[IPK] Südafrika: Marikana -- ein Wendepunkt?

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Fr Nov 16 20:46:01 CET 2012


Südafrika:
Marikana -- ein Wendepunkt?
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Auch wenn der Streik der schwarzen Minenarbeiter in Marikana mit
zwischenzeitlichen Lohnerhöhungen zwischen 10 und 20 % weit hinter den
ursprünglichen Forderungen zurückgeblieben ist, bleibt der folgende Artikel
hinsichtlich der Tragweite der Ereignisse auf die südafrikanische
Gesellschaft aktuell. Inzwischen (Mitte Oktober) befinden sich fast 100 000
Bergarbeiter im wilden Streik und blockieren trotz Massenentlassungen die
Platinminen. Die Kritik am ANC wegen dessen Unvermögen, die schwarze
Bevölkerung am Rohstoffreichtum teilhaben zu lassen, wächst, und Präsident
Zuma verliert immer mehr die Initiative und beschränkt sich mittlerweile
darauf, einen "konstruktiven sozialen Dialog" einzufordern. Das Vertrauen
der internationalen Investoren in das Krisenmanagement der Regierung
schwindet ebenso wie der Kurswert des Rand. Die Aktien der Rohstoffkonzerne
geraten unter Druck und der Platinpreis explodiert. Und ein Ende der größten
Erhebungen seit dem Sturz der Apartheid ist nicht in Sicht. [AdÜ]


Von Martin Legassick


Das Massaker vom 16. August in Marikana mit mindestens 34 toten und über 80
verletzten Bergleuten hat Wut und Entsetzen über Südafrika hinaus
hervorgerufen. Die Geschichte unseres Landes könnte dadurch einen
entscheidenden Wendepunkt erfahren haben.

Die Stadt Marikana liegt in einer Ödnis, die im Winter von dürrem Gras
überzogen ist und wo sich hie und da bewachsene Steinhügel (kopjes) finden.
Die drei Minen, die der Lonmin [1] gehören -- Karee, West und East Platinum
-- liegen am Rande der Stadt. Zwei davon sind von einer Siedlung mit
Wellblechhütten umgeben, zwischen denen Wäscheleinen gespannt sind. Dort, in
Enkanini, lebt die Mehrzahl der Bergleute.

Überragt wird die Siedlung von den Gebäuden der Minengesellschaft und einem
riesigen Umspannwerk mit Strommasten, die das Gelände zerschneiden. Diese
Verschachtelung von Bergbau und Energieerzeugung in einem sog.
mineral-energy complex (MEC) ist spezifisch für die südafrikanische
Wirtschaft und wurde Ende des 19. Jh. als Modell auf Grundlage der billigen
Arbeitskraft der schwarzen Wanderarbeiter entwickelt. Mittlerweile wurde
lediglich das Gold durch Platin als Hauptabbauprodukt ersetzt.

Südafrika liefert drei Viertel des weltweiten Platinbedarfs, der bspw. beim
Bau von Fahrzeugkatalysatoren sowie bei der Schmuckerzeugung entsteht. Als
Goldproduzent hingegen ist das Land vom ersten auf den fünften Platz
zurückgefallen. Die Bergarbeiter stammen noch immer vorwiegend aus der
Provinz Ostkap, die während der Apartheid am meisten von der Wanderarbeit
betroffen war. Ein Drittel der Beschäftigten sind Leiharbeiter, die gegen
niedrigen Lohn und ohne jede soziale Absicherung arbeiten.

Die Hauer in den Platinminen arbeiten unter Tage bei Temperaturen von
40--45 °C unter beengten, feuchten und stickigen Bedingungen, ständig
bedroht durch herab fallendes Gestein. Die 3000 Bergleute, die dabei täglich
ihr Leben aufs Spiel setzen, sind in den Streik getreten, um Lohnerhöhungen
von monatlich 4000 auf 12 000 Rand durchzusetzen.

