[IPK] Afghanistan: RAWA antwortet auf die Machtübernahme der Taliban

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Sa Aug 28 10:56:04 CEST 2021


Afghanistan:

RAWA antwortet auf die Machtübernahme der Taliban

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Online: https://www.inprekorr.de/598-afgh-rawa.htm

 

Es wäre lachhaft zu denken, dass Werte wie "Frauenrechte", "Demokratie",
"Nationsbildung" wirklich zu den Zielen von USA und NATO in Afghanistan
gehört hätten! Sonali Kolhatkar hat mit der Revolutionären Afghanischen
Frauenorganisation (RAWA [http://www.rawa.org]) über die aktuelle Lage
gesprochen.

 

 

Interview mit RAWA

 

 

 

?? *Sonali Kolhatkar:* Jahrelang hat sich RAWA gegen die US-Besatzung
ausgesprochen und jetzt, wo sie abrücken, sind die Taliban zurück. Hätte
Präsident Biden die US-Streitkräfte auf eine Weise abziehen können, die
Afghanistan in eine sicherere Situation gebracht hätte als die jetzige?
Hätte er mehr tun können, damit die Taliban nicht so schnell die Macht
übernehmen können?

 

*RAWA:* In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen, die
US/NATO-Besatzung zu beenden, und noch besser, dass sie ihre islamischen
Fundamentalisten und Technokraten mitnehmen und unser Volk über sein
Schicksal entscheiden lassen. Diese Besatzung führte nur zu Blutvergießen,
Zerstörung und Chaos. Sie haben unser Land zum korruptesten, unsichersten,
drogenmafiösesten und gefährlichsten Ort vor allem für Frauen gemacht.

 

Von Anfang an konnten wir ein solches Ergebnis vorhersagen. Schon in den
ersten Tagen der US-Besatzung Afghanistans erklärte RAWA am 11. Oktober
2001:

 

"Die Weiterführung der US-Angriffe und die steigende Zahl von Zivilopfern
liefert den Taliban nicht nur eine Entschuldigung, sondern wird sogar dazu
beitragen, die fundamentalistischen Kräfte in der Region und auch weltweit
zu stärken " [1]

 

Der Hauptgrund, warum wir gegen diese Besatzung waren, war ihre
Unterstützung des Terrorismus unter dem schönen Banner des "Kriegs gegen den
Terror". Von den ersten Tagen, als die Plünderer und Mörder der Nordallianz
2002 wieder an die Macht kamen, bis zu den letzten sogenannten
Friedensgesprächen, Abkommen und Vereinbarungen in Doha und der Freilassung
von 5000 Terroristen aus den Gefängnissen 2020/21, war es offensichtlich,
dass eben dieser Rückzug kein gutes Ende nehmen wird.

 

Keines der theoretischen Konzepte des Pentagon von Invasionen oder
Einmischungen führte zu einem sicheren Zustand. Alle imperialistischen
Mächte marschieren in fremde Länder nur wegen ihrer eigenen strategischen,
politischen und finanziellen Interessen ein, aber durch Lügen und die
mächtigen Medienkonzerne versuchen sie, ihre wahren Motive und Absichten zu
verschleiern.

 

Es wäre lachhaft zu denken, dass Werte wie "Frauenrechte", "Demokratie",
"Nationsbildung" wirklich zu den Zielen von USA und NATO in Afghanistan
gehört hätten! Die USA waren in Afghanistan, um die Region in Instabilität
und Terrorismus zu verwandeln, um die rivalisierenden Mächte, insbesondere
China und Russland, einzukreisen und ihre Wirtschaft durch regionale Kriege
zu untergraben. Aber natürlich wollte die US-Regierung keinen so
katastrophalen, schändlichen und peinlichen Abzug, der einen solchen Aufruhr
hinterließ, dass sie gezwungen war, innerhalb von 48 Stunden erneut Truppen
zu entsenden, um den Flughafen zu kontrollieren und ihre Diplomat*innen und
Mitarbeiter*innen sicher zu evakuieren.

 

Wir glauben, dass die USA Afghanistan wegen ihrer eigenen Schwächen
verlassen haben und nicht von ihren Kreaturen (Taliban) besiegt wurden. Für
diesen Rückzug gibt es zwei wesentliche Gründe. 

