[IPK] Frankreich: Ausnahmezustand für die Arbeiterklasse

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
Sa Feb 27 19:02:49 CET 2016


Frankreich:

Ausnahmezustand für die Arbeiterklasse

-------------------------------------------------------------------

 

Einer der Kritikpunkte an der Festschreibung des Ausnahmezustands und dem
Ausbau des repressiven Arsenals ist, dass dabei auch die sozialen Bewegungen
und radikalen Arbeitskämpfe ins Visier genommen werden. Wie Recht die
Kritiker haben, zeigt die Verurteilung der streikenden Arbeiter bei
Goodyear. Rachida El Azzouzi führte das folgende Interview mit Vanessa
Codaccioni am 15. Januar 2016 für die französische Website Mediapart.

 

 

Interview mit Vanessa Codaccioni

 

 

 

?? Zwei Jahre Haft, darunter neun Monate ohne Bewährung im offenen Vollzug,
weil sie zwei leitende Angestellte 30 Stunden lang ohne Gewaltanwendung
festgehalten haben und obwohl beide sowie der Arbeitgeber ihre Klage
zurückgezogen haben. Ein bisher einmalig hohes Strafmaß für die acht
ehemaligen Beschäftigten von Goodyear, darunter fünf CGT-Gewerkschafter. [1]
Wie sehen Sie das Urteil?

 

*Vanessa Codaccioni:* Das Urteil steht in der Tradition einer politischen
und gewerkschaftsfeindlichen Repression, die sehr weit zurückreicht. Die
Gewerkschaften wurden schon immer durch die Staatsgewalt unterdrückt, sei es
durch polizeiliche Maßnahmen (Gewaltanwendung, Verhaftungen, Durchsuchung
von Gewerkschaftshäusern, Polizeigewahrsam), sei es durch die Justiz, die
Bewährungsstrafen, selten Gefängnisstrafen ohne Bewährung, zumeist aber
Geldstrafen verhängen kann. Mal war die Repression stärker, mal schwächer.
Besonders während des Kalten Krieges waren die Mitglieder der CGT einer sehr
scharfen Repression ausgesetzt, angefangen beim großen Bergarbeiterstreik
1947 bis hin zur Protestdemonstration gegen General Ridgway im Mai 1952,
eine der militantesten, die von der KPF jemals geführt worden ist und die
mit der Verhaftung und Inhaftierung ihres Generalsekretärs wegen
Verschwörung endete. In dieser Zeit sind darüber hinaus sehr viele
Gewerkschaftsmitglieder und Funktionäre niedergeknüppelt, verhaftet, in
Gewahrsam genommen oder bis zu ihrem Prozess eingesperrt worden. Ein anderes
Beispiel ist der Algerienkrieg, während dessen Gewerkschaftsfunktionäre
wegen ihrer antimilitaristischen und antikolonialistischen Tätigkeit
verfolgt worden sind, auch wenn die Repression nicht mehr so blutig wie
vorher war. Demnach gab es schon immer eine starke Repression in Frankreich
gegen die Gewerkschaften und der Prozess wegen Goodyear steht in dieser
Tradition.

 

 

?? Welcher Sinn steckt hinter dieser Repression? Geht es um eine neue
Qualität bei der Bestrafung?

 

Was hierbei verblüfft, ist die einzigartige Härte und Entschiedenheit dieses
Urteils. Zum Beispiel sind 2013 fünfzehn Postler, darunter Olivier
Besancenot, wegen Freiheitsberaubung im Rahmen einer Bürobesetzung bei der
Post in Nanterre drei Jahre zuvor angeklagt worden. Zunächst wurden sie zu
1500 Euro Geldstrafe auf Bewährung verurteilt und später in der Berufung bis
auf drei, bei denen die Geldstrafe bestätigt wurde, freigesprochen. Dieses
typische Beispiel zeigt, dass es zwar auch hierbei um Repression ging, aber
keine schweren Strafen verhängt werden sollten.

 

Repression wird nämlich zumeist "kalkuliert", besonders hinsichtlich ihrer
Auswirkungen. Die Regierungen, Staatsanwälte und Richter wissen, welcher
Prozess einen Skandal, Solidarisierungsaktionen oder Gegenanschuldigungen
hervorrufen kann. In der Vergangenheit haben denn auch sehr viele
Beschuldigte von dieser Furcht vor dem Skandal oder dem Vorwurf der
politischen oder Klassenjustiz profitiert. Offensichtlich jedoch stand dies
einer Verurteilung der ehemaligen Goodyear-Beschäftigten nicht im Wege. Wie
ist das zu werten?