Die enormen gesellschaftlichen Gegensätze im heutigen Südafrika kommen
gerade in diesem Nebeneinander von MEC und Enkanini zum Vorschein. In dem
Elendsquartier teilen sich 50 Menschen eine Toilette im Freien, aus den
wenigen Wasserhähnen tröpfelt ein Rinnsal, Krankheiten werden über die
Abwässer aus den undichten Rohren verbreitet und die Kinder suchen sich ihre
Nahrung auf den Müllhalden. [2]

Unter der ANC-Regierung seit dem Ende der Apartheid 1994 haben die
Gegensätze noch weiter zugenommen. Die Unternehmensvorstände kassieren
Millionen an Gehältern und Boni, während fast ein Drittel der Menschen von
432 Rand [3] oder weniger im Monat leben müssen. Die Gehälter der drei
Spitzenmanager von Lonmin lagen 2011 bei 4,6 Mio. Rand (/Sunday
Independent/, 26. August 2012). Einzelne Schwarze, die nach 1994 infolge
eines Abkommens der weißen Kapitaleigner mit der Regierung in die
Unternehmensvorstände gehievt wurden, glänzen durch unglaubliche
Verschwendungssucht. Cyril Ramaphosa, ehemaliger Generalsekretär der
National Union of Mineworkers (NUM) und jetziger Direktor von Lonmin, hat
unlängst einen seltenen Büffel zum Preis von 18 Mio. Rand gekauft -- was
umso größere Empörung unter den Bergleuten von Marikana hervorgerufen hat,
als er lediglich 2 Mio. Rand für die Beerdigungskosten der ermordeten
Bergmänner spendete. Die Arbeitslosigkeit in Südafrika liegt real bei
35--40 % und höher noch unter den Frauen und Jugendlichen, und damit
weltweit an erster Stelle.


AUF DER FLUCHT ERSCHOSSEN

In den Medien war zu sehen, wie die Polizei mit Maschinenpistolen auf die
streikenden Bergleute schoss, die von den Hügeln herab auf sie zu rannten,
und wie die tödlich Getroffenen zu Boden fielen. Die Polizei hatte eine
Sperre aus Stacheldraht errichtet mit einer 5 m breiten Lücke, durch die die
Bergleute zurück nach Enkanini zu flüchten versuchten, um dem Tränengas und
den Wasserwerfern zu entkommen.

Die meisten Toten gab es jedoch nicht dort, wie beschämender Weise durch
Nachforschungen der Universität von Johannesburg statt durch Journalisten
enthüllt wurde. Denn das Gros der Streikenden flüchtete vor der Polizei in
die genau entgegengesetzte Richtung. Auf einem hinter der Hügelsiedlung
gelegenen "kopje" sind noch die Spuren der Blutlachen zu sehen. Die gelben
Markierungen der Polizei auf diesem "Todeshügel" zeigen, wo vormals die
Leichen lagen, und die vorgenommenen Etikettierungen reichen bis zum
Buchstaben "J". Auch aus Hubschraubern wurde auf die flüchtenden Arbeiter
geschossen und andere wurden, nach Angaben der Bergleute, von
Panzerfahrzeugen der Polizei zerquetscht. Binnen weniger Tagen hat die
Polizei auf dem ganzen Gelände die Gummigeschosse, Patronenhülsen und
Tränengasgranaten beseitigt. Nur verkohlte Grasflecken weisen noch darauf
hin, dass die Polizei Spuren durch gezieltes Abbrennen verwischt hat. 

Die Zahl der Todesopfer liegt ziemlich sicher über den offiziellen Angaben
von 34, da noch immer Arbeiter vermisst werden.

Allem Anschein nach hat die Polizei keineswegs in Panik auf die Arbeiter
geschossen, in der Annahme, dass diese sie mit Stöcken und Macheten
angreifen würden. Warum sollte sie dann eine schmale Lücke im Stacheldraht
lassen? Und warum tötet sie Arbeiter, die von den Polizeistellungen
wegrennen? Vielmehr war es eiskalter Mord, den eine hochgerüstete Polizei
begangen hat, um den Streik zu brechen, und zwar auf Befehl von ganz oben.
Die Autopsien haben jüngst ergeben, dass den meisten Arbeitern in den Rücken
geschossen wurde, was zeigt, dass sie auf der Flucht niedergemacht wurden.

