[IPK] Spanischer Staat: Wege aus der Sackgasse

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Sa Nov 5 17:47:26 CET 2016


Spanischer Staat:

Wege aus der Sackgasse

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Nachdem die Granden der PSOE sich mit ihrer Forderung, ein
Minderheitskabinett unter Rajoy durch die Stimmenthaltung ihrer Abgeordneten
zu dulden, durchgesetzt und dadurch Parteichef Sánchez zum Rücktritt
gezwungen haben, scheint die Regierungskrise vorerst beendet zu sein. Die
Sozialdemokratie hingegen hat sich damit in eine subalterne Position
gegenüber der Volkspartei eingemauert und dürfte ihre Rolle im bisherigen
Zweiparteiensystem verloren haben, wie auch ihre desaströsen Ergebnisse der
Regionalwahlen in Galizien und Euskadi gezeigt haben. Da mit diesem Manöver
die ehemaligen Parteichefs González und Zapatero ihre Botmäßigkeit gegenüber
den Vorgaben aus Brüssel über die Daseinsberechtigung der Sozialdemokratie
gestellt und damit den Niedergang der Sozialdemokratie wohl weiter
beschleunigt haben, wird Sánchez versuchen, durch die Einberufung eines
außerordentlichen Parteitags und eine weitere Urwahl des Parteivorsitzes den
Zerfallsprozess zu stoppen, um weiterhin eine eigenständige "Alternative"
bei der Verwaltung der Kapitalherrschaft präsentieren zu können. Der
folgende Beitrag wurde noch vor diesen Ereignissen verfasst, die darin
dargelegten Grundzüge der Systemkrise in Spanien und v. a. des
Anpassungsprozesses von Podemos haben jedoch ihre Gültigkeit nicht verloren.

 

 

Von Antoine Rabadan

 

 

Auf den ersten Blick liefern die Parlamentswahlen vom 26. Juni ein
eindeutiges Ergebnis, wenn man sie auf bloß zwei, freilich wesentliche
Fakten reduziert. Die Rechte in Gestalt der PP hat trotz ihrer Verwicklung
in zahllose Korruptionsaffären gegenüber den vorigen Wahlen im Dezember 700
000 Stimmen resp. 14 Abgeordnete hinzugewonnen. Podemos hingegen, der
damalige Senkrechtstarter, hat im Vergleich eine Million Stimmen verloren
und die Zahl der Abgeordneten (71), die sie damals im Verbund mit regionalen
Listen und den Grünen von Equo erobert hatte, nur dank der Unterstützung
durch Izquierda Unida (IU) halten können. Ihr erklärtes Ziel hat sie
verfehlt, nämlich die sozialdemokratische PSOE zu überholen und zur
stärksten Kraft in der Linken und somit zur dezidierten Opposition zur
Rechten zu werden. In der Gesamtschau jedoch relativiert sich dieser Erfolg
der PP, da sie bis heute (Ende August) noch immer keine regierungsfähige
Koalition -- auch nicht als geduldetes Minderheitskabinett --
zusammenbekommen hat, und man muss sich fragen, was mit Podemos
zwischenzeitlich passiert ist.

 

Das aus dem "Übergang zur Demokratie" (Transición) nach dem Tode des
Diktators Franco 1975 hervorgegangene Regime steckt in einer tiefen Krise,
die wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich auf die Revolte der Empörten
von 2011 (15 M) zurückzuführen ist. Das Paradoxe an der temporären
Niederlage war dann, dass im November desselben Jahres die PP bei den
Parlamentswahlen die absolute Mehrheit erzielen konnte.

 

 

DAS ZWEIPARTEIENSYSTEM ALS TRAGENDE SÄULE DES ÜBERGANGSREGIMES

 

Das Zweiparteiensystem, das sich zwischen 1975 und 1978 (Verabschiedung der
Verfassung) etabliert hat, gab den politischen Rahmen ab, durch den der
Radikalisierungsprozess in Politik und Gesellschaft gestoppt werden konnte,
der in der ausgehenden Diktatur zu immer bedrohlicheren Massenstreiks und
-demonstrationen geführt hatte.

