[IPK] Naher Osten: Kampf dem "Islamischen Staat"

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So Nov 2 15:17:16 CET 2014


Naher Osten:

Kampf dem "Islamischen Staat"

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Der gewichtigste bewaffnete Widerstand gegen den IS kommt von den
verschiedenen anderen syrischen Oppositionskräften und von der PKK-Strömung,
der wichtigsten politisch-militärischen Oppositionskraft der Türkei.

 

 

Von Süren

 

 

Die Ankündigung einer "internationalen Koalition" für den Kampf gegen den
"Islamischen Staat" (IS) ist der jüngste Akt in der Kette von Dramen, zu
denen der Interventionismus der westlichen Imperialismen im Nahen und
Mittleren Osten geführt hat. Die Erinnerung daran ist nicht einfach Ausdruck
eines notwendigen und wohlbegründeten Antiimperialismus, sie erlaubt
vielmehr die in der aktuellen Situation wirksamen Dynamiken zu verstehen,
die sich mit der Intervention von 2003 unter Führung der USA neu
herausgebildet hatten. So ist die scharfe Krise im Irak und in Syrien das
Glied in der Kette eines Teufelskreises, in dem die westlichen Imperialismen
Katastrophen produzieren und dann intervenieren, um der Folgen dieser
Katastrophen, soweit sie von ihnen mitbetroffen sind, Herr zu werden, wobei
sie dann noch fürchterlichere Katastrophen produzieren ...

 

Mag Dominique Villepin das auch nicht einsehen, aber dieser mörderische
Teufelskreis kommt nicht vom "Schlafwandeln" der westlichen Führungsfiguren
und ihrer angeblichen Unfähigkeit, "dem Druck der öffentlichen Meinung und
der Abfolge alptraumhafter Bilder zu widerstehen." [1] Wenn dem so wäre,
dann hätte der dem Gaza-Streifen aufgenötigte Horror schon lange eine starke
Reaktion der westlichen führenden Politiker hervorgerufen, zumal die
Mehrheit der Bevölkerung von diesen Massakern trotz des gewichtigen
ideologischen Apparats zur Rechtfertigung Israels und seiner Verbündeter
abgestoßen ist. Das Problem ist nicht die Unfähigkeit der westlichen
imperialistischen Führungspolitiker zu "sehen", was ist, sondern die für sie
bestehende Notwendigkeit, die Kontrolle zu behalten und zu verhindern, dass
die Bevölkerungen dieser Weltregion ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen.

 

Es sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die Koalition unter Führung der
USA zwei Imperativen gehorcht: der Verteidigung der Interessen der
transnationalen Ölkonzerne (Mobil, Chevron, Exxon und Total), die an die
zehn Milliarden Dollar in dieser Region investiert haben, und der (wenn auch
eine gewisse Distanz wahrenden) Aufrechterhaltung der Regime, die von den
USA und ihren Verbündeten selbst installiert worden waren. So hat nicht die
Einnahme von Mossul eine Reaktion hervorgerufen, sondern die Tatsache, dass
sich der IS den wichtigsten Ölfeldern näherte. Die Absetzung von al-Maliki
und seine Ersetzung durch Haider al-Abadi (von derselben Partei) ist nur
Kosmetik und eine grundlegende Änderung des offensichtlich gescheiterten
Regimes ist natürlich nicht vorgesehen.

 

So verbietet es sich, der US-Administration "humanitäre Motive" zu
unterstellen und die Koalition zu unterstützen, die sie auf die Beine zu
stellen trachtet. Nichtsdestotrotz ist es unmöglich, angesichts des vom IS
hervorgerufenen Grauens (Massenmord, Verfolgung religiöser Minderheiten und
von Sunniten anderer Richtungen, Zehntausende im Sindschar-Gebirge dem Tod
preisgegebene Jesiden) gleichgültig zu bleiben und sich darauf zu
beschränken, den US-Imperialismus anzuklagen. Das hieße, vor der Politik und
den Vorhaben autoritär-reaktionärer Regierungen dortiger regionaler Mächte
die Augen zu verschließen. Es handelt sich nicht nur darum, auf die Massaker
und brutalen Unterdrückungsmaßnahmen des IS zu reagieren, sondern auch, den
Teufelskreis zu durchbrechen, dem diese Weltregion unterworfen ist. Die
mächtigste Reserve, auf die sich der Imperialismus stützen kann, ist in der
Tat die konfessionelle und ethnische Spaltung.

