[IPK] Frankreich: Macron in der Defensive

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Do Jan 10 21:30:01 CET 2019


Frankreich:

   Macron in der Defensive

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Von Léon Crémieux

 

 

Seit Mitte November erlebt die Gelbwestenbewegung mit ihren Protestaktionen
immer stärkeren Auftrieb, weil sich andere Gesellschaftsschichten
anschließen. Die Auseinandersetzungen auf den Champs Elysées in Paris wurden
zwar zum Symbol für die Ereignisse dieses Tages erklärt, aber in den anderen
Städten (Toulouse, Marseille etc.) erreichten die Zusammenstöße ein deutlich
höheres Ausmaß als zuvor, auch wenn die Beteiligung an den Protesten nicht
höher als in der Vorwoche war. In Le Puy en Velay brannte gar das
Verwaltungsamt des Departements. Nicht nur die Protestformen wurden
radikaler, sondern auch die Parolen, in denen unisono der Abtritt von Macron
gefordert wurde. Bilder gingen um die Welt, auf denen die Polizei vom Arc de
Triomphe verjagt wurde, der von den Gelbwesten angesprüht und besetzt wurde,
und wurden zum Ausdruck der politischen Krise und der schwindenden Akzeptanz
Macrons in der Bevölkerung.

 

Bereits zuvor war schon deutlicher geworden, dass mit dieser Bewegung eine
Polarisierung zwischen den Klassen zum Ausdruck kommt, wo sich die unteren
Schichten und die Wohlhabenden und Großstädter gegenüberstehen. In einer
Reihe von Städten haben sich Teile der Gewerkschaftsbewegung den Protesten
der Gelbwesten angeschlossen und es kam zu -- wenigstens teilweise --
gemeinsamen Kundgebungen mit Demonstrationsteilnehmer*innen, die dem schon
lange feststehenden Aufruf der CGT zur Verteidigung der Rechte von
Erwerbslosen gefolgt waren. Daneben hatten aber auch
Gewerkschaftsgliederungen verschiedener staatlicher und privater Unternehmen
direkt zur Teilnahme an den Protesten der Gelbwesten aufgerufen.

 

So hat sich inzwischen auch das Zerrbild von der angeblichen "Braunfärbung"
der Gelbwesten aufgeweicht, das anfänglich in den Reihen der
Gewerkschaftsbewegung, der radikalen Linken und den sozialen Bewegungen
kursierte. Allmählich beinhalten die Forderungen mehr soziale Substanz und
die Aktiven entstammen vorwiegend der Unterschicht, wenngleich die soziale
Zusammensetzung gemischt ist. Insofern sind die Trennlinien aufgebrochen und
ein Zusammengehen mit der Arbeiterbewegung ist perspektivisch in Reichweite
gerückt, was die Kräfteverhältnisse natürlich beeinflussen wird.

 

Die Frage der schwindenden "Kaufkraft" der unteren Schichten wird nicht mehr
nur in Zusammenhang mit der Erhöhung der Mineralölsteuer gesehen, sondern im
Lichte der gesamten Fiskalpolitik der Regierung, die durch indirekte Steuern
die Armen benachteiligt und durch den Wegfall der Reichensteuer und mit
anderen Steuergeschenken die Oberen bevorzugt. Inzwischen wird in
zahlreichen Erklärungen und Parolen der Gelbwesten explizit die Frage nach
der Verteilung des Reichtums gestellt. Inzwischen sind Themen wie die
Kürzungen der Renten und Pensionen, die niedrigen Löhne und der Mindestlohn
in den Vordergrund gerückt, womit die Verbindung zu dem Forderungskatalog
der Arbeiterbewegung hergestellt werden kann.

 

Bereits vor dem 1. Dezember folgte die Gelbwestenbewegung einer
Klassendynamik, in der die extreme Rechte an den Rand gedrängt war -- zwar
nicht, was ihr Gehör unter einem Teil der Gelbwesten angeht, aber was die
Durchschlagskraft der klassisch rechten Parolen angeht: die Einwanderung als
Wurzel allen Übels, die "erdrückende Steuerlast" [die den Mittelstand
ausblutet], die Gleichbehandlung aller direkten und indirekten Steuern
zulasten der Unterschichten wie auch der Unternehmer*innen oder die
Demagogie gegen die "privilegierten" Beamten.