 

Mit der Einführung einer parlamentarischen Monarchie durch ein Einvernehmen
zwischen der Rechten und der Linken (damals in Gestalt der PSOE und der KP
Spaniens) etablierten sich auch die späteren Regimeparteien. Auf der Rechten
wurde 1982 die Demokratische Zentrumsunion (UCD) von Adolfo Suárez, der
seine "historische" Mission, die Transición angeschoben zu haben, erfüllt
hatte, durch den Vorläufer der PP, die Volksallianz AP verdrängt. Auf der
Linken wurde die KP, die die wichtigste Partei im antifranquistischen
Widerstand gewesen war, rasch an den Rand gedrängt und erlebte bei den
Parlamentswahlen 1982 einen massiven Einbruch, während sich die beim Kampf
gegen die Diktatur nahezu unsichtbare PSOE komplett verjüngt wie Phönix aus
der Asche erhob. Dies war nur möglich, weil die PSOE politisch und
finanziell von der deutschen Sozialdemokratie gepuscht wurde, um mit ihrer
Hilfe den 1986 erfolgten Beitritt Spaniens zur damaligen Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft EWG zu bewerkstelligen.

 

Mit der Transición gelang es, das politische Geschehen weg von den Protesten
auf den Straßen und in den Betrieben zu holen und ins Parlament zu
verlagern, wo es sich in ausgewogenen und kontrollierten Debatten
erschöpfte. Während es sich unter der Diktatur noch in Stillschweigen geübt
hatte, schwang sich dies Parlament nunmehr zur exklusiven Wirkungsstätte der
Demokratie schlechthin auf und entzog dadurch der außerparlamentarischen
Opposition die Legitimität. Dieses Manöver blieb auch lange erfolgreich und
prägte nachhaltig die politische Landschaft.

 

 

DIE POLITISCHE SYSTEMKRISE

 

In der gesamten Zeit von 1982 bis 2008 dominierten die beiden Regimeparteien
die Wahlen, bei denen sie jeweils stets mit 50 % (1989) bis 63 % (1982) der
Stimmen gewinnen konnten. Den Auftakt dabei bildete 1982 die
Sozialdemokratie unter Felipe González, der sich 14 Jahre an der Regierung
hielt. Nach Jahren des Aufschwungs kam 2011 dann der relative Einbruch, als
erstmals seit 1989 die Schwelle von 50 % für die Regierungspartei nur knapp
überschritten werden konnte. Dies war dann freilich erst der Auftakt zum
späteren Absturz im Dezember 2015 (35 %), der auch bei den Neuwahlen im Juni
2016 mit 38 % nur wenig gemildert werden konnte.

 

Dasselbe Bild ergibt sich, wenn man die Stimmen (gemessen an den
Wahlberechtigten) für die beiden Systemparteien im Zeitraum 1982--2011
zusammen betrachtet, die stets zwischen 72 % und 83 % lagen. Dieser
Spitzenwert wurde im Krisenjahr 2008 erzielt, als José Luis Zapatero trotz
der unübersehbaren Vorboten der Wirtschaftskrise (wiederkehrende Inflation
und zunehmende Arbeitslosigkeit) seine Wiederwahl sichern konnte. Bereits
2011 jedoch wurde dieser Spitzenwert mit "bloß" 73 % um 10 % unterschritten,
während zugleich die Wahlbeteiligung zurückging. Der freie Fall, nämlich auf
50 %, erfolgte dann im Dezember 2015 und konnte mit den 55 % im Juni 2016
nicht substantiell aufgefangen werden.

 

[...]

 

Insofern kann man sagen, dass das bestehende Regime infolge der Bewegung der
Empörten und drei Jahre später der Entstehung von Podemos einen historischen
Einbruch an Attraktivität und Legitimität erlebt hat. Dafür spricht auch,
dass erstmals in der Geschichte des Landes eine Neuwahl nach sechs Monaten
erfolgen musste und gar eine weitere droht. Obendrein besteht momentan durch
die fehlenden Mehrheitsverhältnisse ein Zustand eingeschränkter
Regierungsfähigkeit. Insofern lässt sich von einer langfristigen Nachwirkung
der Protestbewegung von 2011 sprechen, die das gewohnte Zweiparteiensystem
mit einem Wechsel von PP und PSOE an der Regierung erschüttert hat.

