländern in Europa und Lateinamerika entstanden. 


DER INTERNATIONALE KONTEXT

Die Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten entstand, zumindest
teilweise, aus einer Reihe von außergewöhnlichen Massenkämpfen, die weltweit
als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise ausbrachen und Demokratie
forderten und Sparpolitik ablehnten. Im arabischen Frühling, der im Dezember
2010 begann, entstanden riesige soziale Bewegungen gegen Diktatoren, die in
den folgenden Monaten die Regierungen von Tunesien, Ägypten, Libyen und
Jemen zum Rücktritt zwangen. Gleichzeitig gab es größere Aufstände und
umfassende soziale Proteste in Algerien, Bahrain, Irak, Jordanien, Kuwait,
Marokko, Syrien und anderen Länder der arabischen Welt und in muslimischen
Ländern in Afrika. Die Proteste auf dem Tahrir-Platz, an denen sich im
Januar 2011 Zehntausende beteiligten, bildeten das Modell der Besetzung
eines zentralen Platzes, wo Ägypterinnen und Ägypter sich bei massiven
Aktionen zivilen Ungehorsams engagierten, die von Streiks vorbereitet und
begleitet wurden. Forderungen nach dem Ende der Mubarak-Regierung und ihrer
heftigen Repression wurden mit Forderungen nach Preissenkungen und
Lohnsteigerungen verbunden. Zur gleichen Zeit sammelten sich in Israel
Hunderttausende in einer Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit zu Fragen
wie Inflation, Gesundheits- und Bildungswesen und riefen: "Wir wollen
soziale Gerechtigkeit!"

Inspiriert durch Ägypten und den arabischen Frühling brachten in Spanien
Gruppen wie Juventud sin Futuro (Jugend ohne Zukunft) und andere Hunderte
von kleineren Organisationen zusammen, die gemeinsam junge Arbeitslose dazu
aufforderten, die öffentlichen Plätze am 15. Mai zu besetzen, woraus dann
die M-15 oder Indignado-Bewegung entstand. Die Indignados [4] forderten
Arbeitsplätze und wehrten sich gegen Sozialabbau und das politische System
Spaniens und seine Parteien. Im Juni weiteten sich die Demonstrationen auf
80 spanische Städte aus, und die Besetzungen zentraler Plätze wurden von
riesigen Demonstrationen und Märschen begleitet. 

In Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien und Griechenland,
ganz besonders in Griechenland, gab es diesem Zeitraum große
Gewerkschaftsproteste und Streiks, insbesondere im öffentlichen Sektor,
einschließlich Generalstreiks gegen die Sparpolitik. Alle Proteste und
Umwälzungen in Europa und der arabischen Welt sind Reaktionen auf die
Wirtschaftskrise von 2008, obwohl, wie im Fall von Tunesien, Ägypten und
anderen arabischen Ländern, die Krise auch die Möglichkeit bot, sich mit
Fragen der langjährigen autoritären Regierungen zu befassen, mit dem Fehlen
bürgerlicher und politischer Rechte und mit der Armut von Millionen. In
diesen Fällen war die Krise der Zünder der lange aufgestauten explosiven
Kräfte in der Gesellschaft. 


DER HINTERGRUND VON OCCUPY IN DEN USA

Die Vorgeschichte der Occupy-Bewegung zeigt sich am deutlichsten in den
Bewegungen gegen Globalisierung und für weltweite Gerechtigkeit, die ihr
vorausgingen und nach der "Schlacht von Seattle", den massiven Protesten der
Umwelt- und Gewerkschaftsbewegung gegen die Ministerkonferenz der
Welthandelsorganisation 1999 in Seattle (im Nordwesten der USA), kräftigen
Zulauf bekamen. Mit der "Schlacht von Seattle", bei der eine Reihe von
Umweltorganisationen und Gewerkschaften wie die United Steel (Metall),
Teamsters (Transport) und International Longshore and Warehouse Union
(Häfen) zusammenkamen, um die Straßen von Seattle zu blockieren, entstand
ein Modell kämpferischer direkter Aktion gegen die Globalisierung der
Konzerne. Sie waren zwar nie antikapitalistisch, aber die massiven und
militanten Demonstrationen der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit aus
radikaler Jugend, Umweltschützern und Gewerkschaften bei einer Reihe von
internationalen Handels- und Politikgipfeln von Regierungen und
Unternehmensführungen weltweit über mehrere Jahre stellten eine bedeutende
radikale soziale Bewegung, wenn nicht sogar eine nationale Massenbewegung,
wie wir sie in den 1960er und 1970er Jahren erlebt haben und wie sie jetzt
mit Occupy wieder entstanden ist, dar. 

Der unmittelbare Vorgänger von Occupy Wall Street waren die Proteste 2011 in
Wisconsin gegen die Antigewerkschaftsgesetze von Gouverneur Scott Walker,
bei denen Zehntausende, manchmal sogar 100 000 Menschen vor dem
Parlamentsgebäude protestierten und Tausende es tatsächlich besetzten;
außerdem führten Lehrerinnen und Lehrer wilde Streiks durch. Die Proteste in
Wisconsin bildeten -- auch wenn Gewerkschaftsbürokratie und Demokratische
Partei sie schnellstmöglich beendeten und dann in Bemühungen um einen
Volksentscheid zur Abwahl des Gouverneurs (Recall) und eine wahlpolitische
Orientierung kanalisierten -- das Modell der Besetzung des öffentlichen
Raumes, von Massenprotesten der arbeitenden Bevölkerung und von Streiks.
Wisconsin, etwa zeitgleich mit der ägyptischen Besetzung des Tahrir-Platzes,
bildete den Prototyp für Occupy Wall Street. 