 

Seit dem 1. Dezember herrscht eine tiefgreifende politische Krise, in der
Macron und die Parlamentsabgeordneten seiner Partei (LREM) mit dem Rücken
zur Wand stehen und ihnen auch noch der letzte Rest an Sympathie unter der
Bevölkerung wegschmilzt und sie stattdessen gleichsam als "das letzte
Aufgebot" der Besitzenden dastehen. Macron ist angezählt und sieht, dass
sein Image als Präsident des Volkes auf internationaler Ebene ramponiert
ist, während im eigenen Land die Gelbwesten trotz der Ausschreitungen
unverändert populär sind. Es war daher Ausdruck purer Panik, als
Premierminister Edouard Philippe unmittelbar nach dem 1. Dezember die
Erhöhung der Kraftstoffsteuer zunächst um 6 Monate verschoben und dann für
das gesamte kommende Jahr aufgehoben hat.

 

Aber, wie die Presse schreibt, "dies kommt zu spät und ist zu wenig", denn
statt zufrieden über diese ersten Zugeständnisse zu sein, fühlen sich die
Gelbwesten eher zum Weitermachen ermutigt. Und auch andere
Bevölkerungsschichten, die seit mindestens zwei Jahren von der Sparpolitik
betroffen sind und sich mangels Koordination nicht erfolgreich wehren
konnten, sehen jetzt die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: Bauern,
LKW-Fahrer*innen, Hafenarbeiter*innen usw.

 

Die Regierung hat -- parallel zu ihrem Zurückrudern -- versucht, die Lage zu
dramatisieren und drohendes Chaos oder gar einen Staatsstreich und das
Gespenst des Rechtsextremismus an die Wand gemalt, um so der Bewegung die
Unterstützung seitens der Bevölkerung zu entziehen und ein Zusammengehen mit
der Arbeiterbewegung am 8. Dezember zu verhindern. Im Vorfeld des 8.
Dezember hat sich Macron zurückgehalten, um der allgemeinen Unzufriedenheit
keinen Vorschub zu leisten, hat aber versucht, all die "zwischengeschalteten
Instanzen" einzubinden, die er bis dahin eher ignoriert hatte: Abgeordnete
und Senatoren, Bürgermeister und Gewerkschaftsspitzen. Die sollten für ihn
den Job übernehmen, den "sozialen Dialog" zu propagieren und die Gelbwesten
zur Raison zu rufen. Mit Ausnahme der Basisgewerkschaften Solidaires haben
sich die Gewerkschaftsführungen zu einer schändlichen gemeinsamen Erklärung
hinreißen lassen, in der sie zur "Ordnung" aufrufen, wobei zahlreiche
Untergliederungen der CGT auf Branchen- und Regionalebene ihrem Dachverband
widersprochen haben. Zugleich musste die CGT auf Druck ihrer Basis zu einem
Aktionstag aufrufen, allerdings sinnigerweise ... für Freitag, den 14.
Dezember.

 

Macrons Taktik vor dem 8. Dezember ging indes in die Hose. Nicht nur, dass
die Zugeständnisse als Ermutigung aufgefasst wurden, sondern in den Städten
und Regionen kam es zu gemeinsamen Aktionen mit Teilen der
Gewerkschaftsbewegung, die dann am 8. Dezember in gemeinsame Demonstrationen
einmündeten. Die Teilnehmerzahlen waren so hoch wie am 1. Dezember und in
vielen Städten marschierten Demonstrationsblöcke der Gelbwesten buntgemischt
mit Blöcken der sozialen Bewegungen. In vielen Städten schlossen sie sich
oftmals auch den Kundgebungen an, die die Klimabewegung für diesen Tag
organisiert hatte.