 

Der Hauptgrund ist die vielfältige interne Krise in den USA. Die Anzeichen
für den Niedergang des US-Systems zeigten sich in der schwachen Reaktion auf
die Covid-19-Pandemie, den Angriff auf das Kapitol und die großen Proteste
der US-Öffentlichkeit in den letzten Jahren. Die politischen
Entscheidungsträger*innen waren gezwungen, die Truppen abzuziehen, um sich
auf die inneren Brennpunkte zu konzentrieren.

 

Der zweite Grund ist, dass der Afghanistankrieg ein außergewöhnlich teurer
Krieg war, dessen Kosten in die Billionen gingen, alles aus Steuergeldern.
Dies hat die USA finanziell so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sie
Afghanistan verlassen mussten.

 

Die Politik der Kriegstreiber*innen hat bewiesen, dass ihr Ziel nie darin
bestand, Afghanistan sicherer zu machen, schon gar nicht jetzt, wo sie
abziehen. Außerdem wussten sie, dass der Abzug chaotisch werden würde, aber
sie zogen ihn trotzdem durch. Jetzt steht Afghanistan wieder im Rampenlicht,
weil die Taliban an der Macht sind, aber dies war die Situation in den
ganzen letzten 20 Jahren; jeden Tag wurden Hunderte unserer Leute getötet
und unser Land zerstört und nur selten wurde darüber in den Medien
berichtet. 

 

 

?? *Sonali Kolhatkar:* Die Taliban-Führung sagt, dass sie die Rechte der
Frauen respektieren werde, soweit sie dem islamischen Recht entsprechen.
Einige westliche Medien stellen dies in ein positives Licht. Haben die
Taliban vor 20 Jahren nicht dasselbe gesagt? Glaubst Du, dass sich ihre
Einstellung zu den Menschen- und Frauenrechten geändert hat?

 

*RAWA:* Die bürgerlichen Medien versuchen nur, Salz in die Wunden unserer
verzweifelten Menschen zu streuen; sie sollten sich schämen, die brutalen
Taliban so zu beschönigen. Ein Taliban-Sprecher erklärte, es gebe keinen
Unterschied zwischen ihrer Ideologie von 1996 und heute. Und was sie über
die Rechte der Frauen sagen, sind genau dieselben Formulierungen wie während
ihrer früheren dunklen Herrschaft: die Anwendung der Scharia.

 

In diesen Tagen haben die Taliban in allen Teilen Afghanistans eine Amnestie
ausgerufen und ihr Slogan lautet: "Was die Freude der Amnestie bringen kann,
könnte keine Rache bringen". Aber in Wirklichkeit töten sie jeden Tag
Menschen. Erst gestern wurde in Nangarhar ein Junge erschossen, nur weil er
statt der weißen Taliban-Flagge die dreifarbige afghanische Nationalflagge
trug. Sie exekutierten vier ehemalige Armeebeamte in Kandahar, verhafteten
den jungen afghanischen Dichter Mehran Popal in der Provinz Herat, weil er
Anti-Taliban-Posts auf Facebook geschrieben hatte, und sein Verbleib ist der
Familie nicht bekannt. Dies sind nur einige Beispiele für ihre gewalttätigen
Aktionen trotz der "netten" und geschliffenen Worte ihrer Sprecher.

 

Aber wir glauben, dass ihre Behauptungen nur Teil eines Schauspiels sind,
mit dem die Taliban versuchen, mehr Zeit zu gewinnen, um sich selbst zu
organisieren. Alles ging so schnell und sie versuchen jetzt, ihre
Regierungsstruktur aufzubauen, einen Nachrichtendienst zu schaffen und das
Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhinderung des Lasters
zu gründen, das für die Kontrolle der kleinen Details des täglichen Lebens
der Menschen verantwortlich ist, wie die Länge des Barts, die Kleiderordnung
und ein Mahram (männlicher Begleiter -- nur Vater, Bruder oder Ehemann) für
jede Frau. Die Taliban behaupten, dass sie nicht gegen Frauenrechte seien,
aber diese sollten im Rahmen der islamischen/Scharia-Rechts bleiben.