Das außergewöhnliche Potenzial der Occupy-Bewegung und die durch sie
verkörperte Bedrohung des heutigen politisch-ökonomischen Establishments
resultierte aus ihrer Fähigkeit, die beispiellose Verkettung von
politisch-ökonomischen und Ideologischen Bedingungen, die mit dem Ausbruch
der globalen Krise von 2007 bis 2008 entstanden waren, effektiv
anzusprechen, Die historischen Bewegungen der 1960er Jahre waren auf dem
Höhepunkt von Wohlstand und Rentabilität des Nachkriegskapitalismus
entstanden, im Zuge eines mehr als zwei Jahrzehnte dauernden, beispiellosen
Anstiegs der Reallöhne für große Teile der Arbeiterklasse und zu einem
Zeitpunkt, als Überschüsse/Steuern/verfügbare Einkommen es dem politischen
Establishment erlaubten, auf den Druck der Massen von unten mit einer Reihe
von substanziellen Reformen und relativ wenig Zwang (abgesehen natürlich von
der endlosen Repression gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung,
insbesondere als sie sich in die Städte des Nordens ausdehnte und ihr
Programm von Bürgerrechten zu sozioökonomischer Gerechtigkeit erweiterte) zu
reagieren. Die nachhaltige Verbesserung des Lebensstandards für große Teile
der Bevölkerung brachte den Kapitalismus auf den Höhepunkt seines Ansehens,
während der Ausbau des Wohlfahrtsstaats die Wirkung hatte, die damals
hegemoniale etatistisch-liberale Ideologie und die mit ihr verbundenen
politischen Parteien und Institutionen (einschließlich zu einem gewissen
Ausmaß der Republikanischen Partei) zu stärken. Daher fanden die
Massenbewegungen in dieser Zeit nie eine Basis, um den Kapitalismus als
System in Frage zu stellen, und wurden zu einem großen Teil von der Linken
des politischen Mainstreams, dem liberalen Flügel der Demokratischen Partei,
wieder aufgesogen. 

Ganz im Gegensatz dazu entstand Occupy nach vier Jahren der schlimmsten
Wirtschaftskrise seit der Weltwirtschaftskrise von 1929, die ihrerseits am
Ende eines sehr langen Zeitraums niedrigen Wachstums, Stagnation und
relativen Abschwungs des amerikanischen Kapitalismus ausgebrochen war. Die
durchschnittlichen Reallöhne sind seit fast vier Jahrzehnten nicht mehr
gestiegen, der Wohlfahrtsstaat hat praktisch aufgehört zu wachsen, und die
Ungleichheit der Einkommen und Vermögen hat eine Größenordnung erreicht, die
man seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht gesehen hat. Beide politischen
Parteien haben längst aufgehört, nennenswerte soziale Reformen zu
versprechen, sondern widmeten sich überwiegend dem Einsatz des Staates als
Motor der Plünderung und der Umverteilung des Reichtums nach oben. 

Beide Parteien und alle Flügel der kapitalistischen Klasse hatten sich
vollständig der weltweit vorherrschenden, neoliberalen Ideologie
verschrieben, aber der Neoliberalismus hat der großen Mehrheit der
Arbeiterklasse, deren Mitglieder, soweit Sie überhaupt eine Art
wirtschaftlicher Weltanschauung besaßen, wahrscheinlich das "Es gibt es
keine Alternative" akzeptiert hatten, nichts zu bieten.

Die getreuen Anhänger des etatistischen Liberalismus [5], die weitgehend
geschwächte Gewerkschafts- und Bürgerrechtsbewegung, blieben zwar nominell
weiter einer Reformpolitik verschrieben, waren aber so abhängig von der
Demokratischen Partei und so tiefgreifend geschwächt durch ihre langjährige
Position, dass sie unfähig waren, irgendetwas zu bewegen; rein praktisch war
der Staatsliberalismus tot. Inzwischen hat die Demokratische Partei unter
Führung des dominierenden DLC [6] diese Kräfte als gegeben akzeptiert,
während sie versuchen, ihre Beziehungen mit Teilen des Kapitals und
konservativen Wählerschichten im Süden und anderswo zu zementieren. 

Der große Anstieg der Wohnungspreise im Jahrzehnt vor dem Crash von 2008
kann auch die materielle Basis für so etwas wie eine erneute Begeisterung
für den freien Markt durch einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung
gebildet haben. Aber als die Immobilienblase platzte und die Große Rezession
mit verbreitetem Elend folgte, brachte die Bereitschaft der politischen
Elite, Billionen zur Rettung der Banken/Kreditgeber bereitzustellen, während
man nichts für die große Masse der Haushalte/Kreditnehmer tat, tiefe
Enttäuschung und eine augenblickliche Diskreditierung des Systems zusammen
mit einem tiefen Zorn auf die Banker und die Politiker, die ihnen
offensichtlich dienten. Es war diese plötzlich weitreichende, aber bisher
weitgehend unausgesprochene Entfremdung von breiten Schichten der
Arbeiterklasse von einem politisch-ökonomischen System, das ihnen nur eine
Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse und zunehmende
Demütigung bietet, die den Weg für Occupy öffnete. 