 

 

KEINE REGIERUNGSFÄHIGE MEHRHEIT IN SICHT

 

Die systemtreue Tageszeitung El País beklagt, dass "die Legislative so lange
wie noch nie in ihrer demokratischen Funktion gelähmt ist. Das
Abgeordnetenhaus hat seit neun Monaten kein einziges Gesetz mehr
verabschiedet und die Regierung steht seit nahezu zehn Monaten nicht mehr
unter parlamentarischer Kontrolle. Über 2500 Anfragen der Abgeordneten an
die Exekutive sind unbeantwortet. Die Experten warnen bereits, dass die
Blockade einer der drei Staatsgewalten gegen die Regeln der Verfassung
verstößt und schwere Konsequenzen drohen." Selbst der Haushaltsplan für
2017, in dem eine Beschränkung der Staatsausgaben und eine Reduktion der
Neuverschuldung gemäß der nachdrücklichen Vorgaben der EU-Kommission
vorgesehen sind, steht in Gefahr und damit die Raison d'être der
herrschenden Politiker.

 

Eine Große Koalition nach deutschem Vorbild, wie sie von den Granden der
PSOE propagiert wird, scheint vorerst ausgeschlossen zu sein, weil die
gegenwärtige Parteiführung um Pedro Sánchez blockiert. Weniger aus
politischer Überzeugung -- denn so etwas liegt diesen Herren fern -- sondern
aus einer politischen Kosten-Nutzen-Rechnung heraus, dass davon nur die
Protestbewegung und Podemos -- trotz der inkohärenten Linie dieser Partei --
profitieren würden. Viel zu stark wiegt noch die Wahlniederlage von 2011
nach und eine Große Koalition könnte den Absturz beschleunigen.

 

 

PODEMOS VOR DEM EINTRITT INS REGIERUNGSLAGER?

 

Wie erwähnt lag das Wahlergebnis im Juni für die Partei weit unterhalb der
Prognosen. Trotzdem muss dies Scheitern vor dem Hintergrund der tiefen
Systemkrise des herrschenden Zweiparteiensystems gesehen werden, für deren
Entstehung Podemos trotz ihrer Schwächen mithin ausschlaggebend ist. Denn
trotz des relativen Rückgangs von 16 % gegenüber den Wahlen vom Vorjahr
konnte Podemos im Juni über fünf Millionen Wähler mobilisieren und damit --
im Bündnis mit anderen politischen Kräften -- viermal so viel wie vor zwei
Jahren allein bei den EU-Wahlen -- gerade mal vier Monate nach der Gründung.
Die Formation unter dem Label "Unidos Podemos" bildet noch immer einen mit
dem System inkompatiblen Anziehungspunkt, dessen Wahlergebnis fast 40 % des
Stimmenanteils ausmachen, den die beiden Systemparteien zusammen erhalten
haben.

 

Deren Verluste sind teils durch zunehmende Wahlenthaltung entstanden, teils
auch durch Wählerwanderung zu Podemos oder Ciudadanos, die fast halb so viel
Stimmen wie die PP erzielen konnten und damit eine systemimmanente
Wählerreserve bilden -- allerdings außerhalb des traditionellen
Zweiparteiensystems. Und genau darin liegt das Verdienst von Podemos,
nämlich im Gefolge der Proteste von 2011 zu der Systemkrise und der
gegenwärtigen Lähmung an der Regierung beigetragen zu haben.

 

Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Podemos im Begriff ist, sich von
ihren Wurzeln in der Protestbewegung trotz der wechselseitigen Befruchtung
zu lösen und sich in den bestehenden politischen Alltag zu integrieren. Dort
agieren "vernünftige" Leute, die um Einigung bemüht sind und den
institutionellen Rahmen nicht sprengen wollen, der trotz aller Schwächen das
System von 1978 aufrecht erhält. Die Festlegung auf den Elektoralismus, die
Ende 2014 auf dem Kongress von Vistalegre erfolgte und deren scheinradikale
Losung vom "Himmel, den es im Sturm zu erobern" gälte, im Verbund mit dem
charismatischen Auftritt von Pablo Iglesias die Sinne der Mitglieder
vernebelte, sowie die zwischenzeitlichen Wahlerfolge als scheinbare
Bestätigung dieser Linie haben die Partei immer weiter zu einer Maschinerie
verwandelt, die nur noch für Wahlen auf die Beine zu bringen ist.