Infolge der globalen kapitalistischen Krise ist der Absatz von Neufahrzeugen
und damit der Platinpreis zurückgegangen, was auf die hohen Profite von
Lonmin drückt. Das Unternehmen weigerte sich, mit den Streikenden zu
verhandeln und drohte stattdessen in altbewährter Manier mit
Massenentlassungen. Da durch den Streik täglich 2500 Feinunzen Platin im
Gegenwert von 3,5 Mio. Dollar weniger gefördert werden, war das Unternehmen
natürlich bestrebt, den Streik zu zerschlagen. Ein Vorstandsmitglied aus der
Platinindustrie wird mit den Worten zitiert, dass, wenn die Löhne auf 12 500
Rand erhöht würden, "der gesamte Platinabbau dichtgemacht werden müsse"
(/New Age,/ 20. August 2012).

Das Massaker hat sich jedoch als Bumerang für die Unternehmer erwiesen und
nur den Zorn und die Entschlossenheit der Bergleute von Marikana, den Streik
aufrecht zu erhalten, verstärkt. "Lieber sterben wir, als auf unsere
Forderung zu verzichten", hieß es auf einer Protestkundgebung am 22. August
in Johannesburg. Nach dem Massaker hat sich der Streik sogar noch auf die
Beschäftigten der Unternehmen Royal BaFokeng Platinum und Anglo American
Platinum ausgeweitet, und selbst ein Generalstreik in dem Sektor ist
inzwischen nicht mehr auszuschließen.

Riah Phiyega, der Polizeichef, besuchte unmittelbar vor dem Massaker die
Polizei in Marikana. Am Tag des Massakers selbst erklärte ein
Polizeisprecher: "Heute ist der Tag X" (/Business Report/, 17. August 2012).
Nach den Morden meinte Phiyega: "Wir haben richtig gehandelt" (/The Star/,
20. August 2012). Die ANC-Regierung handelt als Komplize bei diesen Morden
im Dienst der weißen Bergwerkunternehmer.


DER ANC ALS ERFÜLLUNGSGEHILFE POLIZEILICHER GEWALT

Das Massaker ist typisch für das gewaltsame Vorgehen von ANC und Polizei
gegen soziale Proteste, das bereits in den vergangenen Jahren mehrere Opfer
gefordert hat, u. a. den Führer der South African Municipal Workers Union
(SAMWU), Petros Msiza. Natürlich verliert der ANC dabei seine moralische
Autorität, die er sich in den Jahren des Befreiungskampfes erworben hat.
Nach dem 16. August versuchte Jacob Zuma, der südafrikanische Präsident,
diese Klippe zu umschiffen, indem er sich von den Morden distanzierte und
die tragischen Ereignisse bedauerte. Bei seinem Besuch in Marikana sechs
Tage danach wurde er von den Kumpels kühl empfangen, obwohl er offizielle
Trauer ausgerufen und eine Untersuchungskommission eingerichtet hatte. Damit
versucht er, sich und den ANC zu rehabilitieren, bevor er sich im Dezember
auf der ANC-Konferenz in Mangaung zur Wiederwahl stellen muss.
Dementsprechend ist der Zeitplan: Die Kommission soll ihren Bericht in fünf
Monaten -- und damit nach der Konferenz -- vorlegen und bis dahin soll alle
öffentliche Diskussion darüber abgewiegelt werden.

Die Minenarbeiter trauen dieser offiziellen Kommission wenig und fordern
eine unabhängige Untersuchungsinstanz und die Aufhebung der Anklagen gegen
die 259 verhafteten Kumpel. Wie einer von ihnen sagt: "Derselbe, der den
Schießbefehl gegeben hat, hat nun die Kommission ernannt." (/Business
Day,/23. August 2012).

Der frühere und inzwischen ausgeschlossene Jugendführer des ANC, der
Populist Julius Malema, versucht von den Ereignissen zu profitieren, indem
er -- mit Vorwürfen an die Adresse des Präsidenten -- Marikana einen Besuch
abstattet und den Familien der Getöteten seine Unterstützung anbietet. Auch
die anderen Führer der parlamentarischen Opposition haben sich wie die
Aasgeier als Delegation am 20. August in Marikana eingefunden, um ihr
Beileid abzustatten. Bei der dortigen Prozession machten sich gleich 20
Prediger gegenseitig das Mikrofon streitig.