DIE NATUR VON OCCUPY

Occupy hatte, weil es eine nationale Bewegung quer durch die Vereinigten
Staaten war, wo wirtschaftliche, soziale und politische Verhältnisse stark
variieren, in verschiedenen Regionen notwendigerweise unterschiedliche
Erfahrungen und einen unterschiedlichen Charakter. Doch es gab auch viele
Gemeinsamkeiten. Wir wollen einige der Unterschiede benennen: Bei Occupy
Wall Street waren weit mehr Studenten und Jugendliche beteiligt, als bei den
meisten anderen Occupy-Aktionen. Während die meisten Occupy-Gruppen
überwiegend weiß waren, gab es in Atlanta und Oakland eine größere Zahl von
Afroamerikanern und Latinos. Es gab auch viele Gemeinsamkeiten: Teilweise
war Occupy eine Sammlung von Aktivistinnen und Aktivisten aus vielen
Bewegungen. Beobachtete man Demonstrationen in irgendeiner Stadt an
irgendeinem Tag, so sah man Demonstranten mit T-Shirts und Jacken mit den
Logos aller Bewegungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten berührt
haben: Anti-Krieg, LGBTQ [7], Zwangsräumungen, Gewerkschaften und
Bürgerrechte. Dazwischen gingen andere, die neu in der Bewegung waren,
Arbeiter und Angestellte, oft mit handgemalten Schildern mit Slogans wie
"Schafft Arbeitsplätze, reformiert die Wall Street, höhere Steuern für
Reiche" und "The People are Too Big to Fail" ("Die Menschen sind zu
bedeutend, als dass man sie fallen lassen kann", eine Anspielung auf das
Argument der US-Regierung, die Banken müssten gerettet werden, weil sie "zu
bedeutend seien, als dass man sie fallen lassen könnte"). Das Gefühl von
Optimismus, das die Bewegung entstehen ließ, wurde von einem Schild auf der
Wall Street auf den Punkt gebracht: "Dies ist das erste Mal, dass ich etwas
Hoffnung fühle, seit langer, langer Zeit." 

Die Bewegung hatte einen utopischen Charakter im besten Sinne des Wortes.
Viele von denen, die sich an Occupy beteiligten, wollten nicht nur die
unmittelbaren Auswirkungen der Wirtschaftskrise überwinden, sondern wollten
ein besseres Leben, ein besseres Land, eine bessere Welt. Viele schlossen
sich der Bewegung an wegen des Gefühls von Gemeinschaft, das sie geschaffen
hatte, einer Gemeinschaft, von der sie glaubten, dass sie im Kleinen die
Gesellschaft vorzeichne, die sie auf nationaler Ebene anstreben. Die
Bewegung als solche hatte keine Ideologie. Occupy war eine Art linker
Populismus: Das Volk gegen das Großkapital und die schlechte Regierung.
Obwohl es Anarchisten gab und sie ihr einiges von ihrem Stil aufprägten, war
es keine anarchistische Bewegung. Obwohl es einige Sozialisten gab, war die
Bewegung keineswegs sozialistisch. Vielleicht das Beste und Aufregendste an
der Bewegung war das Zusammentreffen der vielen sozialen Bewegungen mit
Menschen aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse, die zur Wall Street
oder dem zentralen Platz in irgendeiner anderen Stadt gekommen waren, um zu
sagen: "Wir sind am Ende." Der Utopianismus der Bewegung hat gewöhnliche
Menschen inspiriert, zu denken und zu sagen: "Wir können anders leben, wir
müssen das, und wir werden das." 


DIE ABLEHNUNG DER POLITIK

Die Occupy-Bewegung hat sich selbst negativ aus der Ablehnung der
traditionellen sozialen Bewegungen und politischen Organisationen definiert,
die so oft gescheitert sind. Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien hatten
alle repräsentative und delegierte Leitungsstrukturen, bei denen sich die
Führer schnell der Kontrolle der Mitglieder entzogen haben. Occupy wollte
keine haben, getreu der alten Parole: "Wir haben keine Führung. Wir sind
alle Führer." 

Andere Organisationen arbeiteten mit komplizierten Formen von Leitung und
Verwaltung, die die Leitung undurchschaubar machten. Occupy wollte einfach
durch scheinbar transparente Vollversammlungen und partizipative und
autonome Aktionsgruppen funktionieren. Andere Gruppen stellten Forderungen.
Occupy weigerte sich, spezifische Forderungen zu stellen, zu einem großen
Teil als Verteidigung gegen eine Vereinnahmung durch die Demokratische
Partei, die Gewerkschaften und die Linke, die alle die Bewegung drängten,
sich durch eine Liste von wirtschaftlichen und politischen Forderungen zu
definieren. Forderungen schienen ihr der erste Schritt zur
Institutionalisierung und Kooptierung zu sein. Auch wenn man natürlich alle
Aspekte der Praxis von Occupy kritisieren kann, entstand sie doch teilweise
aus einer gesunden Ablehnung alles Undemokratischen, Bürokratischen und
Stickigen von typischen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien. Occupy
repräsentierte einen idealistischen, vielleicht naiven Versuch, Gesellschaft
und Politik neu zu beginnen, transparenter, demokratischer und
partizipativer. 

Occupy lehnte Politik in allen ihren vielen Spielarten ab. Politiker der
üblichen Demokratischen Partei waren in der Regel unerwünscht.
Sozialistische Reden, oft herablassend, und die Verteilung sozialistischer
Literatur, oft mit dem Anspruch, die Bewegung zu leiten, wurden als
spalterisch gesehen und waren verpönt. Die Libertarian Party und die
Anhänger von Ron Paul, die zeitweise Occupy kolonisierten, wurden nur als
Individuen akzeptiert, nicht als Parteianhänger. Die Grüne Partei genoss im
Allgemeinen größere Toleranz, da man meinte, dass sie die allgemeine
Umweltschutzorientierung der Occupy-Bewegung teilen würde. Occupyer äußerten
sich oft gegen politische Parteien und Kandidaten, aber fast nie zu deren
Gunsten. Doch obwohl sie feindlich gegenüber Politik im Sinne von Wahlen
eingestellt war, wurde Occupy trotzdem eine Art inoffizielle Partei der
ausgebeuteten und unterdrückten 99 %. 