 

Über diesen Aspekt ist bereits hinreichend geschrieben worden [1], hier soll
nur ein zentraler Punkt hervorgehoben werden, nämlich die Entscheidung,
gemeinsam mit der PSOE eine Regierung "für den Wandel" bilden zu wollen,
auch wenn diese sich vorerst sträubt. Vergessen soll werden, dass die PSOE
bis vor kurzem und noch nach dem Kongress von Vistalegre, als die Fixierung
auf die Wahlen noch nicht alle Schranken niedergerissen hatte, als Teil der
politischen "Kaste" galt, die strukturell mit ihrem konservativen Alter Ego
in Gestalt der PP verbandelt ist. Die Führung um Iglesias revidiert damit
die bisherige politische Ausrichtung und bricht mit dem zentralen Anliegen
der Protestbewegung von 2011, der radikalen Gegnerschaft zum bestehenden
System. Die vor den Europa-Wahlen hochgehaltene Abgrenzung gegen die
bestehende Ordnung schwindet damit oder wird sogar mit Füßen getreten. Die
Hoffnung auf eine wirkliche Alternative, die zumindest unter den
enthusiastischsten Anhängern herrschte, weicht dem grauen Alltag einer
Regierungsbeteiligung, die für einen Regimewandel stehen soll -- eine
Quadratur des Kreises.

 

 

EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DIE SOZIALDEMOKRATIE

 

Die Kür der PSOE zum Wunschpartner an der Regierung geht einher mit einer
opportunistischen Verfälschung der jüngeren Geschichte, als Pablo Iglesias
während der letzten Wahlkampagne José Luis Zapatero zum besten
Regierungschef seit Bestehen der spanischen Demokratie erklärt hat. Damit
gerät in Vergessenheit, dass u. a. gegen dessen Regierung und namentlich
gegen dessen Reform des Arbeitsrechts die Protestbewegung von 2011 ihren
Aufschwung genommen hat.

 

Ein weiteres Beispiel für Zapateros politisches Wirken ist die
Verfassungsänderung, die er mit den Stimmen der PP im September 2011, zu
einem Zeitpunkt also, als die Bewegung der Empörten abgeflaut war,
verabschieden ließ. Diese Änderung des Artikels 135 der Verfassung
unterwirft die gesamte Haushaltspolitik und alle öffentlichen Ausgaben der
Maßgabe, dass die von der EU vorgegebene Defizitquote und Begrenzung der
Staatsverschuldung eingehalten werden. Notabene wurde diese
Verfassungsänderung, mit der jedwede Sozialpolitik durch Sparzwänge
torpediert wird, auch mit der Stimme des von Iglesias mittlerweile
hochgeschätzten und damaligen Abgeordneten Pedro Sánchez verabschiedet,
selbst wenn sich dieser heute halbherzig davon distanziert. Wie kommt die
Führung von Podemos unter diesen Umständen zu der Behauptung, dass es auf
der Grundlage wesentlicher programmatischer Übereinstimmung zwischen PSOE
und Unidos Podemos möglich sei, eine Politik des "Wandels" zu betreiben,
ohne im geringsten dabei zu bedenken, dass die neoliberale Verfasstheit der
EU einem solchen "Wandel" entgegensteht?

 

Daneben spricht es Bände, dass Podemos ohne Weiteres auf die vereinbarte
Abschaffung dieser Verfassungsänderung verzichten will oder -- entgegen
ihrer wahlprogrammatischen Aussagen -- die Frage des Selbstbestimmungsrechts
Kataloniens nicht mehr durch die Betroffenen entscheiden lassen will, um
dadurch der in diesem Punkt unverrückbaren PSOE entgegen zu kommen. Ein
weiteres Zugeständnis an die Sozialdemokratie war die Revision des
geforderten staatlichen Konjunkturprogramms aus dem Wahlkampf von 2015 von
90 Milliarden Euro auf 60 Milliarden beim Wahlkampf vom Juni 2016.

