[IPK] Faschismus: Noch immer aktuell

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Mi Jul 7 19:27:04 CEST 2021


Faschismus:

Noch immer aktuell

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Online: https://www.inprekorr.de/596-fas-up.htm

 

Von Ugo Palheta

 

 

Ein Gespenst geht Anfang des 21. Jahrhunderts (wieder) um die Welt: das
Gespenst des Faschismus. Diese Metapher soll unterstreichen, dass der
Faschismus in der Tat ein Heimkehrer ist, der in die zeitgenössische Welt
zurückkehrt, nachdem man naiverweise angenommen hat, dass er nach der
militärischen Niederlage Nazideutschlands 1945 klinisch tot war. [1]

 

Wir wussten zwar mit Brecht: "der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem [die
widerliche Bestie] kroch", aber das blieb eine abstrakte Erkenntnis, solange
nicht wieder die Bedingungen, unter denen sich der Faschismus entwickeln und
gedeihen kann, eingetreten waren. Zugleich waren wir uns jedoch -- wie
Orwell -- bewusst, dass "wenn die Faschisten [zurückkehren], sie den
Regenschirm unterm Arm und eine Melone auf dem Kopf haben [werden]". Diese
Warnung sollte uns davor bewahren, den Faschismus auf seine sichtbarsten und
spektakulärsten Erscheinungsformen zu reduzieren (die großen
Stechschrittaufmärsche, die uniformierten Massenmilizen und überhaupt alles,
was faschistisches Gehabe ausmacht).

 

Aber damit war noch nicht klar, in welchem politischen Gewand der Faschismus
daherkommen und welche neuen ideologischen Formen er annehmen würde. Auch
nicht, welche Strategien seine -- offenen oder versteckten (und die meisten
von ihnen wissen sehr wohl, dass man sich nicht auf die am gründlichsten
diskreditierte politische Ideologie des 20. Jahrhunderts berufen kann, ohne
selbst ins Abseits zu geraten) -- Jünger verfolgen würden, um dieses
kriminelle Ansinnen wieder aufleben zu lassen und ihm wieder millionenfaches
Gehör zu verschaffen und somit wieder Anspruch auf die politische Macht
erheben zu können.

 

Natürlich sind unter denjenigen, die auf die faschistische Bedrohung
verweisen, auch einige dabei, die ihre eigene katastrophale politische
Bilanz und damit ihre Verantwortung für den Aufstieg der extremen Rechten
kaschieren wollen, um so als Retter in der Not aufzutreten. Dazu gehören
Leute wie Emmanuel Macron, Hillary Clinton, Matteo Renzi oder inzwischen
auch Joe Biden, die sich als "fortschrittlich" und als "Bollwerk" gegen den
Aufstieg von Le Pen, Trump oder Salvini geben wollen. Dabei ist es gerade
diese neoliberale extreme Mitte, die für die Renaissance und den Aufschwung
der extremen Rechten verantwortlich ist, was bedeutet, dass es keine
wirkliche Alternative zum Rechtsextremismus gibt, ohne mit dem neoliberalen
Kapitalismus zu brechen und ohne völlige Unabhängigkeit von den Parteien,
die letztlich im Auftrag der Bourgeoisie regieren (auch wenn sie sich einen
linken Anstrich geben). 

 

Aber diese Erkenntnis darf uns nicht genügen: Wenn es eine konkrete Gefahr
gibt, verschwindet diese nicht, nur weil sie von neoliberalen
Politiker*innen instrumentalisiert wird; und wenn letztere augenscheinlich
den Aufschwung der extremen Rechten dazu nutzen, um selbst an die Macht zu
gelangen oder sich an der Macht zu halten, bedeutet das keineswegs, dass die
ultranationalistischen, reaktionären und rassistischen Kräfte bloße
Marionetten in den Händen der neoliberalen extremen Mitte und des Kapitals
sind.

 

 

WAS BEDEUTET FASCHISMUS?