DIE BEDROHUNG DURCH OCCUPY

Die Occupy-Vollversammlungen stellten, auch wenn sie schlecht vorbereitet
und schwierig in ihrem eigentlichen Ablauf waren, ein Modell der
partizipativen Demokratie in scharfem Gegensatz zu dem undemokratischen
Charakter der amerikanischen Regierung und Verwaltung auf allen Ebenen dar.
Die Küchen, Bibliotheken, medizinische Dienste und Security-Teams von
Occupy, die alle auf freiwilliger und kooperativer Basis organisiert waren,
bildeten ein alternatives Gesellschaftsmodell. Die Besetzung von Parks und
anderen öffentlichen Plätzen in städtischen Gebieten bildete sowohl einen
Sammelpunkt als auch eine Bühne im Herzen der Stadt, um die Mächtigen
anzugreifen und die Ausgestoßenen und Unzufriedenen der Gesellschaft zu
mobilisieren. Occupy-Camps im ganzen Land wurden Sammelpunkte für
arbeitslose 20- und 30-Jährige, für ältere Arbeiterinnen und Arbeiter,
einige von ihnen auch Angestellte und Führungskräfte, die ihren Arbeitsplatz
verloren hatten, für Studenten mit Sorge vor hohen Studiengebühren und
wachsenden Schulden, für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, für
radikale Linke und für Obdachlose, die schon in den Parks gelebt hatten,
bevor die Bewegung begann. 

Die Mischung einer radikal-demokratischen Bewegung aus sozial
Benachteiligten, aus beschäftigten und arbeitslosen Lohnabhängigen zusammen
mit linken Kräften, und all das mitten im Herzen der Stadt und bereit, nach
kurzfristigem Aufruf in Foren gegen Banken und Konzerne zu mobilisieren,
bildete eine ernsthafte Bedrohung nicht nur für die Stadtverwaltungen und
die Zentralen der Wirtschaftselite in den Innenstädten, sondern auch eine
allgemeine und potenziell gefährlichere Bedrohung für das System und den
Staat, eben weil sie vielleicht nur der Anfang sein konnte. Die Wahrnehmung
dieser Bedrohung führte zu massiver und manchmal brutaler Unterdrückung
durch die meist von der Demokratischen Partei gestellten Bürgermeister und
Stadträte im ganzen Land, offenbar in Abstimmung mit der Obama-Regierung [8]
in Washington. Occupy-Camps wurden zerstört und die Besetzer herumgestoßen,
verprügelt, mit Tränengas eingenebelt und zu Hunderten verhaftet. Im ganzen
Land gab es Tausende von juristischen Maßnahmen gegen die Besetzer, von
Verwarnungen und Bußgeldern bis zu Strafverfahren. Zwischen September 2011
und Juli 2012 gab es Insgesamt 7361 Verhaftungen in 117 Städten [9] der USA.
Die Behörden versuchten auch Occupy mit linken Gruppen in Verbindung zu
bringen und erhoben Anklagen wegen Terrorismus und Gewalt gegen Personen in
Cleveland und Seattle die in Verbindung mit der Occupy-Bewegung gebracht
werden konnten oder dort am Rande beteiligt waren. Die Repression gegen die
Occupy-Bewegung mit Tausenden von Verhaftungen, ihrer Brutalität und den
Terrorismus-Vorwürfen kann nur mit Wilsons Repression im Ersten Weltkrieg,
der Kommunistenfurcht der 1920er Jahre, der McCarthy-Ära der 1950er Jahre
und der Gewalt gegen die afroamerikanische Bewegung in den 1960er und 1970er
Jahren verglichen werden. 


OCCUPY UND DIE GEWERKSCHAFTEN

Einige Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter waren natürlich von Anfang an
bei Occupy Wall Street beteiligt. Der [Gewerkschaftsdachverband] AFL-CIO und
die wichtigsten landesweiten Gewerkschaften reagierten anfangs sehr positiv
auf Occupy und boten Unterstützung und Ressourcen an. Anfang Oktober 2011,
als Occupy Wall Street die Zwangsräumung drohte, drückte Rich Trumka,
Vorsitzender des AFL-CIO, seine Unterstützung für Occupy Wall Street (OWS)
aus. Zur gleichen Zeit mobilisierten große Gewerkschaften des öffentlichen
Dienstes in New York, unter Führung vor allem der Ortsgruppe 100 der
Transport Workers Union, Tausende ihrer Mitglieder zu einer riesigen und
dynamischen Demonstration auf dem Foley Square zur Unterstützung von OWS,
was einen Hinweis auf das enorme politische Potenzial eines Bündnisses
zwischen Occupy und der Arbeiterbewegung gab. Das war nicht einfach nur
Solidarität, sondern war auch der Versuch der Gewerkschaften, am plötzlichen
und spektakulären Erfolg der neuen Bewegung, Tausende gegen Konzernmacht und
soziale Ungleichheit zu mobilisieren, teilzuhaben. Gewerkschaften
mobilisierten Anfang Oktober nicht nur ihre Mitglieder, Sie spendeten auch
Geld und Lebensmittel und stellten im Fall der Lehrergewerkschaft United
Federation of Teachers den Occupyern auch Platz zur Verfügung. Die
Gewerkschaften unterstützten Occupy auch wieder bei den riesigen Aktionen
vom 17. November, als Zehntausende in New York und weitere Tausende in
anderen Städten im ganzen Land und der ganzen Welt marschierten. 