GEWERKSCHAFTLICHE FLÜGELKÄMPFE

Nach Medienberichten ist die Gewalttat Folge der Rivalität zwischen der NUM
und der Association of Mineworkers and Construction Union (AMCU). Dies ist
insofern unsinnig, als die Grubenarbeiter mit ihrem Streik direkte
Verhandlungen mit der Konzernleitung erzwingen und nicht durch irgendeine
Gewerkschaft vertreten sein wollten. Und auch auf den Versammlungen nach dem
Massaker in Marikana und auf der Protestveranstaltung am 22. August wurde
nochmals ausdrücklich darauf verwiesen. Auch zuvor war der Streik gewaltsam
verlaufen und hatte bereits vor dem Massaker zehn Opfer -- sechs
Bergarbeiter, zwei Wachleute und zwei Polizisten -- gefordert.

Die National Union of Mineworkers (NUM) gilt mit ihren 300 000 Mitgliedern
als traditionelle Vertreterin der Bergarbeiter und ist während des
Anti-Apartheid-Kampfes entstanden. Sie kann auf eine kämpferische Tradition
zurückblicken, wie den Streik von 1987 unter der Führung von Cyril
Ramaphosa. Nach 1994 jedoch orientierte sie zunehmend auf
Sozialpartnerschaft und mit Lonmin hatte sie ein zweijähriges Abkommen über
jährliche Lohnerhöhungen von 8--10 % geschlossen.

Als die Bergarbeiter für Lohnerhöhungen um mehr als das Doppelte in den
Streik traten, versuchte die NUM abzuwiegeln. Nach Aussagen der Streikenden
war die NUM für den Tod von zwei Bergarbeitern zu Beginn des Streiks
verantwortlich. Frans Baleni, der Generalsekretär der NUM, sprach noch zwei
Tage vor dem Massaker von den Streikenden als "kriminellen Elementen"
(/Business Report/, 15. August 2012). Das Massaker erklärte er zu einem
"bedauerlichen" Ereignis, für das er aber nicht die Polizei verantwortlich
machte, sondern "dunkle Kräfte, die die Arbeiter verführen". [4] Balenis
Gehalt beträgt monatlich 77 000 Rand, d. h. zehnmal so viel wie das der
Bergarbeiter. Mitglieder der NUM in Marikana haben ihre T-Shirts mit dem
Gewerkschaftslogo zerrissen und weggeworfen, und auf der Protestkundgebung
am 22. August in Johannesburg wurde ein Redner der NUM von den Kumpels aus
Marikana ausgebuht.

Nutznießer der Lage ist die AMCU, die vor dem Streik nur 7000 Mitglieder in
Marikana hatte, und zwar in Karee, wo nicht gestreikt wurde. Sie waren nach
einem Streik im Vorjahr gemeinsam mit einem desillusionierten NUM-Sekretär
übergetreten. Inzwischen schließen sich auch Arbeiter der West and East
Platinum der AMCU an. 

Die Gewerkschaft ist entstanden, nachdem ihr gegenwärtiger Vorsitzender
Joseph Mathunjwa 1999 von einem Kohlebergwerk in Mpumalanga entlassen und
dann auf Druck der Beschäftigten hin wieder eingestellt, zugleich jedoch von
der NUM wegen "gewerkschaftsschädigenden Verhaltens" disziplinarisch belangt
worden war. Nach seinem anschließenden Ausschluss aus der NUM (deren
damaliger Vorsitzender Gwede Mantashe bezeichnenderweise inzwischen
Generalsekretär des ANC ist) gründete er die AMCU.

Inzwischen gehören ihr 30 000 Arbeiter der Kohlen-, Chrom- und Platinminen
in Mpumalanga, der Kohlenbergwerke in KwaZulu-Natal, der Chrom- und
Platinminen in Limpopo oder der Eisen- und Manganbergwerke in Nordkap an.
Auch unter der 30 000-köpfigen Belegschaft der Impala Platinum (ein
Riesenkomplex mit 14 Schächten) in Rustenburg, wo im Februar/März 4300
Arbeiter sechs Wochen lang streikten und es vier Tote gab, konnte sie
Mitglieder gewinnen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Vertretung der besonders
ungesicherten Leiharbeiter. Momentan lässt sich schwer abschätzen, ob sie
sich zu einer festen Organisation unter den Platinbergarbeitern entwickeln
kann oder ob sie bloß populistische Rhetorik betreibt.