 

"Islamisches/Scharia-Recht" ist vage und wird von islamischen Regimen
unterschiedlich ausgelegt, um ihren eigenen politischen Zielen und Regeln zu
dienen. Darüber hinaus möchten die Taliban auch, dass der Westen sie
anerkennt und ernst nimmt, und all diese Behauptungen gehören dazu, um von
sich selbst ein geschöntes Bild zu zeichnen. Vielleicht werden sie in ein
paar Monaten sagen, dass sie Wahlen abhalten werden, da sie an Gerechtigkeit
und Demokratie glauben! Diese Vortäuschungen werden ihre wahre Natur nie
ändern, und sie werden immer noch islamische Fundamentalisten sein:
frauenfeindlich, unmenschlich, barbarisch, reaktionär, antidemokratisch und
antiprogressiv. Mit einem Wort: Die Mentalität der Taliban hat sich nicht
geändert und wird sich nie ändern!

 

 

?? *Sonali Kolhatkar:* Warum sind die afghanische Nationalarmee und die von
den USA unterstützte afghanische Regierung so schnell zerfallen?

 

*RAWA:* Einige Hauptgründe von vielen sind:

 

1) Alles geschah gemäß dem Abkommen zur Übergabe Afghanistans an die
Taliban. Die US-Regierung hatte sich in Verhandlungen mit Pakistan und
anderen regionalen Akteur*innen auf die Bildung einer Regierung geeinigt,
die hauptsächlich aus Taliban besteht. Die Soldat*innen waren daher nicht
bereit, in einem Krieg getötet zu werden, von dem sie wussten, dass das
afghanische Volk keinen Nutzen daraus zog, denn schließlich war hinter
verschlossenen Türen schon abgemacht, die Taliban an die Macht zu bringen.
Salmai Khalilsad [2] wird von der afghanischen Bevölkerung wegen seiner
verräterischen Rolle bei der Rückkehr der Taliban an die Macht sehr gehasst.

 

2) Die meisten Afghan*innen verstehen gut, dass der Krieg in Afghanistan
nicht der Krieg der Afghan*innen und nicht zum Nutzen des Landes ist,
sondern von ausländischen Mächten für ihre eigenen strategischen Interessen
geführt wird und die Afghan*innen nur Kanonenfutter in diesem Krieg sind.
Die Mehrheit der jungen Leute geht zu den Streitkräften wegen
Arbeitslosigkeit und großer Armut, so dass sie nicht besonders entschlossen
sind zu kämpfen. Erwähnenswert ist, dass die USA und der Westen seit 20
Jahren versuchen, Afghanistan als Verbraucherland zu erhalten und das
Wachstum der Industrie behindert haben. Diese Situation führte zu einer
Welle von Arbeitslosigkeit und Armut und ebnete den Weg für die
Rekrutierungen der Marionettenregierung, die Taliban und das Wachstum der
Opiumproduktion.

 

3) Die afghanischen Streitkräfte waren nicht so schwach, dass man sie
innerhalb einer Woche hätte besiegen können, aber sie erhielten vom
Präsidentenpalast den Befehl, die Taliban nicht zurückzuschlagen, sondern
sich zu ergeben. Die meisten Provinzen wurden friedlich an die Taliban
übergeben.

 

4) Das Marionettenregime von Hamid Karzai und Ashraf Ghani bezeichnete die
Taliban jahrelang als "unzufriedene Brüder" und entließ viele ihrer
berüchtigtsten Kommandeure und Anführer aus den Gefängnissen.  Afghanische
Soldaten aufzufordern, gegen eine Truppe zu kämpfen, die nicht "Feind",
sondern "Bruder" genannt wird, ermutigte die Taliban und beeinträchtigte die
Moral der afghanischen Streitkräfte.

 

5) In den Streitkräften herrschte beispiellose Korruption. Eine Vielzahl von
Generälen (meist ehemalige brutale Warlords der Nordallianz) saßen in Kabul
und schnappten sich Millionen von Dollar; sie zweigten sich sogar etwas vom
Essen und Sold der Soldaten ab, die an der Front kämpften. "Geistersoldaten"
waren ein von SIGAR aufgedecktes Phänomen. [3] Hochrangige Beamte waren
damit beschäftigt, ihre eigenen Taschen zu füllen; sie leiteten Sold und
Verpflegung von Zehntausenden nicht existierender Soldaten auf ihre eigenen
Bankkonten um.