 

Dabei bildet das Verhältnis zur PSOE nur den augenfälligsten Meilenstein des
politischen Richtungswechsels einer Partei, die gegen das System angetreten
ist und nunmehr in einer Dynamik gefangen ist, die sie immer näher an das
System heranführt und sie dabei zunehmend an Attraktivität verlieren lässt.
Nach den Wahlen 2015 hat sich die PSOE zu der Umwerbung durch Iglesias
unmissverständlich verhalten, indem sie eine ménage à trois vorgeschlagen
hat, nämlich mit Ciudadanos, die wiederum eine ménage à quatre vorziehen --
mit der PP. Die Weigerung von Podemos und seiner Partner von Unidos Podemos,
dieses Schmierentheater mitzuspielen, hat der Partei in diesem Schauspiel
die wenig verlockende Rolle eines gehörnten Ehepartners verschaff, der als
enttäuschter Liebhaber unermüdlich versichert, über die erlittene Abfuhr
hinwegzusehen und jederzeit für eine dauerhafte Beziehung mit der PSOE zur
Verfügung zu stehen. Die wiederum hat sich bei Ciudadanos eine Abfuhr
geholt, die der Zickzackmanöver überdrüssig waren und lieber mit der PP
anbandeln wollten, um mit ihr über eine Regierungsbildung zu verhandeln.

 

 

PARADIGMENWECHSEL

 

Statt nur im Geringsten zu verstehen, dass der Einbruch bei den Wahlen im
Juni damit zusammenhängt, dass die Partei von der radikalen Systemkritik aus
der Tradition der 15M abgerückt ist, statt sie auf die politische Ebene zu
heben, hält die Führung von Podemos an ihrem Anpassungskurs fest und
forciert ihn sogar. Man betrachte nur den Auftritt von drei Führungsfiguren
von Podemos, darunter Pablo Iglesias, bei der Sommerschulung in der
Universität Complutense Madrid (UCM) am 4. Juli, um diese Anbiederung und
das Bestreben um politische Mäßigung zu erkennen. [2]

 

Bei dieser strategischen Revision geht es immer wieder um die
Stimmenverluste bei den diesjährigen Parlamentswahlen. Die Stimmenthaltung
von Teilen ihrer Wählerschaft wird von Podemos völlig willkürlich als ein
Signal dafür interpretiert, dass man auf die "Bremse treten", wie Errejón
offen sagt, und sich von den alten Konzepten verabschieden müsse, da deren
Radikalismus diese Leute nur abgeschreckt hätte. Mit der ihm eigenen
Flapsigkeit beschreibt Iglesias die neue Lage, die durch die Wahlverluste
entstanden ist: Das alte "Modell Podemos" mit seinen Vorstellungen vom
außerparlamentarischen Kampf -- von "Blitzkrieg und Bewegungskrieg" sprach
die Führung damals in der ihr eigenen Gramscianischen Diktion -- habe sich
seit den Wahlen vom Dezember 2015, eigentlich schon seit den Kommunalwahlen
im Mai 2015 überlebt.

 

Die Führung argumentiert, dass jetzt der Übergang zu einem langwierigen
"Stellungskrieg", in dem man die parlamentarische Verankerung vertiefen und
ein Bündnis mit der als Garant des Wandels angesehenen Sozialdemokratie
anstreben müsse, anstünde. Dabei verschweigt sie, dass genau das monatelange
Streben nach einer Verständigung mit der Sozialdemokratie im Gefolge der
Parlamentswahl 2015 zu dem Einbruch bei den Wahlen im Juni geführt hat. Fakt
ist, dass bei der o. g. Veranstaltung in der UCM die Parteiführung offen für
einen Paradigmenwechsel eintritt, den sie bereits unter der Hand vollzogen
hat, ohne die Basis in diese Entscheidung einzubeziehen. Nachdem vollendete
Tatsachen geschaffen worden sind, kann man nun offen sprechen: Podemos muss
und wird, da die Systemkrise -- zumindest vorläufig -- vorüber sei, zu einer
"normalen Partei" werden, so normal, dass sie die PSOE für sich gewinnen
kann, die auf wundersamen Wegen zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln
zurückgefunden habe.