 

Den Herrschenden geht es darum, jedwede radikale Proteste aus der
Gesellschaft zu bannen. Gegenwehr soll nicht länger hingenommen werden,
selbst wenn sie sich gegen soziale und ökonomische Ungerechtigkeit wie
Entlassungen, Standortverlagerungen oder Deregulierung der Jobs richtet. In
einem Land, wo bewusste Gesetzesübertretung als Mittel der sozialen
Gegenwehr immer mehr zur Randerscheinung geworden ist, erscheint gewaltsamer
Protest gegen die Unternehmer als extrem schwerwiegender Tatbestand. Nehmen
wir nur den Fall als Beispiel, wo der Personaldirektor von Air France um
sein Hemd "erleichtert" wurde. Man kann davon ausgehen, dass sich derlei
angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage in Frankreich häufen wird, da
die Spannungen und die Verzweiflung der Leute, die um ihre Arbeitsplätze
kämpfen, weiter zunehmen werden. Und auch, wenn ein solcher Prozess (wie bei
Goodyear) bisher die Ausnahme ist, darf man darin getrost eine Art
Warnhinweis sehen, nämlich dass jede gewaltsame gewerkschaftliche Gegenwehr
in gleicher Weise unterdrückt werden wird.

 

 

?? Soll das heißen, dass inzwischen das verfassungsmäßige Grundrecht auf
Streik bei sozialen Konflikten ein Verbrechen darstellt? Dass es in
Frankreich einem Lohnabhängigen, ob Gewerkschafter oder nicht, verboten ist,
auf den drohenden und strukturell gewalttätigen Verlust seines
Arbeitsplatzes zu reagieren, auch wenn dies unkontrolliert erfolgt, weil es
unkontrollierbar ist?

 

Über die oben beschriebene Tradition der gewerkschaftlichen Unterdrückung
hinaus beleuchtet dieser Prozess gegen die CGT-Gewerkschafter ein weiteres
sehr wichtiges Phänomen, mit dem ich mich lange befasst habe, nämlich dass
aktive Gegenwehr in die Nähe von Kriminalität und Verstößen gegen das
Gemeinrecht gerückt wird. Diese Gleichsetzung ist nicht neu und es gab schon
immer eine Tendenz seitens des Staates, militanten (gewerkschaftlichen)
Protest auf den strafrechtlichen Aspekt zu reduzieren, um sie wie Verbrechen
abzuhandeln. Diese Entkleidung der Militanz um ihren politischen Gehalt hat
nach 1981 zugenommen, als der damalige Justizminister Badinter die
Sondergerichtsbarkeit abgeschafft hat: Seither gibt es keine politischen
Verbrechen und Delikte mehr, folglich auch keine "politische Motivation",
die sich zuvor strafmildernd auswirken konnte. Fortan werden AktivistInnen
vor gewöhnliche Gerichte gestellt (Schwurgerichte oder für Strafsachen
zuständige Landgerichte) und wie Straftäter und Kriminelle behandelt. Diese
Entwicklung erklärt m. E. die Härte der politischen Repression, die an sich
nie aufgehört hat. Hinzu kommt der nunmehr forcierte Ausbau des
Sicherheitsstaates und schon wird aus einer "Freiheitsberaubung", selbst im
Rahmen einer sozialen Auseinandersetzung, ein Gewaltakt, der gegen eine
bestimmte Person gerichtet, v. a. aber kriminell ist.

 

 

?? Als die Rechte an der Regierung war, verurteilte die gesamte offizielle
Linke derlei Repression. Inzwischen aber werden UmweltaktivistInnen unter
Hausarrest gestellt, eine Beamtin der Gewerbeaufsicht und ein Beschäftigter
eines Großunternehmens verurteilt, weil sie auf die dortigen Missstände
hingewiesen haben, Gewerkschafter strafrechtlich verfolgt, Angestellte bei
Air France wegen Betriebsschädigung entlassen und wie Kriminelle verhaftet
etc. Noch nie erschien die soziale Repression so gewaltsam, verschärft noch
vor dem Hintergrund des Ausnahmezustands. Hat sich dies unter der
Präsidentschaft Hollandes verschlimmert?

 

Man hätte annehmen können, dass ein solcher Urteilsspruch unter einem
Präsidenten und einer Regierung, die sich als Linke verstehen, nicht
zustande kommen würde, da Repression zumeist mit der rechten
Law-and-order-Fraktion konnotiert wird. Man muss jedoch bedenken, dass ein
Kriminalisierungsprozess gegenüber den sozialen Bewegungen im Gange ist, der
sich seit den Repressionsmaßnahmen gegen die Anti-CPE-Bewegung
[2]radikalisiert hat und bis heute andauert. Hierfür spricht auch die
erwähnte Verhängung von Hausarrest für Umweltschützer. Daran verdeutlicht
sich ein weiteres Phänomen, nämlich die zunehmende Gleichsetzung von
Militanz und Terrorismus, indem ein Aktivist Ausnahmemaßnahmen unterzogen
werden kann, die zum Kampf gegen den Terrorismus verabschiedet worden sind.
In die gleiche Richtung weist auch der Prozess um Tarnac, in dem seit 2007
autonome UmweltschützerInnen unter Terrorismusverdacht verfolgt werden.

