[IPK] Naher Osten: Solidarität statt Intervention!

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Naher Osten:

Solidarität statt Intervention!

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Die Ereignisse in Syrien und Irak überschlagen sich und werden immer
dramatischer. Und trotzdem ist die Situation so komplex, dass eine
angemessene Position zu finden außergewöhnlich schwerfällt.

 

 

Von François Sabado

 

 

Wir stehen vor einer völlig neuen Lage im Nahen Osten, wo eine ganze Region
in Chaos und Krieg versinkt und Barbarei in Gestalt des Islamischen Staates
(IS) herrscht, wo Staaten wie der Irak, Syrien, Libyen und -- demnächst
vielleicht -- Libanon zerfallen, zugleich die syrische Bevölkerung von einem
diktatorischen Regime abgeschlachtet wird und mittlerweile eine Intervention
von außen durch den Westen stattfindet. Diese Intervention der
imperialistischen Staaten ist keine Neuauflage des Einmarsches in
Afghanistan 2001 oder in den Irak 2003, wo es darum ging, durch den Einsatz
von Bodentruppen Territorien zu erobern und wirtschaftliche Interessen
(Erdöl) durchzusetzen. Vielmehr ist das Eingreifen mit heißer Nadel
gestrickt worden und es mangelt eher an einem festen Konzept, welche Ziele
in diesem Krieg genau verfolgt werden sollen. Natürlich wird sich die Lage
weiter entwickeln und die politische Konstellation durch den Gang der
Ereignisse und Verheerungen neu ausgerichtet werden.

 

 

DIE HISTORISCHE VERANTWORTUNG DES WESTENS

 

Die historische oder politische Verantwortung für die Entstehung und die
explosionsartige Vermehrung solch barbarischer Kräfte wie IS oder al-Qaida
liegt weitgehend bei den USA und den anderen Westmächten, wobei langfristig
auch das Versagen der arabisch-nationalistischen Regimes eine Rolle gespielt
hat. Denn durch die US-Intervention im Irak 2003 wurde dieses Land zerstört
und die ganze Region destabilisiert. Es würde jedoch zu kurz greifen, wenn
wir bei unserer Analyse der aktuellen Lage und den politischen
Schlussfolgerungen bloß die Verantwortung des westlichen Imperialismus
anprangerten. Vielmehr müssen dabei die zahlreichen Konflikte und Kriege in
der ganzen Region berücksichtigt werden, die einander beeinflussen und durch
westliche Interventionen und die Machenschaften anderer Mächte wie Russland,
Saudi-Arabien, Iran und Türkei noch überlagert werden. Hierbei wären
besonders zu nennen:

 

* Der Zerfall des irakischen Staates und der Konflikt zwischen der
korrupten, schiitisch dominierten Regierung und der IS, die einen Teil der
sunnitischen Stämme und Überreste aus der früheren Armee von Saddam Hussein
um sich schart. Eine weitere Dimension dieses Konflikts besteht im Angriff
der Dschihadisten auf die Kurden und ihre Organisationen.

 

* Der Krieg in Syrien zwischen der Assad-Diktatur einerseits und den
Islamisten wie dem IS, aber auch der FSA, andererseits, wobei letztere die
ursprüngliche Dynamik des Volksaufstandes verkörpert, die -- wenn auch
geschwächt -- noch immer in etlichen Städten und Dörfern vorhanden ist. Hier
rühren auch die taktischen Manöver der Diktatur gegenüber IS und al-Nusra
hinein, mit dem Ziel, den demokratischen Aufstand zu brechen.

 

* Die Einflussnahme der Regionalmächte wie Saudi-Arabien, Katar oder der
Türkei, die die Dschihadisten und sogar direkt den IS gegen das syrische
Regime mit Waffen beliefern, während dieses wiederum vom Iran und den
Hisbollah-Milizen unterstützt und am Leben erhalten wird.

 

* Der Überfall Israels auf Gaza, der auf die extreme Rechtswende der
israelischen Politik und Gesellschaft zurückzuführen ist, deren Speerspitze
wiederum die zionistisch-rechtsradikalen Siedlerorganisationen sind. Die
konterrevolutionäre Konfusion in der Gesamtregion wird u.a. durch die
Weigerung der israelischen Regierung unterhalten, ernsthafte und
kompromissorientierte Verhandlungen auch nur anzudenken.