 

Darüber und dass der Rechtsextremismus an sich gefährlich ist und bekämpft
werden muss, dürften wir uns einig sein. Aber kann man überhaupt von einer
Rückkehr des Faschismus sprechen? Mit anderen Worten: Lassen sich die
aktuelle politische Situation und die heutige extreme Rechte überhaupt in
diese historisch so bedeutsame Kategorie fassen? Um diese Frage verbindlich
beantworten zu können, müssen wir uns zunächst auf eine Definition des
faschistischen Phänomens verständigen, damit sich nicht jeder eine
Definition zurechtlegt, die die eigene Sichtweise auf die aktuelle Lage
stützt. Wenn wir uns die Debatte in den USA über Trump oder in Frankreich
über die FN/RN [2] betrachten, zeigt sich, dass es einen solchen Konsens
nicht gibt. 

 

Dies muss uns aber nicht behindern, sofern wir zwei Dinge berücksichtigen:
nämlich den Begriff nicht zu eng zu fassen und ihn auf den italienischen
Faschismus der 1920er und 1930er Jahre zu reduzieren, sodass sich jeder
historische Vergleich verbietet; andererseits ihn nicht zu weit zu fassen
und Faschismus generell mit Autoritarismus gleichzusetzen, sodass sich eine
Vielzahl von Phänomenen darunter subsummieren lässt, die sich in ihrer
Ideologie und Strategie der Machteroberung und -ausübung unterscheiden.

 

Der Faschismus hatte auch in der Vergangenheit verschiedene Gestalten und es
gab erhebliche Unterschiede zwischen den Bewegungen, die allgemein als
faschistisch bezeichnet werden (Mussolinis PNF, Hitlers NSDAP, die spanische
Falange, die rumänische Eiserne Garde, Doriots PPF etc.). Dennoch lassen sie
sich in dieselbe Kategorie fassen, da sie bestimmte Charakteristika gemein
haben, die über eine bloße "familiäre" Ähnlichkeit hinausgehen: eine
Ideologie, mit der sie Massen erfassen konnten, eine Strategie der
Machteroberung und eine Funktion für das herrschende Gesellschafts- und
Wirtschaftssystem.

 

Die Ideologie war die Regeneration einer imaginierten und mythisch und
essentialistisch überhöhten Nation, die durch eine ethnische und politische
Säuberung zustande kommen sollte, die einerseits den (ethnisch-rassischen,
religiösen und geschlechtlichen) Minderheiten galt, andererseits den
sozialen und linken -- ob gemäßigten oder radikalen -- Bewegungen. Die
Strategie bestand im Aufbau einer Organisation, die stark genug war, um in
den Augen der Besitzenden als Alternative zu den traditionellen bürgerlichen
Parteien bestehen zu können und in den Augen der Besitzlosen als Alternative
zu den Arbeiterparteien. Die Funktion war die Wiederherstellung der
politischen Ordnung, die Zerstörung des (wirklich) gesamten demokratischen
Lebens und die Stärkung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung,
die keine Zweifel duldete.

 

Konstitutiv für den Faschismus als Bewegung oder Regime ist u. E. nicht der
Aufbau bewaffneter Banden oder der Gebrauch politischer Gewalt. Zwar war
dies durchaus ein zentraler Bestandteil, aber es gab auch andere Bewegungen
und Regimes, die überhaupt nichts mit Faschismus zu tun hatten und dennoch
gewaltsam vorgingen, um an die Macht zu kommen oder sich dort zu halten, und
dabei mitunter Zehntausende von politischen Gegner*innen ermordeten (ganz zu
schweigen von der legitimen Gewalt seitens der Befreiungsbewegungen, vor
allem gegenüber gewaltsamer kolonialer Unterdrückung).

 

Die sichtbarste Dimension des klassischen Faschismus, nämlich die
parastaatlichen Milizen, sind in Wahrheit bloß ein Element, das der
Strategie der faschistischen Führungen untergeordnet ist und taktisch
eingesetzt wird, um die eigenen Organisationen zu stärken und die politische
Macht auf parlamentarischem Weg zu erobern (was seit der Zwischenkriegszeit
und erst recht heute einigermaßen seriös ausschauen muss und deshalb die
offensten Formen der Gewalt auf Distanz gehalten werden müssen). Die
strategische Stärke faschistischer oder neofaschistischer Bewegungen misst
sich daher an ihrer Fähigkeit, legale oder gewaltsame Taktiken -- je nach
historischer Konjunktur -- einzusetzen und "Stellungskrieg" oder
"Bewegungskrieg" (um Gramscis Kategorien zu verwenden) zu betreiben.