 

6) Wann immer Truppen von Taliban im harten Kampf belagert wurden, wurde ihr
Hilferuf von Kabul ignoriert. In zahlreichen Fällen wurden Dutzende Soldaten
von den Taliban massakriert, die wochenlang ohne Munition und Nahrung allein
gelassen worden waren. Daher war die Zahl der Opfer unter den Streitkräften
sehr hoch. Auf dem Weltwirtschaftsforum (Davos 2019) gab Ashraf Ghani zu,
dass seit 2014 über 45 000 afghanische Sicherheitskräfte getötet wurden,
während es im gleichen Zeitraum nur 72 von USA und NATO waren.

 

7) Insgesamt bildeten in der Gesellschaft wachsende Korruption,
Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Unsicherheit, Betrug,
enorme Armut, Drogen und Schmuggel usw. den Boden für das Wiederaufleben der
Taliban. 

 

 

 

?? *Sonali Kolhatkar:* Wie können Amerikaner*innen derzeit RAWA und den
Frauen und allen Menschen in Afghanistan am besten helfen?

 

*RAWA:* Wir sind sehr glücklich, die freiheitsliebenden Menschen der USA all
die Jahre neben uns zu haben. Sie sollten ihre Stimme erheben und gegen die
kriegstreibende Politik ihrer Regierung protestieren und die Stärkung des
Kampfes der Bevölkerung in Afghanistan gegen diese Barbaren unterstützen.

 

Es liegt in der Natur des Menschen, Widerstand zu leisten, und die
Geschichte liefert dafür viele Zeugnisse. Wir haben die wunderbaren
Beispiele der kämpferischen Bewegungen "Occupy Wall Street" und "Black Lives
Matter" in den USA. Wir haben gesehen, dass keine noch so große
Unterdrückung, Tyrannei und Gewalt den Widerstand aufhalten kann. Frauen
werden nie wieder gefesselt werden! Gleich am nächsten Morgen, nachdem die
Taliban in die Hauptstadt eingezogen waren, malte eine Gruppe unserer jungen
tapferen Frauen Graffiti an die Wände von Kabul mit dem Slogan: "Nieder mit
den Taliban!" Unsere Frauen sind jetzt politisch bewusst und wollen nicht
mehr unter der Burka leben, wozu sie vor 20 Jahren noch eher bereit waren.
Wir werden unsere Kämpfe fortsetzen und gleichzeitig intelligente Wege
finden, um sicher zu bleiben.

 

Wir glauben, dass das unmenschliche US-Militärimperium nicht nur der Feind
des afghanischen Volkes ist, sondern auch die größte Bedrohung für
Weltfrieden und Stabilität. Jetzt, da das System am Rande des Niedergangs
steht, ist es die Pflicht aller friedliebenden, progressiven, linken und
gerechtigkeitsliebenden Personen und Gruppen, ihren Kampf gegen die brutalen
Kriegstreiber*innen im Weißen Haus, im Pentagon und im Kapitol zu
intensivieren. Das verrottete System durch ein gerechtes und humanes zu
ersetzen, wird nicht nur Millionen armer und unterdrückter Amerikaner*innen
befreien, sondern eine nachhaltige Wirkung auf jeden Teil der Welt haben.

 

Jetzt ist unsere Angst, dass die Welt Afghanistan und die afghanischen
Frauen vergessen wird wie unter der blutigen Taliban-Herrschaft Ende der
90er Jahre. Daher sollten die fortschrittlichen Menschen und Institutionen
der USA die afghanischen Frauen nicht vergessen.

 

Wir werden unsere Stimme lauter erheben und unseren Widerstand fortsetzen
und für säkulare Demokratie und Frauenrechte kämpfen!

 

 

Das Gespräch führte Sonali Kolhatkar von Afghan Women's Mission
[http://www.afghanwomensmission.org].

 

 

Link für Spenden an RAWA
[http://www.afghanwomensmission.org/2010/08/make-a-donation/].

 

 

Übersetzung und Anmerkungen: Björn Mertens 

 

 

Quellen:
http://www.afghanwomensmission.org/2021/08/rawa-responds-to-the-taliban-take
over/,
http://www.rawa.org/rawa/2021/08/21/rawa-responds-to-the-taliban-takeover.ht
ml

 

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Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 5/2021 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

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Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1] http://www.rawa.org/us-strikes_de.htm

[2]  Salmai Khalilsad ist ein in Afghanistan geborener US-Dipomat. Er war
Ständiger Vertreter (Botschafter) der USA in Afghanistan und
Verhandlungsführer bei den Friedensgesprächen mit den Taliban 2020.

[3]
https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2020-07-30qr-intro-section1.pdf

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