[IPK] Die Kurden als Spielball imperialer Interessen

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
Sa Okt 26 22:58:53 CEST 2019


Kurdistan/Syrien:

Die Kurden als Spielball imperialer Interessen

-------------------------------------------------------------------

 

Die Autorin liefert eine pointierte und weitsichtige Analyse der Situation
im Nordosten Syriens nach der Offensive der türkischen Armee und ihrer
Milizen.

 

 

Von Leila al-Shami

 

 

Die jüngste türkische Offensive gegen Nordostsyrien und der Abzug der
US-Truppen aus der Region lösen eine weitere humanitäre Katastrophe von
epischem Ausmaß aus. In den letzten Tagen sind über 130 000 Syrer*innen
voller Verzweiflung geflohen, um ihr Leben zur retten und sich in Sicherheit
zu bringen. Dutzende von Zivilist*innen sind durch türkische Bomben getötet
und durch die mit der Türkei verbündeten Milizen ermordet worden. In dieser
chaotischen Situation sind IS-Gefangene aus ihren Lagern ausgebrochen und
befinden sich jetzt in Freiheit. Viele von ihnen stammen aus dem Ausland,
darunter sind auch Kinder, deren Heimatstaaten sich geweigert haben, die
Verantwortung für ihre Staatsangehörigen zu übernehmen.

 

Für die türkische Invasion gab es von Trump (und wahrscheinlich auch von
Russland) grünes Licht und sie hat dazu geführt, dass die USA ihre
Verbündeten, die von den kurdischen Milizen dominierten Syrischen
Demokratischen Kräfte (SDF), mit denen sie bei der Bekämpfung des
islamischen Staates kooperiert hatten, im Stich gelassen haben. Es war nicht
das erste Mal, dass die USA ihre Bündnisse in Syrien aufgekündigt haben, und
diejenigen, die unter den Folgen dieses Verrats zu leiden haben, werden dies
wahrscheinlich nicht so leicht vergessen.

 

 

DAS KALKÜL DER TÜRKEI ...

 

Die Türkei verfolgt mit ihrer Operation zwei Ziele. Einerseits will sie so
die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien zerschlagen, die großteils seit
2012 unter der Kontrolle der kurdischen PYD steht, die wiederum mit der PKK
verbunden ist, die dem türkischen Staat schon lange als innerer Feind gilt.
Andererseits will sie eine Pufferzone einrichten und dort die syrischen
Flüchtlinge "repatriieren", die in der Türkei auf zunehmende Feindseligkeit
und Fremdenfeindlichkeit stoßen. Da viele der Flüchtlinge Araber sind und
diese in ein Gebiet zurückgebracht würden, in dem viele Minderheiten --
kurdische und andere --  leben, würde ein solcher Schritt wahrscheinlich zu
einem weiteren demografischen Wandel führen, der bereits heute ganz
wesentlich zu der syrischen Tragödie beiträgt. Zumal die syrischen
Oppositionsgruppen, die mit der Türkei verbündet sind, für eine türkische
Agenda kämpfen, die keine Ähnlichkeit mit der syrischen Revolution für
Freiheit und Würde hat, die vor acht Jahren begonnen hat.

 

Die Bewohner*innen der Region haben gute Gründe, die türkische Besatzung zu
fürchten. Die mehrheitlich kurdische Stadt Afrin, die im vergangenen Jahr
von der Türkei und deren Bündnispartner besetzt worden ist, liefert ein
erschreckendes Beispiel. Weite Teile der Zivilbevölkerung wurden aus ihren
Häusern vertrieben und von dort ferngehalten, das so "verlassene" Eigentum
wurde oftmals geplündert und es kam zu breit angelegten Verhaftungen,
Vergewaltigungen und Morden.

 

Da die syrischen Kurden befürchten müssen, dass die türkischen Streitkräfte
zu ethnischen Säuberungen übergehen, und sie keine Verbündeten haben, die zu
ihrer Verteidigung bereit sind, bleibt der PYD wenig anderes übrig, als eine
Übergabe der Region unter die Kontrolle des syrischen Regimes auszuhandeln
und somit ein Experiment kurdischer Selbstverwaltung zu beenden. Diese
Autonomie hat der dortigen Bevölkerung zu erheblichen Errungenschaften
verholfen und viele Rechte verschafft, die das arabische Regime lange
verweigert hat.

 

 

... SPIELT ASSAD IN DIE HÄNDE

 

Letztlich war diese Entwicklung nur eine Frage der Zeit. Als das
Assad-Regime der PYD die Macht überließ, spielten vermutlich drei Faktoren
eine Rolle: Erstens, dass diese Machtübergabe die Kurden daran hindern
würde, weiter gegen das Regime zu kämpfen und das Regime so seine
militärischen Ressourcen anderweitig ausspielen könnte; zweitens, dass es
die syrische Opposition gegen Assad entlang sektiererischer Divergenzen
spalten und somit schwächen würde; drittens, dass die Türkei intervenieren
würde, wenn die PYD zu mächtig würde, um diese an einer weiteren Expansion
zu hindern, so dass letztlich wieder das Assad-Regime die Kontrolle
übernehmen könnte.