 

Ob eine Bewegung als faschistisch anzusehen ist, bemisst sich nicht danach,
ob ausgewiesene Faschist*innen oder Hitler- oder Mussolini-Nostalgiker*innen
führend in ihr vertreten sind oder ob sie sich auf den historischen
Faschismus beruft, sondern in welchem Ausmaß sich die genannten Grundzüge
(Ideologie, Strategie und Funktion) in ihr wiederfinden. Unter diesem Aspekt
sind u. E. etliche der gegenwärtigen rechtsextremen Politiker*innen und
Bewegungen als neofaschistisch einzustufen -- von der indischen BJP über die
Lega und Bolsonaro bis hin zur FN/RN -- und nicht bloß als "populistisch".
Diese Kategorie schafft nur Unklarheit in der Diskussion, da sie anhand
unscharfer Kriterien linke und rechte Politiker*innen durcheinander wirft,
die keine gemeinsamen politischen Ziele verfolgen: Sanders und Trump,
Mélenchon und Le Pen, Corbyn und Farage etc.

 

Obendrein verbirgt sich hinter der neoliberalen Kritik am "Populismus"
zumeist ein Klassendünkel oder gar ein Hass auf das Volk i. S. der einfachen
Bevölkerung, sobald diese politisch in Erscheinung tritt, weil sie sich mit
der ihr zugedachten Rolle nicht mehr zufrieden gibt. Den "Populismus" zu
kritisieren, bedeutet zumeist, dem Volk autoritäre und rassistische
Neigungen zu unterstellen, obwohl es die neoliberalen Regierungen in Europa
-- zuvörderst Emmanuel Macron -- sind, die den starken Staat wollen und
deren migrationsfeindliche Politik alljährlich für den Tod von Tausenden von
Migrant*innen vor den europäischen Grenzen verantwortlich ist.

 

 

HEGEMONIEVERLUST UND FASCHISMUS

 

Man kann das Problem auch anders angehen und sich fragen, in welchen
politischen Zeiten wir leben und handeln müssen, also wie die gegenwärtige
Periode beschaffen ist. Dass der Faschismus eine ernsthafte Gefahr
darstellt, liegt nicht bloß daran, dass es politische Kräfte gibt, die sich
mehr oder weniger versteckt auf den historischen Faschismus beziehen,
sondern dass die politischen Grundzüge der Gegenwart starke Ähnlichkeiten
damit aufweisen (auch wenn es offensichtliche Unterschiede gibt, was die
wirtschaftliche Globalisierung, die Klassenstrukturen, die Organisierung der
arbeitenden Klassen oder das Verhältnis der Bevölkerung zur Gewalt etc.
angeht). Man muss sich also der einfachen Frage stellen, weswegen
faschistische Tendenzen, wie wir sie oben beschrieben haben und wie sie von
der extremen Rechten entlang der jeweiligen Umstände immer wieder
aufgegriffen und aktualisiert werden, auf massenhafte Resonanz stoßen
konnten.

 