 

 

DER IS IST EIN PRODUKT DER US-BESATZUNG IM IRAK

 

Die Besetzung des Irak wegen der Ölinteressen und dem Willen der USA, ihre
Hegemonie in dieser Weltregion aufrechtzuerhalten, veranschaulicht in
furchtbarer Weise diese Methode imperialistischer Kontrolle. Sicherlich hat
der militärische Angriff der USA, der viele Menschen das Leben gekostet und
viel zerstört hat, die Gesellschaft im Irak atomisiert, aber vor allem hat
der Imperialismus den Wiederaufbau des irakischen Staats in einer den
Konfessionalismus vorantreibenden Weise betrieben. Wenig überraschender
Weise haben sich die Politiker, die unter diesen Bedingungen an die Macht
gelangt sind, hauptsächlich als korrupte, inkompetente und den
Konfessionalismus bereitwillig bedienende Emporkömmlinge entpuppt. Ein
Beispiel dafür ist Nuri al-Maliki, der seit 2006 bis zum 8. September 2014
Premierminister war. Als ehemaliger Exilpolitiker der konfessionell
schiitischen Partei Dawa hat er die "Entbaathisierung" (vom Namen der
Baath-Partei Saddam Husseins) zum Instrument gegen die irakischen Sunniten
gemacht und ist nicht davor zurückgeschreckt, friedliche Demonstranten
gewaltsam zu unterdrücken. Kurz gesagt hat die Regierung von al-Maliki das
konfessionalistische Feuer geschürt und mit seinem Autoritarismus und seiner
Korruption dem "Islamischen Staat" mit schätzungsweise 15 000 bis 20 000
Kämpfern den Weg bereitet. Der IS erschien anfangs als heterogener
Zusammenschluss mit ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei, in dem dann die
Dschihadisten die Zügel in die Hand genommen haben. Abu Baghdadi, der
selbsternannte "Kalif", ist ein ehemaliger Leutnant von al-Zarqawi, dem
Führer des irakischen Zweigs der al-Qaida.

 

Außer von der Politik der irakischen Regierung und ihres großen US-Bruders
konnte der IS von zwei Faktoren profitieren, die für ihn sehr günstig waren:
vom sehr schlechten Zustand der irakischen Armee und von der Politik des
syrischen Diktators al-Assad.

 

Der Zusammenbruch der irakischen Armee gegenüber dem IS war nur ein Symptom
der Fäulnis des irakischen Staats. Unter operationellen Gesichtspunkten hat
die Einnahme von Mossul dem IS Zugang zu einem beachtlichen Waffenarsenal
(Panzer und Raketen aus US-Produktion) und zu beträchtlichen materiellen und
finanziellen Mitteln verschafft.

 

 

DIE SYRISCHE REVOLUTION IN DER FALLE ZWISCHEN DEM IS UND ASSAD

 

Zur gleichen Zeit hat der mit der syrischen Revolution konfrontierte
al-Assad die Dschihadisten aus dem Gefängnis freigelassen und in allererster
Linie die Kräfte des zivilgesellschaftlichen Widerstands bekriegt, mit dem
Ziel, in den Gebieten, die er nicht unter Kontrolle hatte, möglichst viel
Chaos zu schaffen. So konnte der IS auf einem syrischen Territorium
militärisch gegen einen Feind vorgehen, der sich auf zwei Fronten (gegen den
IS und gegen das Assad- Regime) zu wehren hatte und konnte dort seinen
"sicheren Hafen" errichten, so dass al-Baghdadi sein angebliches "Kalifat"
im syrischen Raqqa proklamieren konnte. Insofern spielt Nordsyrien eine
Schlüsselrolle für den IS.

 

Während al-Assad es vorgezogen hat, den IS ins Kraut schießen zu lassen,
wollen die USA -- und vor allem der US-Generalstab -- um jeden Preis ein
"irakisches" Szenario mit einem Zusammenbruch des bestehenden Regimes
vermeiden [2] und streben eine "jemenitische" Lösung an, bei der gewisse
Teile der Opposition in das Regime integriert werden was natürlich von einem
wirklichen Schritt in Richtung Demokratie weit entfernt wäre. So hat
al-Assad sich einen gewissen Manövrierspielraum erhalten können.