 

Um diese Behauptung zu stützen, schreckt die Führung von Podemos sogar vor
einer Geschichtsrevision über die Transición nicht zurück, die ja
schließlich eine schützenswerte demokratische Verfassung ermöglicht habe,
wie Luis Alegre meint. In diesem Plädoyer für das herrschende System findet
sich kein Wort über die Funktion der Transición, nämlich mit der
Amnestierung der Franquisten die wesentlichen Elemente der Politik und
Wirtschaft der Franco-Ära hinübergerettet zu haben, in der Ära Felipe
González eine unkontrollierte Umstrukturierung der Industriewirtschaft in
Gang gesetzt zu haben, eine a priori kastrierte und autoritär geprägte
Demokratie eingeführt zu haben und die Reichen durch Steuererleichterungen
immer reicher, die Armen durch niedrige Löhne hingegen immer ärmer gemacht
zu haben, um so den Eintritt in die EU unter "wettbewerbsfähigen"
Bedingungen vollziehen und sich darin behaupten zu können. Von wegen zurück
zu den sozialdemokratischen Wurzeln! Stattdessen regiert in der PSOE der
finsterste neoliberale Ungeist, worüber die Podemos-Spitze natürlich kein
Wort verliert.

 

Die Anbiederung an die PSOE unterstreicht Iglesias mit der bemerkenswerten
Formulierung: "Wir haben in Madrid und Valencia [wo Podemos im Bündnis die
Kommunalwahlen gewonnen hatte] gelernt, dass man die Verhältnisse aus den
Institutionen heraus ändert. Die schwachsinnige Behauptung aus unseren
linksradikalen Kindertagen, dass die Verhältnisse auf den Straßen und nicht
von den Institutionen aus geändert werden, war bloß eine Lüge." [3]Abgesehen
davon, dass hier eine grobschlächtige, wenn auch selbstkritisch ummantelte
Bilanz der radikalen Linken in Spanien gezogen wird, lautet die zentrale
Aussage dieser Polemik, dass die Mobilisierungen an der Basis nicht mehr der
Hebel zur Änderung der Verhältnisse sind, sondern allenfalls Begleitmusik,
und dass Podemos kein Interesse daran hat, diese Basisbewegungen zu fördern
und zu unterstützen, um auf diesem Wege die Kräfteverhältnisse zu
beeinflussen und das System zu ändern.

 

Um diesen Positionswechsel zu rechtfertigen, distanziert sich Iglesias
davon, dass die Politik wieder auf der Straße gemacht werden könnte, wobei
die Fehler der Vergangenheit vermieden werden müssen, und verweist darauf,
dass Podemos entstanden ist, als die Bewegung 15M rückläufig war. Die Messe
ist gelesen und man wird nicht mehr auf eine Podemos-Führung zählen können,
die sich auf die parlamentarische Option versteift und in der lediglich
Monedero, wie gewohnt, den Finger auf die Wunde legt oder ein paar
Vorbehalte gegenüber dem Kurswechsel äußert und stattdessen an der Tradition
der 15M festhalten bzw. wieder daran anknüpfen will. Es geht nur noch darum,
aus dem klassischen Zweiparteiensystem als Erbe der Transición ein
Dreiparteiensystem aus PP, PSOE und Podemos zu machen, das uns als künftige
Neuversion des Zweiparteiensystems verkauft werden soll: die
"Fortschrittlichen" (PSOE + Podemos) gegen die "Konservativen" (die PP, die
nach Iglesias' Worten langfristig die Ciudadanos schlucken wird). Dabei ist
keineswegs ausgemacht, dass nicht Podemos beim Versuch, sich die PSOE der
70er Jahre herbeizuphantasieren und sich deren Überbleibsel einzuverleiben,
dasselbe Schicksal erleidet wie weiland die KP, die beim Marsch durch die
Institutionen zur Randfigur wurde.

 

 

EINE AUTONOME ALTERNATIVE

 

Was lässt sich in einer solchen Situation des parlamentarischen Stillstands
und der politischen Degeneration von Podemos erhoffen?

 

Es ist nicht auszuschließen, dass es erneut zu Neuwahlen -- voraussichtlich
am 25. Dezember -- kommt, wenn die PP nicht durch Stimmenthaltungen aus den
Reihen der PSOE eine Regierung bilden kann. Ebenso wenig lässt sich
ausschließen, dass die PSOE und Unidos Podemos anschließend eine
Regierungskoalition bilden, die dann -- angesichts der
Kompromissbereitschaft der Podemos-Spitze -- mit weiteren politischen
Zugeständnissen einhergehen wird. Natürlich vorausgesetzt, dass die
Neuwahlen entsprechend ausgehen, was keinesfalls ausgemacht ist, aber
angesichts der Unpopularität von Rajoy und seiner korrupten Entourage
denkbar ist. Einfacher wäre noch, dass es zu einem parlamentarischen
Abkommen zwischen PSOE, Podemos und katalanischen und/oder baskischen
Nationalisten kommt, die eine "Regierung des Wandels" ermöglicht, zugleich
aber zu einem Desillusionierungsprozess führt wie 2012 in Frankreich, als
die Hoffnungen derer, die "Alles, bloß nicht Sarkozy" haben wollten, rasch
verflogen. Daran würde auch die Regierungsbeteiligung "radikaler
Scharfmacher" im Gefolge von Iglesias wenig ändern, da die bereits ihre
radikalen Überzeugungen im Vorfeld abgelegt haben und den Weg von Syriza
noch vor der Regierungsteilhabe gegangen sind. Der Unterschied zu
Griechenland ist bloß, dass nicht zugleich die PSOE eine solche Implosion
wie die PASOK erlebt hat.

