[IPK] Andreas Sartzekis: Alexis, was hast du aus unserem Sieg gemacht?

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Do Jul 16 17:59:37 CEST 2015


Griechenland:
Alexis, was hast du aus unserem Sieg gemacht?
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Aus dem NEIN beim Referendum wird das JA in Brüssel


Von Andreas Sartzekis


"61,3 % der Bevölkerung stimmten für den Bruch mit dem System, 251 
Parlamentarier hingegen für die Unterwerfung unter das System" so 
titelte /Prin/, das Organ der NAR, die Teil von Antarsya und die größte 
Organisation der revolutionären Linken in Griechenland ist, am 
vergangenen Sonntag.

So lässt sich die gegenwärtige paradoxe Situation gut zusammenfassen, 
wobei inzwischen der von der übergroßen Parlamentsmehrheit (251 von 300 
Abgeordneten) abgesegnete Entwurf für ein drittes Memorandum schon 
wieder durch die weitergehenden Forderungen der Aasgeier aus der Troika 
überholt worden ist. Während die europäischen Institutionen, aber auch 
die griechischen Parlamentsparteien alles dazu beigetragen haben, das 
Referendum vom 5. Juli vergessen zu lassen, müssen wir dessen Bedeutung 
voll erfassen, wenn wir das Gebot der Stunde verstehen wollen -- eines 
Augenblicks, den Stathis Kouvelakis als tragisch erlebt, der aber sehr 
viel mehr an ein Kasperletheater erinnert, in dem den Gift spritzenden 
Schreiberlingen der bürgerlichen Presse die Rolle des Gendarmen zukommt.


WAR DAS REFERENDUM FÜR DIE KATZ?

Dass Tsipras über das so außergewöhnliche Resultat der Volksabstimmung 
geflissentlich hinweggeht, lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten 
offen: Entweder war es Verrat und somit Ausdruck des 
konterrevolutionären Charakters von Syriza, oder eine erzwungene, aber 
unvermeidliche Anpassung an Umstände, die keinerlei Raum für die 
geringsten Reformschritte geboten haben. Derlei Debatten mögen üblich 
sein, aber jetzt geht es darum, nach vorne zu schauen und Initiativen zu 
ergreifen, die plausibel und vorantreibend sind, indem sie die Botschaft 
aufgreifen, die uns die Lohnabhängigen und das einfache Volk durch ihr 
Abstimmungsverhalten mit auf den Weg gegeben haben.

Zunächst müssen wir dabei die Frage beantworten, ob das politische 
Gespür von Tsipras für die Ausrufung des Referendums ausschlaggebend 
war. Unseres Erachtens nein: Eher war es ein Akt politischen Verzagens 
der Syriza-Führung, die erleben musste, dass sie bei der Troika -- deren 
Spielregeln Tsipras akzeptiert hatte -- gegen eine Wand lief, egal 
welche Vorschläge sie lieferte. In diesem Zusammenhang sei daran 
erinnert, dass schon das Wahlprogramm von Thessaloniki hinter das 
Parteiprogramm von Syriza zurückgefallen war und dass Syriza nach der 
Wahl noch einmal hinter dieses Minimalprogramm zurückgegangen ist und 
sich sog. "rote Linien" (Renten, Arbeitsrecht) verordnet hat. Diese 
"roten Linien" wurden anschließend immer weiter zurückgeschraubt, und 
zwar in dem Maß wie die europäische Bourgeoisie -- aus politischen 
Gründen, wie Nobelpreisträger Stiglitz eindeutig nachwies -- Druck 
machte und die griechische Regierung trotzdem an einer Einigung mit der 
Troika festhielt.

Mehr noch als die vollständige Anpassung an die Vorgaben des 
Kapitalismus, wie sie die Sozialdemokratie vollzogen hat, handelt es 
sich hier um die extreme Naivität einer reformistischen Partei, deren 
radikaler Minderheitsflügel keinen entscheidenden Einfluss auf die 
Orientierung der Partei hat. Statt auf eine europaweite Mobilisierung 
der Lohnabhängigen und der Jugend zu setzen, um so Druck auf die Troika 
auszuüben, hat die Syriza-Führung in bewährter reformistischer Manier 
ein Referendum aus dem Ärmel geschüttelt, um sich beide Optionen offen 
zu halten: Bei einem Sieg des JA wäre Tsipras wohl zugunsten der Rechten 
als Regierungschef zurückgetreten, um sich in der Opposition zu 
regenerieren; bei einem Sieg des NEIN wollte er sich bessere 
Verhandlungsbedingungen für die Auflagen der Troika verschaffen, wobei 
er zuvor schon die Pläne für ein drittes Memorandum in Brüssel vorgelegt 
hatte.