Die AMCU gehört dem Gewerkschaftsverband National Council of Trade Unions
(NACTU) an, der Konkurrentin der Congress of South African Trade Unions
(COSATU). Beide waren aus dem Kampf gegen die Apartheid hervorgegangen, die
COSATU ist jedoch wegen ihrer Regierungsnähe unter Kritik geraten. 


ZWIST IN DER COSATU

Die Streiks in den Platinminen und das Massaker in Marikana fallen in die
Zeit unmittelbar vor dem 11. Kongress der COSATU Mitte September. Zwischen
der COSATU und dem ANC gibt es seit langem Differenzen wegen dessen
Wirtschaftspolitik, und in jüngster Zeit spitzen sich innerhalb der COSATU
die Differenzen darüber und über die Frage, ob Zumas Wiederwahl zum
ANC-Vorsitzenden und damit (voraussichtlich erneut) zum Staatspräsidenten
unterstützt werden soll. Der Vorsitzende der COSATU, Sdumo Dlamini,
unterstützt gemeinsam mit der NUM und der National Health and Allied
Workers' Union (NEHAWU) Zumas Kandidatur. Der Generalsekretär der COSATU,
Zwelinzima Vavi, sowie die National Union of Metalworkers of South Africa
(NUMSA) und die South African Municipal Workers Union (SAMWU) hingegen sind
in dieser Frage eher zurückhaltend. Andere Gewerkschaftsverbände sind sich
uneins.

In dem politischen Bericht, den Vavi dem Kongress vorlegen wird, ist von
einem "völligen Versagen des Staates" (was sich auf die Unfähigkeit der
Regierung bezieht, die Schulen in Limpopo mit Schulbüchern zu versorgen) und
von "wachsender sozialer Distanz zwischen der Führung und der Basis des ANC"
die Rede (/Mail and Guardian, /10.--16. August 2012).

Auf ihrem Kongress im Juni verabschiedete die NUMSA eine Resolution für die
Verstaatlichung der Industrie, in der es heißt, "dass Landeszentralbank,
Bergwerke, Ländereien und strategisch wichtige und monopolistische
Industriezweige umgehend und entschädigungslos verstaatlicht werden müssen,
wenn wir nicht infolge der Armut, Arbeitslosigkeit und extremen Ungleichheit
in der gegenwärtigen südafrikanischen Gesellschaft in Anarchie und
Gewalttätigkeit versinken wollen". (Notabene sprechen sich auch Julius
Malema und der Jugendverband des ANC für eine Verstaatlichung der Minen aus,
wohinter jedoch die Absicht korrupter schwarzer Geschäftsleute vermutet
wird, sich durch den Verkauf ihrer Anteile an den Staat bereichern zu
wollen.)

Die NUM ist in puncto Verstaatlichung zurückhaltender. Einer ihrer Sprecher
meinte kürzlich: "Wir sind für Verstaatlichungen, aber nur, wenn sie kein
Chaos stiften". In einem Papier vom Juni kritisiert die NUM "den Ruf nach
Verstaatlichung zur Lösung ... der Herausforderungen als populistische
Demagogie" -- wobei mit Herausforderungen die sozialen und ökonomischen
Bedingungen sowie das Unvermögen der Bergbauindustrie, notwendige
Veränderungen vorzunehmen und sich an die Bergbau-Charta [5] anzupassen,
gemeint sind (/miningmx/, 19. August 2012).

In seinem o.g. Bericht verweist Vavi auch auf "die wachsende Distanz
zwischen Führung und Basis in den COSATU-Gewerkschaften" (/Mail and
Guardian/, 10.--16. August 2012) -- eine Feststellung, die auch die NUM
betrifft. In einem kürzlich geführten Privatgespräch warnte der
Generalsekretär der NUM Vavi davor, seinen "Privatfeldzug" fortzuführen,
wenn er sein Mandat auf dem COSATU-Kongress behalten wolle.