Das Erscheinen der Gewerkschaften begeisterte die Occupyer, die plötzlich
ihre Bewegung anschwellen sahen, aber es machte ihnen auch Angst. Besonders
die Anwesenheit der Ortsgruppe 100 der Transport Workers Union, der
Gewerkschaft, die Züge und Busse in den Städten rollen lässt, ist hier zu
nennen. Doch viele Occupyer spürten, dass die Gewerkschaften ihre eigenen
Ziele hatten, und einige sorgten sich, dass dazu auch die Unterstützung der
Demokraten und des Präsidentschaftswahlkampfs von Barack Obama gehörten, die
viele als verantwortlich oder zumindest mitschuldig für die
unternehmerfreundliche Politik der Regierung ansahen. Die Fähigkeit der
Gewerkschaften, Tausende von Arbeitern mobilisieren zu können, erstaunte und
erschreckte die Occupyer, die das Gefühl hatten, sie könnten durch die
Arbeiterbewegung einfach überrollt werden. 


OCCUPYER BEGEISTERT UND ERSCHRECKT DURCH DIE GEWERKSCHAFTEN

Die Ängste der Occupyer wurden noch vertieft, als Mary Key Henry,
Vorsitzende der Service Employees International Union (SEIU), kurz vor dem
Aktionstag am 17. November auf den Occupy-Slogan "wir sind die 99 %" Bezug
nahm, als sie die Wiederwahl von Obama befürwortete. Dann ließ sie sich mit
den Occupyern auf der Brooklyn Bridge verhaften und benutzte dabei offenbar
Occupy, um sich selbst, die SEIU und die Obama-Kampagne in die Medien zu
bringen. Viele Occupyer sahen voller Sorgen den Schatten der SEIU, einer der
größten und am schnellsten wachsenden Gewerkschaften des Landes, über die
Bewegung fallen. 

Die Occupyer, die meist eher aus den Mittelschichten als aus der
Arbeiterklasse stammen und meist jung und ohne Erfahrung mit Gewerkschaften
sind, wussten nicht viel über Gewerkschaften oder wie man mit ihnen umgehen
soll. Nur wenige erkannten, dass Gewerkschaften selbst komplexe Organismen
sind, dass unterschiedliche Gewerkschaften unterschiedliche Politik machen,
und dass Gewerkschaftsführer und einfache Mitglieder oft ganz andere
Interessen haben. Nur einige wenige Occupyer, meist Sozialisten, die mit
Gewerkschaften gearbeitet hatten, kannten sich besser mit den näheren
Umständen der Gewerkschaftsbewegung aus. Einige von ihnen in New York City,
die von einer Aussperrung durch Sotheby's Auktionshaus gegen 43
Teamster-Mitglieder gehört hatten, mobilisierten Occupyer, um die
Teamsters [10] im September beim Unterbrechen einer Auktion und "Schmähen"
der Chefs zu unterstützen [11]. Trotz der Unterstützung des
Occupy-Gewerkschaftskomitees bei den Protesten der Teamsters gegen die
Aussperrung kam es nie zu einer tiefen und dauerhaften Beziehung zwischen
Occupy und der Gewerkschaft. 

In Chicago, wo die Sozialisten ein starkes
Gewerkschaftsunterstützungskomitee organisierten und mit reformorientierten
Funktionären, Basisgruppen und linken Gewerkschaftern zusammenarbeiteten,
vertieften sich die Beziehungen zwischen Occupy und den Gewerkschaften. Im
Januar 2012 organisierte das Occupy-Gewerkschaftskomitee in Chicago ein
Treffen mit 150 Gewerkschaftern, um zu erörtern, wie man Widerstand gegen
die Sparpolitik leisten kann. Ein Occupy-Mitglied beschrieb dort eine
"Partnerschaft" zwischen Occupy, den Gewerkschaften und anderen
Basisgruppen. Die Schlüsselfaktoren beim Aufbau erfolgreicher Beziehungen
zwischen Occupy Chicago und den Gewerkschaften waren anscheinend die
Anwesenheit einer großen Anzahl von Sozialisten, die Existenz einer
Basisstruktur, die vor kurzem die Führung der Chicago Teachers Union
übernommen hatte, und verschiedene lokale Gewerkschaftsfunktionäre, die auf
der Suche nach Unterstützung für Ihre angeschlagenen Organisationen waren.
Die Tatsache, dass es in Chicago nicht mehr Konflikte zwischen Occupy und
den Gewerkschaften gab, kann darin gelegen haben, dass die Gewerkschaften in
keinen Massenkämpfen aktiv waren, in denen die kämpferischere Taktik von
Occupy zu einer Bedrohung hätte werden können. 


OCCUPY OAKLAND UND DIE STILLLEGUNG DES HAFENS

Bei Occupy Oakland waren viele mit einem multinationalen kämpferischen
Arbeiterklassenhintergrund aktiv, wie auch eine große Anzahl von Sozialisten
und Anarchisten aus einer Vielzahl von Organisationen. Um einen Schlag gegen
das 1 % zu führen und die Hafenarbeiter der ILWU zu unterstützen, die in
einen Tarifkampf in Longview, Washington verwickelt waren, legten Tausende
von Occupy-Aktivisten den Hafen von Oakland mehr oder weniger erfolgreich am
2. November und dann noch einmal am 12. Dezember still. Die Aktionen
gehörten, auch wenn sie kein voller Erfolg waren, zu den größten,
kämpferischsten, direkten Konfrontationen zwischen arbeitenden Menschen und
Kapital der letzten Jahrzehnte, nicht nur an der Westküste, sondern für die
Vereinigten Staaten insgesamt. Die Gewerkschaft ILWU, die durch das von der
Occupy-Bewegung verfolgte Modell kämpferischer, direkter Aktionen, die die
etablierten Beziehungen mit den Hafen- und Lagerhaus-Unternehmen
gefährdeten, unter Druck geraten war, reagierte mit dem Abbruch der
Beziehungen zu Occupy. Einmal störten lokale ILWU-Funktionäre sogar eine
Sitzung und griffen Occupyer und einfache ILWU-Mitglieder an. 