 

"Ergänzend" dazu hat der IS auch vom Wohlwollen der türkischen Regierung
profitiert, die von ihren Zielen benebelt war, al-Assad zu stürzen (um ihre
regionale Macht zu stärken und offensichtlich nicht mit demokratischen
Zielen) und die PKK zu schwächen, mit der sie gezwungen worden war zu
verhandeln. Über die Möglichkeiten des Transfers über türkisches
Staatsgebiet hinaus, hat der IS auch logistische Unterstützung und
Rekrutierungsmöglichkeiten erhalten. [3]

 

 

DIE KURDISCHEN KRÄFTE UND WAS FÜR SIE AUF DEM SPIEL STEHT

 

Der gewichtigste bewaffnete Widerstand gegen den IS kommt von den
verschiedenen anderen syrischen Oppositionskräften und von der PKK-Strömung,
der wichtigsten politisch-militärischen Oppositionskraft der Türkei.

 

Die PKK ist im gesellschaftlichen und politischen Gärungsprozess in der
Türkei in den 70er Jahren entstanden, gegründet von linken Studierenden und
ihrem historischen Führer Abdullah Öcalan, der in der Türkei inhaftiert ist,
aber immer noch die PKK und die von ihr geleitete Strömung anführt. Aus
einer Tradition, die als "stalinisierend" bezeichnet werden kann, ist es der
PKK gelungen, die anderen kurdischen Organisationen in der Türkei zu
überflügeln und im türkischen Teil Kurdistans eine Massenbasis zu gewinnen.
Die PKK-Richtung, die oft auf eine durchaus opportunistische Linie
einschwenken kann, repräsentiert die gewichtige kurdische Minderheit in der
Türkei politisch. Es muss außerdem unterstrichen werden, dass die
PKK-Richtung sehr feminisiert ist (sowohl in Hinblick auf die Anzahl der
weiblichen Mitglieder wie auch auf ihren Anteil an politischen und
militärischen Führungspositionen).

 

Der Ausdruck "PKK-Richtung" ist deshalb angebracht, weil die PKK nicht
einfach "die PKK" ist, sondern eine Reihe von breiteren Organisationen und
Schwesterorganisationen um sich versammelt. So hat die PKK in der Türkei wie
im Ausland politische Transmissionsriemen in Form von Parteien (an denen
minderheitlich auch nicht-kurdische Teile der politischen Linken
teilnehmen), militärische Einheiten, eine politisch-militärische
Organisation und demokratische Massenorganisationen. Weiterhin, und das ist
wesentlich, hat die PKK auch "Schwesterparteien" in ihrer Kontinuität in
Syrien (PYD, Partei der Demokratischen Union mit eigenen militärischen
Einheiten) und im Iran (PAJK, Partei der Freiheit und der Demokratie
Kurdistans [4]). Die PYD ist im Norden Syriens verankert und mit dem IS
konfrontiert. Der Kampf gegen den IS ist derzeit eine zentrale Achse der
Tätigkeit der PKK-Strömung.

 

Insofern ist es ganz falsch, den Kampf zwischen der PKK und dem IS darauf zu
reduzieren, dass die PKK in den Irak eindringen würde, um die Anhänger von
al-Baghdadi zu bekämpfen: Ein wichtiger Teil der Kämpfe spielt sich in
Syrien ab, wo diese Richtung bereits vorhanden war. Gleichwohl ist es
richtig, dass die PKK auf irakischem Territorium in den Sindschar-Bergen
interveniert hat, um den IS zu bekämpfen und Zehntausenden verfolgter
Jesiden zu helfen (einer religiösen Minderheit zoroastrischen Glaubens und
wesentlich kurdischen Ursprungs). Ihrer üblichen Praxis treu, hat die PKK
sich bemüht, eine aus Jesiden zusammengesetzte Schwesterorganisation zu
schaffen, die Widerstandseinheiten von Kirkuk-Mexmour. Im Norden Syriens hat
die PYD einseitig die Autonomie der von ihr kontrollierten Territorien
(Rojava, Westkurdistan) proklamiert, was andere im Kurdischen Nationalrat
organisierte kurdische Gruppen kritisiert haben. Diese Spannungen zwischen
der PYD und dem Kurdischen Nationalrat widerspiegeln nur die allgemeinere
Frontstellung zwischen der PKK und der Demokratischen Partei Kurdistans
(DPK) von Massud Barsani, der aus dem Feudalismus hervorgegangenen
politischen Führungsfigur und Chef der Regierung der kurdischen Autonomie im
Norden des Irak (mit dem auch der Kurdische Nationalrat in Syrien verbunden
ist).