 

Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Verhältnisse bei Podemos ins
Rollen geraten, v. a. was die autoritäre Entscheidungsstruktur im Innern
anlangt, die der Parteiführung freie Hand für den genannten Richtungsschwenk
lässt. Dies zu ändern, wäre unerlässlich, freilich nicht ausreichend, um
wieder eine dezidiert antikapitalistische Orientierung auf den Weg zu
bringen, die auf einer Protestbewegung fußt, die entschlossen gegen das
Diktat der Troika kämpft und auf diesem Weg eine -- ansonsten zwangsläufige
-- Entwicklung wie in Griechenland verhindert, wo die Weigerung, gegen die
neoliberal-kapitalistische Ausrichtung der EU zu kämpfen, die Niederlage
vorprogrammiert hatte.

 

Noch ist der Kampf um Podemos nicht verloren, sofern sich die Basis die
Macht zurückerobern kann. Dies zeigen bspw. die Vorwahlen von Podem in
Katalonien, wo die Opposition gegen die Parteizentrale unter Iglesias mit
Unterstützung der AntikapitalistInnen erfolgreich für den Vorsitz
kandidierte. Oder dass die Stellungnahmen von 400 Basisverbänden ("Kreisen")
von der Parteiführung offiziell zur Kenntnis genommen werden mussten, die
sich überwiegend kritisch gegen die Wahlkampagne zum 26. Juni gerichtet
haben, da diese "zu sehr vom Geist der Sozialdemokratie statt von Rebellion"
getragen war. Allerdings werden die AntikapitalistInnen keinen leichten
Stand haben, nicht nur, weil sie in ihrer Autonomie durch die
undemokratische Funktionsweise der Organisation beschnitten werden, sondern
auch, weil sie wider Willen in Wahlkampagnen eingespannt werden, deren
politische Ausrichtung nur zur Desorientierung an der Basis und zur
Erstickung der dort noch vorhandenen rebellischen Stimmung führen kann. Hier
droht eine Entwicklung, wo Podemos spiegelbildlich zu Ciudadanos vom neuen
"Stern am politischen Firmament" zum bloßen Satrapen im jeweiligen Lager
verkommt, die Einen an der Seite der PSOE, die Anderen unter der PP. Davon
würden nur die alten Systemparteien und natürlich die Kapitalherrschaft im
Spanischen Staat profitieren, die flexibel genug sind, ihren Fortbestand
durch neue politische Konstellationen zu sichern.

 

Es ist höchste Zeit, die Orientierung auf die Institutionen und damit die
Kanalisierung der Proteste -- sei es nach 1978 oder nach 2011 -- zu
revidieren und die Politik wieder auf die Straße zu tragen. Dies heißt
nicht, dass man sich der Teilnahme an Wahlen a priori verschließen müsste,
sondern nur, dass man nicht in die Falle des Elektoralismus treten darf, so
wie die jetzige Führung von Podemos.

 

 

Übersetzung: MiWe

 

 

 

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Aus:   Inprekorr Nr. 6/2016    (Internationale Pressekorrespondenz)

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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Jahresabo:            20 EUR (Inland), 12 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                        http://www.inprekorr.de

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[1] Vgl. u. a. 

/Inprekorr/ Nr. 1/2016 (Januar/Februar 2016): Zeitenwende im Spanischen
Staat?, ein Dossier mit 6 Beiträgen

[2] http://www.anti-k.org/2016/07/11/96885/#.V7nh56...

[3] Siehe Fußnote 1

-------------- nächster Teil --------------
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