Warum stellte sich die ILWU, eine der besten Gewerkschaften des Landes, am
Ende gegen Occupy? Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten, einschließlich
denen wie der ILWU, die wir zu den Besten zählen, werden von einer
bürokratischen Kaste privilegierter Funktionäre beherrscht, die sich
vollständig mit der Gewerkschaft als Organisation identifiziert haben. Ihr
Interesse ist es, die Gewerkschaft als Institution und ihre Positionen
innerhalb dieser Institution zu erhalten, anstatt für ihre Mitglieder zu
kämpfen. Im Gegenteil: Die Kämpfe ihrer Mitglieder drohen ihre Beziehung zu
den Unternehmern oder der Regierung zu stören, sodass sie in der Regel
schnell reagieren, oft in Absprache mit dem Management, um die Mitglieder zu
stoppen. Der Kampf der ILWU-Mitglieder und von Occupy Oakland, der aus der
Blockade des Hafens von Oakland und der Beteiligung von Occupy am
Longview-Kampf entstand, brachte die ILUW-Führung und örtliche Funktionäre
letztlich dazu, sowohl ihre eigenen Mitglieder als auch die
Occupy-Aktivisten zu stoppen. Am Ende zwang die ILWU ihre Ortsgruppe
Longview, ungesehen einen Tarifvertrag zu akzeptieren, und die lokalen
Funktionäre wurden dazu diszipliniert, nichts gemeinsam mit Occupy zu
unternehmen. 

Auch wenn dies -- mit Ausnahme von kurzen und intensiven Momenten von
Klassenkampf und größeren Unruhen -- die übliche Reaktion der
Gewerkschaftsfunktionäre in der gesamten Geschichte der amerikanischen
Gewerkschaftsbewegung war, von den Tagen der AFL-Handwerkergewerkschaften
über die CIO-Industriegewerkschaften und die AFL-CIO-Blütezeit im "Goldenen
Zeitalter" des amerikanischen Kapitalismus in den 1940er bis 1960er Jahren,
reagieren heutige Gewerkschaftsfunktionäre wahrscheinlich noch schneller und
heftiger, um Basisbewegungen und Klassenkämpfe zu unterdrücken, weil klar
ist, dass jeder Kampf, um erfolgreich zu sein, sehr massiv geführt werden
muss. Solche gewaltigen Schlachten würden die Gewerkschaftsbewegung völlig
umwälzen und ohne Zweifel die alten Strukturen aufbrechen, die derzeitigen
Gewerkschaftsführer hinauswerfen und zu unvorhersehbaren Folgen führen, da
niemand den Ausgang eines wirklichen voll entwickelten Kampfes zwischen
Kapital und Arbeit vorhersagen kann. Occupy lässt vermuten, dass wir, sollte
die Bewegung wiederbelebt werden oder eine neue Massenbewegung entstehen,
erwarten können, dass Gewerkschaftsführer wieder ebenso heftig gegen
Versuche, einen wirklichen Klassenkampf durch eigene Mitglieder oder durch
eine andere Bewegung zu beginnen, reagieren werden. 


DER WINTER DER UNZUFRIEDENHEIT

Die heroische Periode der Occupy-Bewegung von September bis Anfang Dezember
2011 ging unter dem Einfluss der national koordinierten Polizei-Repression
in Dutzenden von Städten, der Winterkälte und der Zersplitterung der
Bewegung, als sie Sinn und Richtung zu verlieren schien, ihrem Ende
entgegen. Im Winter waren dann viele von den Vollversammlungen, die
Diskussionen und Entscheidungsfindung nahezu unmöglich machten, und vom
Fehlen von Organisationsstrukturen und transparenter Führung frustriert. Mit
dem Verlust der öffentlichen Räume zogen einige der Occupy-Gruppen nach
drinnen in private Räume, doch in viel kleinerer Zahl. 

Auch die gewalttätigen Proteste des anarchistischen "schwarzen Blocks" waren
ein Problem geworden. Die "Occupy Oakland"-Proteste gaben Anarchisten und
anderen im Stil des schwarzen Blocks Organisierten die Möglichkeit, unter
dem Deckmantel der "Vielfalt der Taktiken" privates Eigentum entlang der
Route der Demonstrationen und in der Nähe anderer Aktionen anzugreifen, was
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes mit der Polizei
führte. Die Proteste in Oakland und die scheinbare, von den Anarchisten
ausgehende Provokation von Konflikten mit der Polizei, die nur zu froh war,
gegen sie vorgehen zu können, führte zu einer nationalen Debatte sowohl
innerhalb als auch außerhalb der Bewegung über die Rolle der Anarchisten und
des Anarchismus. Die anarchistische Dominanz in der Bewegung in Oakland
führte zu einer gewissen Entfremdung von der Bewegung bei anderen Gruppen
und vielen Einzelpersonen. Als die Fähigkeit, militante Massenaktionen zu
organisieren und sich an großen Aktionen zivilen Ungehorsams zu beteiligen,
schwand, verlagerten viele Occupy-Gruppen ihren Fokus auf Initiativen auf
Stadtteilebene, mit dem Argument, dass man so Occupy in die Mitte der
Gesellschaft führen würde. Das Gefühl des Verlusts von Dynamik und Größe
zusammen mit fehlender Klarheit darüber, welche Projekte und Kampagnen man
angehen soll, und fehlender Klarheit über die langfristigen Ziele führte in
vielen Bereichen zu einer Fragmentierung, manchmal sogar zu kleinen
rivalisierenden Gruppen in der gleichen Stadt. 