 

Kurz gefasst wirft die PKK Barsani und seiner Regierung des autonomen
kurdischen Gebiets im Irak vor, gemeinsames Spiel mit der türkischen
Regierung gemacht zu haben, den IS aufgrund dieser Allianz im Norden Iraks
vordringen zu lassen haben und so indirekt für die militärischen Erfolge des
IS und für dessen Einnahme von Mossul verantwortlich zu sein. Umgekehrt
wirft M. Barsani der PKK vor, mit dem Regime von al-Assad Verbindungen zu
haben, das der PKK lange Zeit seine Grenzen in geöffnet hatte. Tatsächlich
ist die PKK-Richtung in den Anfängen der syrischen Revolution gegen al-Assad
nicht aktiv gewesen. Ihre -- gerechtfertigte -- Befürchtung war, dass die
Regierung von Ankara von der Situation profitieren würde, um sie mit allen
Mitteln zu schwächen. Ankara hat im Übrigen die Karte der Militarisierung
des Konflikts ausgespielt, indem es durch die Unterstützung
dschihadistischer Kräfte und Söldnergruppen dazu beigetragen hat, den
Konflikt in eine Sackgasse zu führen -- auch die Kräfte der nicht-kurdischen
Linken in der Türkei waren gegen diese Gruppen. Es ist übrigens kein Zufall,
dass während der demokratischen Bewegung vom Juni 2013 in der Türkei, der
dort so genannten Gezi-Park-Bewegung, die härtesten Konfrontationen in
Städten in der Nähe der syrischen Grenze stattfanden, wo die Grenze
passierende Milizionäre die gesellschaftlichen Spannungen zum Sieden
gebracht hatten. Seither bleibt für die PKK und die PYD der Hauptfeind der
IS, mit dem er unmittelbar konfrontiert ist und gegen den er auf dem
Kriegsschauplatz militärische Erfolge erzielen kann, während er gleichzeitig
die Herrschaft der Baath-Partei in den von ihr kontrollierten Territorien
zurückdrängt. Tatsache ist: Was auch immer man der PKK vorwerfen kann, ihre
Forderung nach Autonomie für Rojava ist legitim. An ihrem Kampf gegen den IS
anzuknüpfen und zugleich damit al-Assad zu isolieren, erscheint als
wichtiges Ziel.

 

Schlussendlich ist es von großer Bedeutung, die örtlich bestehenden
Potenziale der Selbstverteidigung zu ermutigen und zu stärken, um auf
mittlere Sicht die Logik der imperialistischen Interventionen in Frage zu
stellen. Das wird auch dazu beitragen, die kurdische Frage positiv zu
beantworten und damit eines der bedeutendsten Elemente der Spaltung zwischen
den Bevölkerungen dieser Weltregion zu überwinden.

 

 

Übersetzung: Manuel Kellner

 

 

 

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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2014    (Internationale Pressekorrespondenz)

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1] Dominique de Villepin, "En Irak, les ,Somnanbules? sont de retour -- Im
Irak sind die ,Schlafwandler? zurück",
http://www.liberation.fr/monde/2014/09/16/en-irak-les-somnanbules-sont-de-re
tour_1101806

[2] "We have learned from the past ten years; however, that is not enough to
simply alter the balance of military power without careful consideration of
what is necessary in order to preserve a functioning state."
(http://abcnews.go.com/blogs/politics/2013/07/gen-martin-dempsey-lays-out-us
-military-options-for-syria/)

[3]
http://www.nytimes.com/2014/09/16/world/europe/turkey-is-a-steady-source-of-
isis-recruits.html

[4] PAJK steht allerdings für Partiya Azadiya Jin a Kurdistanê -- Partei der
Freiheit der Frauen Kurdistans [Anm. d. Red.]

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