Was dann allerdings für alle Welt einschließlich der revolutionären 
Linken -- obschon sie mit entscheidend für ein NEIN mobilisiert hatte -- 
überraschend kam, war der klare Ausgang des Referendums und der darin 
ausgedrückte Wille gegen ein weiteres Sparprogramm -- ein JA zu Europa, 
aber nicht dem der Aasgeier und Oligarchen, sondern dem der 
Lohnabhängigen, der Jugend und der Solidarität. Dies mag zwar so nicht 
explizit formuliert worden sein, aber es war das erste Mal in der 
Geschichte Europas, dass eine solche Forderung derart massiv aufscheint 
und neben dieser Massenmobilisierung die Befürworter des JA zum Europa 
der Privilegierten in der Versenkung verschwinden, obwohl sie die breite 
Unterstützung der Medien genossen haben.

Insofern war die Position der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) 
beschämend, die dazu aufgerufen hatte, ungültige Stimmzettel abzugeben, 
und deren Vorsitzender Koutsoumbas seine Rede am Wahlabend ausdrücklich 
auch an die Befürworter des JA gerichtet hat.

Und will man das Wahlverhalten der AnhängerInnen der "Goldenen 
Morgenröte" werten, so hat diese zwar zu einem NEIN aufgerufen -- ohne 
dafür im Geringsten zu mobilisieren, wie die sämtlich linksgerichteten 
Parolen an den Häuserwänden zeigen --, die Meinungsumfragen am Tag der 
Abstimmung zeigten aber: 60 % der Gefolgschaft der "Goldenen Morgenröte" 
haben mit JA gestimmt. Auch darin kommt die Polarisierung dieser 
Kampagne: "Klasse gegen Klasse" zum Ausdruck.

Am Abend des 5. Juli war bereits frühzeitig klar, dass das NEIN gewinnen 
würde, und nach zwei Stunden gar, dass es einen wahren Erdrutsch 
zugunsten der einfachen Bevölkerung gegeben hat, die spontan in Massen 
auf den Syntagma zusammenströmte. Tsipras jedoch brauchte fünf Stunden, 
um eine Erklärung abzugeben, was zeigt, dass die Syriza-Führung eher 
verwirrt als -- wie das sonstige Land -- überrascht war. Und während die 
Rechte Schiffbruch erlitten und Samaras umgehend zurückgetreten war, die 
privaten Medien sich blamiert hatten und in den Arbeitervierteln "das 
Ende der Sparpolitik" gefeiert wurde, kam die Rede von Tsipras wie eine 
kalte Dusche daher: Statt zur Fortsetzung der Massenmobilisierung 
aufzurufen, auch um den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit bis zur Troika 
vordringen zu lassen, hat Tsipras diesen ungeheuren Sieg förmlich 
zunichte gemacht, indem er zur nationalen Einigung aufrief und die 
Vorsitzenden der anderen Parteien zu einem gemeinsamen Gespräch am 
Folgetag einlud, um sich über gemeinsame Forderungen, d. h. ein neues 
Memorandum, zu verständigen.


WELCHE FOLGEN HAT DIESER VERRAT AM WÄHLERWILLEN?

Man tut sich schwer, nicht von einem Verrat zu sprechen, so wie damals, 
2013, als die GymnasiallehrerInnen in unbefristeten Streik getreten 
waren und auch die Abiturprüfung bestreiken wollten und die 
Gewerkschaftsführung ihnen in den Rücken fiel. Hierbei hatte sich die 
Mehrheit aus Pasok, Rechten und Syriza innerhalb der Gewerkschaft 
durchgesetzt und lediglich der von Antarsya dominierte linke Flügel für 
die Fortsetzung des Streiks und somit die Respektierung des 
Mitgliederwillens ausgesprochen. Die KKE im Übrigen von vornhinein gegen 
diesen Streik.

Bereits damals kam die Furcht bei Syriza zum Vorschein, sich außerhalb 
der Institutionen zu befinden. Das ist heute nicht anders, bloß mit 
ungleich ernsteren Konsequenzen, sofern der eingeschlagene Kurs nicht 
durch Mobilisierungen umgedreht wird. Bereits jetzt stehen -- abgesehen 
von den Aasgeiern in Brüssel -- wenigstens drei Gewinner fest. Erstens 
die KKE, deren Führung durch das Referendumsergebnis desavouiert worden 
war und die nun nach dem Motto "Wir haben's ja gleich gesagt" wieder 
Oberwasser bekommt, statt wegen ihrer Wahlempfehlung unter Druck seitens 
der Basis zu geraten. Statt einer möglichen Zusammenarbeit von unten 
zeigte sich bereits bei der Demonstration am 10. Juli gegen den 
Parlamentsbeschluss, dass die PAME wieder breit und auf äußerst 
sektiererischer Grundlage mobilisieren kann.

Zweiter möglicher Gewinner sind die Nazis, die darauf hoffen können, 
dass die Desillusionierung nationalistischen Tendenzen Vorschub leisten 
könnte. Die Prozesse gegen deren Parteiführer wurden übrigens verschoben 
und diese auf freien Fuß gesetzt. Seither nehmen auch wieder 
rassistische Übergriffe zu ...

Der dritte Gewinner sind die reaktionären Parteien, die sich am Abend 
des 5. Juli nicht mehr sonderlich viel erträumen konnten. Jetzt hört man 
sie in einer Weise tönen, als stellten sie die Regierung. Und die 
europäischen Granden behandeln sie auch so und laden diese Hohlköpfe ein 
... soweit ihr Respekt vor der Souveränität des Volkes!