DIE SOZIALISTISCHE KRITIK AN OCCUPY 

Alle von uns, die an Occupy teilgenommen haben, wissen, wie schwierig es
war, zu versuchen, Einfluss auf eine Bewegung zu nehmen, die so groß war,
geografisch so ausgedehnt, so unterschiedlich in der sozialen
Zusammensetzung und der politischen Orientierung und so festgelegt auf ihre
populistischen Strukturen wie Vollversammlungen und autonome Aktionsgruppen.
Trotzdem war es damals und ist es heute wichtig, deutlich zu machen, was wir
als die Stärken und Schwächen der Bewegung gesehen haben, von denen viele
hier bereits beschrieben wurden. Das Fehlen demokratischer Strukturen, mit
denen Occupy-Aktivisten ihre Ideen hätten diskutieren, Strategien
verabschieden und Führungen wählen können, hat die Bewegung stark behindert.
Während Konsens bei bestimmten Arten von Organisationen oder auf bestimmten
Stufen des Organisierungsprozesses eine wertvolle Methode sein kann, hat er
bei Occupy zur "Tyrannei der Strukturlosigkeit" geführt, die alle Versuche
vereitelt hat, der Bewegung Ziel und Richtung zu geben. 

Die Führung, das heißt das Fehlen jeglicher Führung, war auch ein ernstes
Problem. Die Occupy-Bewegung brachte Führer aller Art hervor, gute,
schlechte und gleichgültige, aber die offizielle Position der
"Führungslosigkeit" machte es unmöglich, eine politisch
rechenschaftspflichtige, transparente und verantwortliche Leitung zu haben.
Wegen des Fehlens einer demokratischen Struktur und ohne klare und
rechenschaftspflichtige Führung der Bewegung als Ganzes wurde die Leitung in
jeder Stadt von autonomen Aktionsgruppen oder Bezugsgruppen, die jede ihren
eigenen Kurs verfolgte, erobert oder übernommen. Zwar gab es viel Energie
und Kreativität und oft auch Klassenbewusstsein und Kampfbereitschaft in
diesen Aktionen, doch wurde all das in der kaleidoskopischen Vielzahl von
Vorträgen, kulturellen Veranstaltungen, Märschen, Demonstrationen und
Aktionen zivilen Ungehorsams verzettelt und zersplittert. Occupy war nach
einer amerikanischen Redensart der "Karneval der Unterdrückten", aber nicht
der Hammer der Unterdrückten. 

Ohne Struktur und ohne Führung hat sich Occupy als unfähig erwiesen,
entweder eine Strategie des Kampfes oder ein politisches Programm für die
Bewegung zu entwickeln. Der brillante 99 %-Slogan, die Kritik der sozialen
Ungleichheit, und die Forderung, dass das große Geld aus der Politik
verschwinden soll ("Get money out of politics"), weckten die Phantasie der
Öffentlichkeit. Occupy neigte dazu -- und das war ihre große Stärke -- alle
wichtigen sozialen Fragen aufzugreifen, von Arbeitslosigkeit bis zu
Wohnraum, von Bildung bis zum Gesundheitswesen und viele andere Probleme,
kleine und große. Doch Occupy ist es nicht gelungen, diese Ideen in ein
brauchbares politisches Programm umzusetzen, eine alternative politische
Ökonomie, die die amerikanische Öffentlichkeit hätte ansprechen können.
Gleichzeitig ist es ihr auch nicht gelungen, eine Strategie des Kampfes zu
entwickeln, die die Bewegung von der Besetzung von Parks zu
Auseinandersetzungen in großem Maßstab mit wirtschaftlichen und politischen
Institutionen hätte führen können. 

Ein weiteres Problem war, dass Occupys soziale Zusammensetzung in den
meisten Orten überwiegend weiß geblieben ist. Im Großen und Ganzen ist es
Occupy nicht gelungen, Afroamerikaner, Latinos und Einwanderer zu
aktivieren. Zwar gab es in den meisten Städten Latinos und Afroamerikaner
unter den Occupy-Führern und strömten in einigen Orten farbige Aktivisten
zur Bewegung, doch hatte Occupy nie eine tiefe Verankerung in der farbigen
Bevölkerung. Zu ihren Gunsten muss man auch erwähnen, dass Occupy in
verschiedenen Städten "Occupy the Hood"-Gruppen [Besetzt den Stadtteil]
gebildet hat, von denen viele von afroamerikanischen und Latino-Aktivisten
geführt wurden. Doch hatten diese Gruppen meist nur begrenzten Erfolg. Auch
beklagten sich Frauen und LGBT-Aktivisten in vielen Städten, dass sie sowohl
aus der Führung ausgeschlossen als auch als Teilnehmerinnen und Teilnehmer
schikaniert wurden, aber auch dass ihnen gesagt wurde, ihre Anliegen seien
spalterisch. Occupy hatte weniger Erfolg, sich diesem Problem zu stellen.


WARUM IST OCCUPY INS STOCKEN GERATEN UND WIE SOLL ES JETZT WEITERGEHEN?

Der Hauptgrund, dass Occupy in den meisten Bereichen ins Stocken geraten
ist, war einfach die enorme Repression gegen die Bewegung, die von den
höchsten Ebenen der US-Regierung koordiniert und von bundesstaatlichen und
lokalen Behörden ausgeführt wurde: die Vertreibung der Besetzer aus den
Parks, die enorme Zahl von Festnahmen, die gewalttätigen Angriffe mit
Schlagstöcken, Tränengas und in einigen Fällen sogar das Abfeuern von
Gummigeschossen. Nachdem die Occupyer aus den öffentlichen Räumen vertrieben
worden waren, wurden diese von der Polizei besetzt. Hinter all dem stand
eine massive Überwachung der Occupy-Bewegung, begleitet von Intrigen der
Polizei und dem Einschleusen von Provokateuren, um Occupy-Aktivisten Fallen
zu stellen und sie dann wegen Terrorismus anzuklagen. Meist gelang es Occupy
nicht, das zu erreichen, was sie möglicherweise hätte erreichen können, weil
sie bereits in der Wiege von der Polizei erwürgt wurde. 