 

Berichten zufolge beinhaltet das zwischen dem Regime und dem von der PYD
dominierten SDF vermittelte Geschäft eine Garantie für volle kurdische
Rechte und Autonomie. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass das Regime
jemals die kurdische Unabhängigkeit akzeptieren wird, wie auch die
öffentlichen Verlautbarungen immer wieder deutlich gemacht haben. Bereits
zuvor waren die anderweitig erteilten Versprechungen des Regimes in
sogenannten "Versöhnungsabkommen" nicht das Papier wert, auf dem sie
geschrieben wurden. Regimegegner*innen, ob Araber oder Kurden, laufen nun
Gefahr, verhaftet und eingekerkert oder gar zu Tode gefoltert zu werden.
Auch die SDF-Milizen können sich nicht sicher fühlen. Vor wenigen Tagen erst
erklärte der stellvertretende syrische Außenminister Faisal Maqdad, dass sie
"ihr Land verraten und damit Verbrechen begangen haben".

 

Während sich viele Kurden, die von den USA im Stich gelassen wurden, unter
Assad sicherer fühlen können als unter den türkischen Invasoren, hat die
arabische Zivilbevölkerung teilweise in den von der SDF kontrollierten
Gebieten wie Deir al-Zour und Raqqa eine Rückeroberung durch das Regime und
vor allem die iranischen Milizen zu fürchten, während sie sich unter
türkischem Schutz sicherer fühlen können. Die Syrer befinden sich in einer
verzweifelten Lage, so sehr ist ihr Überleben von fremden Kräften abhängig.
Ausländische Journalist*innen sind aus Syrien geflohen, weil sie vom Regime
bedroht werden, so dass dessen Gräueltaten nunmehr vor der
Weltöffentlichkeit verborgen bleiben.

 

 

DIE BLINDEN FLECKEN BEI TEILEN DER LINKEN

 

Die Entscheidungen, die momentan getroffen werden, sind die Machenschaften
ausländischer Mächte, und die syrischen Zivilist*innen zahlen den Preis
dafür. Die gegenwärtigen Machtkämpfe zwischen den Staaten befördern
ethnische Spaltungen, die zu noch mehr Sektierertum führen, unter dem Syrien
in nächster Zeit zu leiden haben wird. Assads Weigerung, der
Rücktrittsforderung der syrischen Bevölkerung nachzukommen, hat zu diesem
Blutbad geführt. Die gleiche Schuld trifft die internationale Gemeinschaft,
die wiederholt dabei versagt hat, die Syrische Bevölkerung vor ihren
Schlächtern zu schützen, und ebenso die arabischen wie auch die kurdischen
Oppositionsführer, die ihre eigenen Interessen über die Einheit all derer
stellten, die das autoritäre Regime zum Teufel wünschten. Das Regime hat
alle demokratischen Organisationsansätze und Selbstverwaltungsstrukturen im
ganzen Land nach und nach zerstört. Dies scheint die internationale
Gemeinschaft nicht daran zu hindern, die Beziehungen zu einem Regime zu
normalisieren, das sich nur durch breiteste Massaker an der Macht gehalten
hat. Was heute geschieht, ist nicht nur für die Kurd*innen, sondern für alle
freien Syrer*innen eine Katastrophe.

 

Die Situation in Syrien hat einmal mehr den moralischen Bankrott von Teilen
der Linken deutlich gemacht. Viele, die jetzt gegen den Angriff der Türkei
auf Nordostsyrien protestieren, blieben stumm gegenüber den anhaltenden
Bombardements der russischen und syrischen Streitkräfte auf Idlib, wo drei
Millionen Zivilisten den täglichen Terror erleben. Sie haben nicht einmal
wahrnehmen wollen, dass die Syrer*innen seit Jahren durch Bomben, chemische
Waffen und perfektionierte Folter massakriert werden. Einige von ihnen, die
nun eine Flugverbotszone zum Schutz der kurdischen Zivilbevölkerung vor
Luftangriffen fordern, haben zuvor die Syrer als Kriegshetzer und Agenten
des Imperialismus beschimpft, als diese bei anderer Gelegenheit
Schutzmaßnahmen forderten. Wieder einmal scheint die Solidarität nicht von
der Empörung über Kriegsverbrechen abhängig zu sein, sondern davon, wer der
Täter und wer das Opfer ist. Das Leben der Syrer*innen zählt nicht, wenn es
um die großen Debatten und ideologischen Grabenkämpfe geht.

 

Die syrische Tragödie ist ein Schandfleck auf dem reinen Gewissen der
Menschheit.

 

 

14. Oktober 2019

 

 

Leila Al-Shami ist Koautorin des Buches /Burning country: Syrians in
Revolution and War/ (Pluto Press, 2016) und Gründungsmitglied von
Tahrir-ICN, einem internationalen Netzwerk zur Koordinierung der
Befreiungskämpfe.

 

 

Übersetzt nach
https://leilashami.wordpress.com/2019/10/14/on-the-turkish-offensive-on-nort
h-eastern-syria/ von MiWe

 

 

-------------------------------------------------------------------

Aus:   die internationale Nr. 6/2019 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

-------------------------------------------------------------------

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listen.jpberlin.de/pipermail/inprekorr-l/attachments/20191026/556ffd8c/attachment.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l