Das Massaker wird nun sicher auch den Verlauf des Kongresses beeinflussen
und die Differenzen stärker hervortreten lassen. Manche Beobachter rechnen
mit einer Spaltung der COSATU während oder nach dem Kongress. Beide Flügel
in der Gewerkschaftsführung müssen sich jedoch dem Mitgliederverlust der NUM
und dem Erstarken der AMCU und anderer Gewerkschaften, die unzufriedene
COSATU-Mitglieder rekrutieren, stellen.

In einer Erklärung vom 23. August spricht die COSATU von "einer
koordinierten politischen Strategie, die von ehemaligen, im Unfrieden
geschiedenen Gewerkschaftsführern mit der Absicht betrieben wird, das Klima
der Gewalt und Einschüchterung in die Gründung separater sog. Gewerkschaften
umzumünzen, um die Gewerkschaftsbewegung zu spalten und zu schwächen".
Weiter heißt es, dass der COSATU-Kongress "darüber diskutieren muss, wie wir
diesem Versuch, die Arbeiterbewegung zu spalten und zu schwächen, entgegen
treten ... und diesen spalterischen Scheingewerkschaften und ihren
finanziellen und politischen Hintermännern das Wasser abgraben können". Mit
diesem Verweis auf die bedrohte Einheit der Arbeiter lassen sich die
Differenzen in der COSATU möglicherweise zudecken und die einflussreiche KP
Südafrikas (CPSA) wird sicherlich auf diese Strategie zurückgreifen.
Natürlich sind die wirklichen Spalter in der Führung der NUM, die die
Arbeiter zum Austritt aus der Gewerkschaft veranlassen, weil sie deren
Interessen nicht hinreichend vertreten.

Wenn es zu einer Spaltung der COSATU käme und die AMCU und andere
oppositionelle Gewerkschaften mit diesen abgespaltenen Gruppierungen
zusammen fänden, wären günstige Voraussetzungen vorhanden, eine
Arbeitermassenpartei zu propagieren, die dem ANC mit einem linken Programm
gegenüber treten und die Machtfrage stellen kann. Diese Konstellation ergäbe
sich aus gleichzeitigen Spaltungen traditioneller Arbeiterorganisationen und
dem Entstehen neuer Organisationen. Allerdings ist dieses Szenario für die
nahe Zukunft wenig wahrscheinlich.

Wie der Kongress in Mangaung für Zuma ausgehen wird, ist noch offen. Viel
wird davon abhängen, welche Folgen das Massaker nach sich ziehen wird.
Angeblich gibt es bereits Vorbehalte gegen Zuma aus den Reihen der
ANC-Führung (/Sunday Times/, 26. August 2012). Wenn der ANC die Wogen der
Empörung nicht erfolgreich glätten kann, könnte das Entsetzen über das
Massaker den Anfang vom Ende der ANC-Herrschaft einläuten. Auf alle Fälle
wird nichts mehr so sein wie zuvor.


Martin Legassick ist Mitglied der Democratic Left Front, einer
antikapitalistischen Einheitsfront. Nach dem Massaker bereiste er Marikana.
Übersetzung: MiWe



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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2012    (Internationale Pressekorrespondenz)
Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht
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[1]  Lonmin betreibt mehrere Bergwerke im Bushveld-Komplex in Südafrika und
ist heute mit 28.000 Beschäftigten der weltweit drittgrößte
Platin-Produzent. Das Unternehmen ist zu knapp 80 % im Besitz des Konzerns
Anglo Platinum, der wiederum eine vollständige Tochtergesellschaft von Anglo
American ist.
[2]  Für detailliertere Informationen über die Existenzbedingungen siehe:
Communities in the Platinum Minefileds
www.benchmarks.org.za/research/rustenburg_review_policy_gap_final_aug_2012.p
df
[3]  Entspr. 38,60 EUR [Anm. d. Red.]
[4]  Siehe Video der NMU: http://www.youtube.com/watch?v=1eLzskhdYwY
[5]  Die 2004 verabschiedete Charta sieht vor, dass bis 2014 die
Bergbaukonzerne 26 % ihres Kapitals in die Hände von Schwarzen legen und
40 % ihrer leitenden Angestellten Schwarze sein müssen. Faktisch dient diese
Maßnahme dazu, eine neue, schwarze bürgerliche Elite zulasten der alten
Eliten heranzuziehen. Ein beredtes Beispiel dafür ist Ramaphosa.



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