Niemand will Occupy voreilig für tot erklären, aber im Moment sind ihre
Vitalfunktionen schwach. Die Bewegung hat ihre Fähigkeit verloren,
Zehntausende zu mobilisieren, die sie noch vor weniger als einem Jahr hatte.
Ihre Vitalität und Kreativität scheinen nachgelassen zu haben, ihre Zahlen
scheinen zu schrumpfen, und damit ist sie von den Titelseiten der Presse
verschwunden. In vielen Gebieten, in denen Occupy einst als Symbol der
Opposition gegen das Establishment oder das System als Ganzes in all seinen
Manifestationen stand, wurde sie jetzt darauf reduziert, in einzelnen
Ein-Punkt-Kampagnen mitzuarbeiten, häufig in
Anti-Gentrifizierungs-Bewegungen der Arbeiterklasse und der Armen in den
Stadtzentren. 

Während wir dies schreiben, Ende Juli 2012, scheint es unwahrscheinlich,
dass Occupy wiederbelebt werden kann, auch wenn es möglich wäre. Es bleibt
die Frage, was von den Occupy-Erfahrungen unserer Meinung nach gerettet
werden kann. Erstens können wir alle Lehren bewahren, die wir versucht
haben, hier zu ziehen: die Anerkennung der große Stärken von Occupy, als
eine jener seltenen und schönen sozialen Bewegungen, die sich erheben, um
das System als Ganzes in Frage stellen, die in diesem Fall aber von
staatlicher Repression leider schon in der Wiege erstickt wurde, bevor sie
heranreifen konnte, um die Aufgaben anzugehen, vor denen sie stand. Zweitens
können wir versuchen, den von Occupy geschaffenen Kader zu retten, die
Männer und Frauen, junge und alte, die zu Occupy strömten, das Licht der
Erkenntnis sahen, dass das Problem das System des Kapitalismus ist, zu
Aktivisten geformt und durch der Erfahrung verändert wurden. Wir wissen,
dass andere Massenbewegungen von unten gegen dieses System entstehen werden,
und wir wissen, dass wir mehr Sozialistinnen und Sozialisten brauchen
werden, um zu helfen, eine Führung für eine solche Bewegung zu entwickeln. 




Dan La Botz kommt aus Cincinnati und ist Lehrer, Schriftsteller und
Aktivist. Er ist Mitglied des Nationalkomitees von Solidarity. 
Robert Brenner ist der Autor von "The Boom & the Bubble" (2002), "The
Economics of Global Turbulence" (2006), "Property & Progress" (2009), und
einer der Herausgeber von Against the Current. Er ist der Direktor des
Center for Social Theory and Comparative History an der Universität von Los
Angeles (UCLA). 
Joel Jordan war einige Jahrzehnte führend in der Lehrergewerkschaft United
Teachers in Los Angeles tätig, wo er erfolgreich Basisinitiativen aufbaute,
um die Gewerkschaft für eine Orientierung auf Partnerschaften mit
Stadtteilgruppen zu gewinnen, um die öffentliche Bildung zu erhalten und zu
verbessern. Er war in der Kampagne für die Millionärsteuer aktiv.
9. August 2012 
Übersetzung und [Anmerkungen]: Björn Mertens



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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2012    (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
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[1]  "Vergoldetes Zeitalter" in den USA von ca. 1876 bis 1914 -- Anm. d. Üb.
[2] http://www.nycga.net/resources/declaration/
[3]  Medicare ist ein Gesundheitsdienst für Personen über 65. Medicaid ist
ein Gesundheitsfürsorgeprogramm für Personen mit geringem Einkommen, Kinder,
ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. -- Anm. d. Üb.
[4]  Spanisch für "Die Empörten" -- Anm. d. Üb.
[5]  Nach einer "modernen", vor allem von der Libertarian Party vertreten
Ansicht, sind beide US-amerikanischen Hauptparteien "etatistisch", also für
eine starke Rolle des Staates (während nur sie selbst "libertär", also für
"weniger Staat" und eine stärkere Rolle des Individuums seien). Der
Unterschied bestehe nur darin, dass die Demokraten als "etatistische
Liberale" für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und ein gutes,
kostengünstiges Bildungssystems eintreten, während die Republikaner als
"etatistische Konservative" eine starke Armee als Weltpolizist, die
Einhaltung enger Moralvorstellungen und hohe Landwirtschaftssubventionen
anstreben (all das trotz Steuersenkungen) durch eine starke Rolle des
Staates. -- Anm. d. Üb.
[6]  Der Democratic Leadership Council (DLC) ist eine 1985 gegründete
Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den vermeintlichen
"Linksruck" der Demokratischen Partei seit Ende der 1960er Jahre zu
korrigieren. Als ihren größten Erfolg wertet sie die Kandidatur von Bill
Clinton. 2008 unterstützte der DLC Hillary Clinton gegen Barack Obama. --
Anm. d. Üb.
[7]  LGBT: Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle. Von denen, die sich nicht
einordnen lassen können oder wollen, wird gelegentlich noch ein "Q" für
"queer" angehängt. -- Anm. d. Üb.
[8]
http://www.dailykos.com/story/2011/11/15/1036711/-Updated-Homeland-Security-
FBI-Others-Advise-US-Conf-Mayors-Coordinated-Occupy-Crackdowns
[9] http://stpeteforpeace.org/occupyarrests.sources.html
[10] http://www.solidarity-us.org/site/node/3477
[11] http://www.solidarity-us.org/site/node/3457




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