 

 

?? Die Ungleichbehandlung zwischen den bretonischen Bonnets rouges [3], die
Mauterfassungsgeräte zerstören, Landwirten, die Präfekturen demolieren und
Arbeitern, die für ihren Arbeitsplatz kämpfen, durch den Repressionsapparat
erzeugt das Gefühl von Ungerechtigkeit. Ganz zu schweigen von der
Nichtahndung der Unternehmergewalt. Wieso wird hier mit zweierlei Maß
gemessen?

 

Dies gab es schon immer. Michel Foucault hat viel darüber geschrieben, was
er den "abgestuften Umgang mit Rechtsbrüchen" nannte, um aufzuzeigen, wie
bestimmte Verbrechen und folglich bestimmte soziale Klassen stärker
sanktioniert werden als andere. So wurde bspw. Diebstahl als ein Vergehen
der Unterschichten im 18. Jahrhundert schwer geahndet, während Betrug als
typische Delinquenz der Bourgeoisie dem Strafkodex entging und zumeist
ungeahndet blieb. Dies ist nur ein einziges Beispiel, ein historisches dazu,
für die Ungleichheit der Rechtssubjekte vor der Justiz, gerade in
Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft. Die gesamte soziologische
Betrachtung der Weiße-Kragen-Delinquenz und der Finanzkriminalität, die von
den Managern und Reichen begangen werden, zeigt gleichermaßen, dass sie
vergleichsweise straflos ausgingen.

 

Die von Ihnen genannten Beispiele sind Teil der unterschiedlichen
ordnungspolitischen Ansätze: Demonstrierende Studenten bspw. werden mit
größerer Wahrscheinlichkeit verfolgt als Landwirte, die bis vor Kurzem noch
relativ "nachsichtig" von den Behörden behandelt worden sind. Repression
richtet sich seit jeher gegen "privilegierte Opfer" und bestraft bestimmte
Schichten der Bevölkerung härter, während andere mehr oder minder ausgespart
bleiben. Hier noch ein beredtes Beispiel für diese Ungleichheit vor der
Justiz. Offiziell gibt es im heutigen Frankreich keine Sondergerichtsbarkeit
mehr. Dies stimmt so nicht, zumindest eine gibt es noch -- den Gerichtshof
der Republik, dessen Funktion nicht darin besteht Politiker und
Politikerinnen härter zu bestrafen, sondern sie vor der "ordentlichen"
Gerichtsbarkeit zu bewahren. Dieser abgestufte Umgang mit den Rechtsbrüchen,
von dem Foucault gesprochen hat, ist also an der Tagesordnung. [...]

 

Die reihenweisen Unternehmensschließungen, die Verschlechterung der
Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung, der Anstieg der
Arbeitslosigkeit, die Verarmung, der Abbau der sozialen Rechte im Zuge der
neoliberalen Reformen und dann die Repression ... Könnten all diese Faktoren
die Gewalt in der Gesellschaft schüren?

 

Dies kann die Gewalt anheizen, wenn die Individuen nicht atomisiert werden.
Die Behörden jedoch versuchen stets, sich dagegen zu wappnen, indem sie
zunehmend jede Form von Protest gegen die bestehende Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung atomisieren. Der Ausnahmezustand, der gerade das
Demonstrationsverbot ermöglicht, ist ein regelrechtes Musterbeispiel für
diese Absicht, jeden politischen Protest zu brechen.

 

 

Vanessa Codaccioni ist Politikwissenschaftlerin und befasst sich mit dem
Thema der Repression, speziell der Soziologie der politischen Prozesse und
der staatlichen und sozialen Repression gegen Arbeiter und Gewerkschafter

 

 

 

-------------------------------------------------------------------

Aus:   Inprekorr Nr. 2/2016    (Internationale Pressekorrespondenz)

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:          Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34, 25761 Büsum

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Doppelheft:  4 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            20 EUR (Inland), 12 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                        http://www.inprekorr.de

-------------------------------------------------------------------

 

-----

 

[1] Siehe auch: http://www.labournet.de/?p=91871,
http://www.labournet.de/?p=91585

[2] CPE: Ersteinstellungsgesetz von 2006 als Teil einer Verschärfung des
Arbeitsrechts; musste nach umfassenden Protesten zurückgezogen werden.

 

[3] "Rote Mützen", die von den Mitgliedern einer bretonischen
Protestbewegung getragen werden, die sich an der Verhängung einer Ökosteuer
für landwirtschaftliche Fahrzeuge entzündete und im Grunde gegen die
Landwirtschaftspolitik der Regierung gerichtet ist.

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listen.jpberlin.de/pipermail/inprekorr-l/attachments/20160227/8ef6c8fa/attachment-0001.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l