Der große Verlierer dabei sind natürlich das griechische Volk und 
besonders die ArbeiterInnen und die Jugend. Memorandumspolitik à la 
Tsipras heißt Rentenkürzung, Rücknahme der angekündigten bescheidenen 
Anhebung des Mindestlohns, Privatisierungen und damit Entlassungen, 
"Abspecken" des öffentlichen Dienstes etc. Also das diametrale Gegenteil 
dessen, was in der Abstimmung am 5. Juli zum Ausdruck gekommen ist, und 
aller schönen Hoffnungen, die seit den riesigen Kundgebungen am 3. Juli 
aufgekeimt waren. Ganz zu schweigen von dem, was passiert, wenn die 
Mobilisierungen gegen die Sparpolitik nicht zunehmen -- dann sinkt der 
Mut und stattdessen könnten nationalistische Tendenzen aufkommen, was 
den Nazis Auftrieb verschafft und die Hoffnung auf einen Aufschwung der 
radikalen Linken in Griechenland und auch in Europa auf Dauer 
zerschlagen könnte, ohne dass revolutionäre Strömungen davon profitieren 
könnten. Genau deswegen brauchen wir jetzt breiteste Mobilisierungen im 
ganzen Land und auch in ganz Europa.


GEGEN SPARPOLITIK -- EUROPAWEIT!

Die Parlamentsabstimmung am vergangenen Freitag hat gezeigt, wie weit 
sich dieses Parlament vom Willen des Volkes entfernt hat: Die alten 
Regierungsparteien haben zugestimmt, ebenso wie ihr neuer Partner Potami 
und ANEL, der Koalitionspartner von Syriza. Die KKE hat wie die Goldene 
Morgenröte mit Nein gestimmt. Interessant ist, wie die 
Syriza-Abgeordneten gestimmt haben: Zwei Neinstimmen von Mitgliedern der 
DEA, acht Enthaltungen, darunter die Minister der Linken Plattform 
Lafazanis und Stratoulis, die Parlamentsvorsitzende Konstantopoulou und 
die ehemalige ERT-Reporterin Kyritsis, sowie sieben Nichtteilnahmen. 
Unter den Ja-Stimmen waren 15 Abgeordnete der Linken Plattform, unter 
dem irrigen Vorwand, die Regierung nicht stürzen zu wollen. Alles in 
allem zeigt dies nur wenig Protest seitens der Syriza-Abgeordneten 
angesichts dieser Verfälschung des Wählerwillens.

Und wieder lautet die Rechtfertigung wie stets, wenn Versprechen 
gebrochen wurden: Am Ende der Verhandlungen wird zwar ein faules 
Abkommen stehen, aber danach können wir endlich regieren, was wir in den 
letzten fünf Monaten nicht konnten ...  Zwar liegt in den Umfragen 
Syriza noch immer vor den Rechten, aber das eigentliche Problem lautet 
anders: Auch wenn Syriza an der Regierung bleibt -- was angesichts des 
dezidierten Willens der EU-Granden keineswegs ausgemacht ist -- dann, 
mit welcher Politik? Zumal die Forderungen Frankreichs und Deutschlands 
darauf abzielen, die Souveränität Griechenlands unverhüllt infrage zu 
stellen.

Es geht also um enorm viel und die europäische Linke hat eine enorme 
Verantwortung, die nur durch entschlossenes und einiges Vorgehen 
gestemmt werden kann. Und in Griechenland müssen die bereits jetzt schon 
enormen Mobilisierungen noch zulegen. Am Freitag waren es Tausende nach 
einem Aufruf von Antarsya, den Anarcho-Syndikalisten, der PAME (der KKE 
nahestehende Gewerkschaftsströmung) und der Linken von Syriza; am 
Sonntag hatten Antarsya und die Basisgewerkschaften aufgerufen ...

Wir müssen auf dem NEIN des Referendums aufbauen und alle linken 
Strömungen zusammenbringen und vor allem alle, die nicht darin 
organisiert sind. Zugleich müssen wir an alle linken Parteien, ob an der 
Regierung oder nicht, appellieren, gemeinsam eine Politik zu betreiben, 
die die Austerität beendet. In dieser Hinsicht hat Manolis Glezos 
bereits ein leuchtendes Beispiel geliefert und der alte Kommunist 
Bitsakis äußerte die Hoffnung, dass sich Hunderttausende in den Städten 
Griechenlands auf die Straßen gehen.

Der Bruch mit der Sparpolitik muss mehr denn je im Zentrum der 
Forderungen stehen, und zwar europaweit. Nur so können wir ein 
gemeinsames Europa anpeilen, das auf solidarischer Wirtschaftspolitik 
basiert und nicht auf dem Streben nach Profit für die deutschen und 
französischen Banken und die Steuerparadiese mitten in Europa.


Athen, den 13. Juli


Der Autor ist Mitglied der Leitung von OKDE-Spartakos, der griechischen 
Sektion der IV. Internationale, die Teil von Antarsya ist, des 
Bündnisses der radikalen Linken.


Übersetzung aus dem Französischen: MiWe



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