 

 

Diese Gemengelage resultiert letztlich aus der unheilvollen Intervention der
imperialistischen Mächte und zugleich ihrer Schwächung und ihres
zurückgehenden Einflusses in der Region, was den verschiedensten
konterrevolutionären Kräften vor Ort mehr Freiräume und Unabhängigkeit
verschafft. Aufschlussreich hierfür ist ein Vergleich, wie präsent und stark
der US-Imperialismus Anfang der 90er bis noch vor wenigen Jahren in der
ganzen Region (Einmarsch in Afghanistan und Irak) war mit der heutigen
Situation.

 

Die USA haben ihre Truppen aus dem Irak nahezu komplett zurückgezogen bzw.
sind in Afghanistan dabei, nachdem sie dort eine politische und militärische
Niederlage erlitten hatten. Gesteigert wurde dieser Bedeutungsverlust noch
durch die Aufstände des Arabischen Frühlings. Die Folgen zeigten sich in dem
zögerlichen und schwankenden Vorgehen in der Folgezeit: die bloß indirekte
Intervention in Libyen, wo Frankreich und England an vorderster Front
engagiert waren; das Lavieren in Ägypten -- erst zugunsten von Mubarak, dann
der Muslimbrüder und schließlich von as-Sisi; Zurückhaltung gegenüber
Syrien, wo Washington zwar das Regime kritisiert, zugleich aber es nicht
allzu sehr schwächen will, damit es das Volk und den demokratischen Aufbruch
und zugleich auch die Islamisten im Zaum hält. Diese Weigerung zuvörderst
der Westmächte, die Demokratiebewegung zu unterstützen, ist einer der
Hauptgründe für den Durchbruch der Dschihadisten in Syrien und dann im Irak.

 

Bei all der Inszenierung der Konterrevolution ist den Imperialisten
inzwischen das Monster IS über den Kopf gewachsen. Er ist zu stark, zu gut
bewaffnet und geht zu weit mit dem Völkermord an den Jesiden, Kurden oder
Christen und in seinen Landansprüchen im Irak und Syrien und dem Zugriff auf
die Erdölvorkommen. Daher muss er geschwächt und entwaffnet werden. Insofern
haben sich die Westmächte und das Gros der Regionalmächte aus jeweils
eigennützigen Motiven entschlossen einzugreifen.

 

Es ist aber nicht nur die westliche Intervention, die die Völker dort
bedroht, sondern auch eine andere imperialistische Macht wie Russland, das
das syrische Regime unterstützt. Und auch die Regionalmächte, die
Golfstaaten, und all die korrupten Regimes dort unten. Aktuell jedoch ist
der Hauptverantwortliche für all die Barbarei in der Gegend der IS als
Ausgeburt des "Islamofaschismus", auch wenn diese Bezeichnung sehr vorläufig
ist. Wenn wir unsere Solidarität mit den Völkern der Region und besonders
den unterdrücktesten in Syrien und Kurdistan bekunden wollen, kommt es
darauf an, alle konterrevolutionären Tendenzen und alle Feinde zu benennen,
also auch diese Barbaren, deren kriminelles Vorgehen nicht als bloße Folge
der imperialistischen Intervention des Westens erklärt werden darf. Sie
tragen ihre eigene Verantwortung für das, was sie Zigtausenden von Opfern
antun.

 

 

DER NAHE OSTEN IM ZEICHEN DER KONTERREVOLUTION?

 

Dass die West- und Regionalmächte inzwischen intervenieren, liegt v.a.
daran, dass sie ihre -- nämlich Saudi-Arabiens, Katars und anderer Regimes
in der Region -- Kreatur, die ihnen über den Kopf gewachsen ist, wieder
vernichten müssen. Wie es allerdings so weit gekommen ist, lässt sich nur
verstehen, wenn man die aktuelle Entwicklung, die der "Arabische Frühling"
genommen hat, betrachtet. Daran kommt man nicht vorbei, auch wenn natürlich
richtig ist, dass sich letztlich die chronisch instabile Lage durch die
strukturelle Krise der herrschenden Klassen mit immer wieder aufflackernden
Massenbewegungen langfristig in einem revolutionären Prozess niederschlägt.