 

Durch diese Entwicklung erfuhr die Gelbwestenbewegung eine Radikalisierung
hin zu sozialen Forderungen, wodurch auch der Einfluss der extremen Rechten,
die weiterhin in der Bewegung präsent sind, in Zaum gehalten wurde. Parallel
traten unmittelbar vor dem 8. Dezember die Schüler*innen von 100 bis 200
Gymnasien in Streik- und Blockadeaktionen, um wieder ihrem Protest gegen die
Zugangsbeschränkungen zu den Universitäten und die gleichgelagerten Reformen
der Abitursprüfungen Nachdruck zu verleihen.

 

Am 8. Dezember kam es zu zahlreichen Auseinandersetzungen in den Städten,
deren Schauplatz zumeist die Kreisverwaltungen als Symbole des Staates
waren. Demgegenüber setzte die Polizei auf massive Gewalt und Repression.
Über 1000 Verhaftungen, darunter viele als "Präventivmaßnahme", und
systematischer Einsatz von Tränengasgranaten und Gummigeschossen gegen die
Demonstrationszüge und Kundgebungen der Schüler*innen mit Hunderten von
Verletzten. Insgesamt belief sich das Polizeiaufgebot gegen die
Demonstranten auf 85 000 Einsatzkräfte mit gepanzerten Fahrzeugen. 

 

Was wir momentan erleben, ist eine in dieser Form noch nicht dagewesene weit
verbreitete Gegenwehr gegen die Austeritätspolitik und die Regierung und
gegen das ganze Spektrum von Sozialabbaumaßnahmen, denen Forderungen nach
sozialer Gerechtigkeit und Lohnerhöhungen gegenübergestellt werden. Und die
Proteste richten sich unmittelbar gegen Macron. Zum ersten Mal seit dessen
Wahl, genau genommen seit 1995, beginnen die Kräfteverhältnisse ernsthaft zu
kippen und all die Bevölkerungsschichten, die jahrelang Einschnitte
hinnehmen mussten und einzeln in ihren Abwehrkämpfen geschlagen wurden,
erkennen, dass die Gelegenheit zur erfolgreichen Gegenwehr gekommen ist.
Paradox ist jedoch, dass die organisierte Arbeiterbewegung und auch die
Lohnabhängigen als Belegschaften in den Betrieben bis heute noch immer nicht
die Stafette aufgegriffen haben und in den Streik getreten sind, obwohl die
vor ihnen stehende Bewegung ganz überwiegend von der einfachen Bevölkerung
getragen wird und sich viele Lohnabhängige als Einzelpersonen daran
beteiligen.

 

Wirklich bemerkenswert an diesem Vorgehen ist, dass die Regierung ihre
Klassenpolitik unvermindert beibehält und weder die 40 Milliarden an Steuer-
und Abgabenerleichterungen für die Unternehmen noch die zahlreichen
Steuervergünstigungen für die Superreichen zurücknimmt. Die Umverteilung der
Reichtümer von unten nach oben, gegen die die Gelbwesten und dabei die von
der Sparpolitik am härtesten betroffenen Bevölkerungsschichten auf die
Straßen gehen, bleibt unangetastet.

 

In den kommenden Tagen steht viel auf dem Spiel. Die Regierung hofft darauf,
die Proteste eingedämmt zu haben, und setzt dabei auf ein Abbröckeln der
Bewegung und ihre Isolierung. Daher hängt alles davon ab, ob einerseits die
Mobilisierung aufrechterhalten und eine basisdemokratische Struktur
geschaffen werden kann und andererseits andere Bevölkerungsschichten in den
Wohnvierteln, Betrieben und sozialen Bewegungen angesprochen und in die
Mobilisierung eingebunden werden können. Es geht also darum, die
Mobilisierung beizubehalten und sich nicht auseinanderdividieren zu lassen,
trotz des eingesetzten Trommelfeuers der Medien und obwohl die
Gewerkschaftsführungen schweigend danebenstehen, weil sie von diesem Ausmaß
der sozialen Bewegung einfach überrollt wurden. Es geht also darum, gegen
Macron und seine Politik so breit wie möglich in die Offensive zu kommen.

 

 

11.12.2018

 

Léon Crémieux ist Mitglied der /Nouveau Parti Anticapitaliste/ (NPA) und
Leitungsmitglied der IV. Internationale.

 

Übersetzung: MiWe

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 1/2019 

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