 

Und diese aktuelle Situation besteht nun mal in einer gesellschaftlichen
Polarisierung, in der sich Militärdiktatur und islamistische Kräfte,
manchmal auch -- wie in Libyen -- verschiedene islamistische Fraktionen
gegenüberstehen, auch wenn hier und da mal Streiks und soziale
Mobilisierungen, wie im Jemen, aufflackern. Die dominierenden Kräfte in
diesen Auseinandersetzungen sind -- leider -- die Konterrevolutionäre, ob
Militärs oder Islamisten. Dies gilt für Ägypten, wo sich Militärdiktatur und
Muslimbrüder gegenüber stehen, für Syrien, wo die Rebellion gegen die
Assad-Diktatur mittlerweile von den Islamisten dominiert wird, oder für den
Irak, der in schiitische, sunnitische und kurdische Regionen zerfallen ist.
Das (vorläufige) Scheitern des "Arabischen Frühlings" hat auch dazu
beigetragen, dass Israel die Gunst der Stunde genutzt hat, um Gaza
anzugreifen.

 

Das einzige Land, das sich diesem Prozess bisher entzogen hat, ist Tunesien.
Auch wenn man die islamistischen Kräfte dort, wie Ennahda, nicht
unterschätzen darf, können sie sich nicht durchsetzen, weil die Bevölkerung
spätestens seit der Jasminrevolution für ihre sozialen und demokratischen
Anliegen auf die Straße geht und eine Arbeiterbewegung mit einer starken
Gewerkschaft (UGTT) besteht.

 

Revolutionäre Prozesse müssen langfristig bewertet werden, insofern wäre es
falsch, von einem "islamistischen oder militärischen Winter" zu sprechen,
nachdem zuvor der "Arabische Frühling" ausgerufen worden war.
Nichtsdestotrotz muss man zugeben, dass der revolutionäre Prozess zum
Stillstand gekommen oder sogar zurückgedrängt ist. Und erst wenn man die
Gründe dafür kennt, begreift man die gegenwärtige Konstellation.

 

 

WIE MUSS UNSERE SOLIDARITÄT AUSSEHEN?

 

Wie gesagt, dürfen wir uns nicht bloß auf die US-Intervention kaprizieren,
zumal uns ohnehin -- im Gegensatz zu neo- oder poststalinistischen oder
anderen, bspw. chavistischen Strömungen -- das Denken in Lagerkategorien
seit jeher fremd ist. Wir gehen von den sozialen Interessen und den Rechten
der unterdrückten Völker aus, so wie wir auch bei dem Aufstand des syrischen
Volkes von Anfang an niemals auf die Idee gekommen wären, gemeinsam mit
Russland und dem Iran Assad zu unterstützen, bloß weil dieses Lager
vermeintlich dem westlichen Imperialismus gegenübersteht. Stattdessen galt
unsere Solidarität stets dem syrischen Volk in seinem Kampf gegen die
Diktatur.

 

Daher heißt Solidarität für uns, auf Seiten der Völker und ihrer Kämpfe zu
stehen, besonders der am meisten unterdrückten in Syrien, Irak und
Kurdistan, die gegen die Assad-Diktatur und die Mordbanden des IS kämpfen.

 

Wir sind gegen die Intervention der Imperialisten, weil es denen nicht um
Hilfe für die Bevölkerung geht, sondern um die eigenen strategischen,
wirtschaftlichen und militärischen Interessen vor Ort. Die US-Luftangriffe,
die zunächst militärischen Zielen in dünnbesiedelten Regionen galten,
fordern inzwischen auch zivile Opfer in Syrien. In anderen Gegenden hingegen
bleiben Luftschläge zur Rettung der Bewohner aus, wie syrische Rebellen oder
PKK-Kämpfer beklagen. Wie dem auch sei, jede militärische Intervention von
außen spielt nur dem IS in die Hände, der sich dann als Verteidiger der
Sunniten gegen den Westen aufspielen kann. Insofern kann es keine
Unterstützung für eine militärische Intervention von außen geben ... Mit der
gleichen Schärfe jedoch wenden wir uns gegen den IS, die Assad-Diktatur und
alle reaktionären Kräfte in der Region.

 

Stattdessen müssen wir mit allen Mitteln unsere Solidarität mit den von der
Barbarei betroffenen Völkern zeigen. Dies erfordert politische, humanitäre,
materielle und militärische Unterstützung für die Bevölkerung und
fortschrittliche Organisationen, die darum bitten, momentan also für die
demokratischen Kräfte unter den syrischen Rebellen und den kurdischen
Widerstand. Unsere Politik besteht darin, der dortigen Bevölkerung zu
ermöglichen, über sich selbst zu bestimmen, was zugleich jede Anpassung an
den Imperialismus ausschließt. Zugleich besteht unsere Solidarität darin,
gegen Rassismus und Islamophobie hier und jetzt einzutreten. Insofern kann
es auch kein Bündnis mit Kräften geben, die ansonsten die imperialistische
Politik decken.

 

Wenn jedoch seitens fortschrittlicher syrischer oder kurdischer Kräfte die
Bitte um Hilfe an unsere Regierungen ergeht, gibt es für uns kein Zögern, da
unser Kriterium die Rettung von Menschenleben und die Verteidigung der
Völkerrechte ist.

 

Trotzki schrieb dazu in dem Text "Lernt denken. Ein freundschaftlicher Rat
an gewisse Ultralinke.": /"Verwirft und sabotiert das Proletariat in
Friedenszeiten alle Handlungen und Maßnahmen der bürgerlichen Regierung?
Selbst während eines Streiks, der eine ganze Stadt umfaßt, treffen die
Arbeiter Maßnahmen, um die Belieferung ihrer Wohnviertel mit Nahrungsmitteln
sicherzustellen, ihre Wasserversorgung aufrechtzuerhalten und dafür zu
sorgen, daß die Krankenhäuser keinen Schaden erleiden usw. Solche Maßnahmen
gehen nicht auf Opportunismus gegenüber der Bourgeoisie zurück, sondern auf
die Interessen des Streiks selbst, auf Sorge um die Sympathie der
betroffenen städtischen Massen usw. Diese Grundregeln der proletarischen
Strategie in Friedenszeiten bleiben auch in Kriegszeiten vollauf in Kraft."
Und weiter unten: "In neunzig von hundert Fällen setzen die Arbeiter
tatsächlich ein Minuszeichen, wo die Bourgeoisie ein Pluszeichen setzt. In
zehn Fällen hingegen sind sie gezwungen, dasselbe Zeichen zu setzen wie die
Bourgeoisie, es jedoch mit ihrem eigenen Siegel des Mißtrauens gegen die
Bourgeoisie zu versehen. Die Politik des Proletariats leitet sich durchaus
nicht automatisch aus der Politik der Bourgeoisie ab, indem sie deren
Vorzeichen umkehrt (dann wäre jeder Sektierer ein Meisterstratege)."/ [1]

 

Dieses etwas längliche Zitat weist uns, jedes Mal eine konkrete Situation
auch konkret zu analysieren. Unser "eigenes Siegel" besteht darin, stets die
Verantwortung des Imperialismus zu benennen, das Misstrauen gegen seine
Politik zu schärfen und für politische Unabhängigkeit der sozialen und
nationalen Befreiungsbewegungen einzutreten. Aber unter den gegebenen
Kräfteverhältnissen und angesichts der Barbarei können auch mal die "10% der
Fälle" eintreten, wo die Arbeiterbewegung und die Solidaritätsbewegung
"dasselbe Zeichen" setzen wie unsere Regierenden.

 

Das Wichtigste dabei ist jedoch, eine unabhängige Solidaritätsbewegung
aufzubauen, die gegen die Militärinterventionen der Imperialisten genauso
eintritt wie gegen die Barbarei des IS. Eine fortschrittliche und
Arbeiterbewegung, die diesen Namen verdient, muss dafür eintreten, dass die
Völker dieser Region alle Möglichkeiten zur Selbstbestimmung erhalten. Bei
der gegenwärtigen Lage der europäischen Arbeiterbewegung ist dies schwer
umsetzbar, nichtsdestoweniger unerlässlich. Unsere Aufgabe ist es, dafür
einzutreten, auch wenn wir schwach sind und gegen den Strom schwimmen.

 

 

Übersetzung: MiWe

 

 

 

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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2014    (Internationale Pressekorrespondenz)

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1] Leo Trotzki, "Lernt denken. Ein freundschaftlicher Rat an gewisse
Ultralinke" (22. Mai 1938, zuerst veröffentlicht in der theoretischen
Zeitschrift /New International/, New York, Jg. 4, Nr. 7, Juli 1938),
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/05/denken.htm

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