Mit dieser Herangehensweise wollen wir nicht unterstellen, dass "die Massen"
bewusst den Faschismus anstrebten oder ein untergründiges Verlangen danach
hätten. Es geht vielmehr um die Feststellung, dass große Teile der
Bevölkerung bereits zentralen Bestandteilen der neofaschistischen Ideologie
erliegen, auch wenn sie sich natürlich nicht als faschistisch begreifen,
momentan noch nicht bereit sind, unter dem Banner der extremen Rechten (und
noch weniger bewaffneter Milizen) zu marschieren, und in ihrer großen
Mehrheit die einzelnen Parolen nicht der dahinter stehenden Ideologie und
deren wahren Zielen zuordnen. Zugleich muss man aber festhalten, dass der
historische Faschismus keine Mehrheit an den Wahlurnen gebraucht hat, um an
die Macht zu gelangen, sondern nur die Unterstützung einer wesentlichen
Gesellschaftsschicht -- nicht zu verwechseln mit einer bedingungslosen
ideologischen Gefolgschaft -- um den Besitzenden als eine politische
Alternative (zumindest unter gewissen, noch zu erörternden Umständen) zu
erscheinen. Übrigens kann die Beteiligung der Massen als konstitutives
Moment des Faschismus -- im Unterschied zu anderen reaktionären Diktaturen,
die vielmehr eine solche Beteiligung zu unterbinden versuchen --
unterschiedlich ausgeprägt und ausgestaltet sein: von der Zustimmung an den
Wahlurnen über die bloße Mitgliedschaft in der Organisation oder einem ihr
nahestehenden Verband bis hin zum Engagement in den Milizen. Was dabei auch
eine starke Rolle spielt, sind materielle und auch immaterielle Vorteile,
die sich aus einer politischen Machtübernahme ergeben.

 

Charakteristisch für den Faschismus ist der Aufbau einer reaktionären
Massenbewegung. Das heißt, dass er die Unterstützung der Massen sucht --
natürlich nur als Adlaten, weil in der faschistischen Ideologie dem
"geborenen" Führer die eigentliche Hauptrolle zukommt. Bloß unter welchen
Umständen lässt sich diese Unterstützung erzielen? Anders gefragt, welche
Art von Krise kann den Faschismus erstarken lassen? Wir wollen hier nicht
auf die (neo)liberalen Erklärungsmuster eingehen, die darin nur eine
unverständliche Abweichung auf dem Weg des Kapitalismus in die Moderne sehen
oder eine bloße Verirrung der politischen Eliten und der Wirtschaftskreise.
Vielmehr wollen wir uns auf zwei linke Interpretationsmuster konzentrieren.

 

Das eine neigt dazu, den Faschismus bloß als ein mehr oder minder
automatisches Resultat der kapitalistischen Krise zu sehen. Damit wird
ignoriert, dass die Länder, die eine schwere Wirtschaftskrise erlebt haben,
ganz unterschiedliche Entwicklungen genommen haben, und es lässt sich kaum
nachvollziehen, weswegen die USA in den 1930er Jahren oder Griechenland in
den 2010er Jahren dem Faschismus entgehen konnten. Natürlich bildet die
Wirtschaftskrise den Hintergrund, vor dem sich der Aufstieg des Faschismus
vollziehen kann. Aber dies ist nur eine conditio sine qua non für sein
Erstarken und keineswegs ausreichend dafür, dass er sich durchsetzen und
seine Herrschaft erzwingen kann. Der Faschismus kann nur gewinnen, wenn aus
der wirtschaftlichen eine politische Krise wird, aber die kann verschiedene
Formen und Intensitätsgrade annehmen.

 

Die andere gängige Theorie betrachtet den Faschismus als Antwort der
Bourgeoisie auf eine revolutionäre Krise und somit auf einen drohenden
Aufstand der Bevölkerung. Diese Annahme ist historisch falsch. Nicht dass
der aufkommende Faschismus nichts damit zu tun hatte, dass die europäische
Bourgeoisie in den Jahren nach der Russischen Revolution von 1917 eine
soziale Revolution befürchtete und vom Antikommunismus besessen war; aber in
Italien und Deutschland sind die Faschisten nicht auf dem Höhepunkt der
revolutionären Erhebungen an die Macht gekommen, sondern vielmehr, als sich
die Arbeiterklasse auf dem Rückzug befand und desorientiert und
demoralisiert war.

 

Der Faschismus ist daher nicht das Ergebnis einer revolutionären Krise
sondern einer verallgemeinerten Krise der Hegemonie (um eine von Poulantzas
[3] modifizierte Formulierung Gramscis aufzugreifen), in der die politische
Herrschaft der Bourgeoisie ins Wanken geraten ist und zugleich die
Klassenkämpfe rückläufig sind. In einer solchen Konstellation und unter dem
Eindruck der Krise ihres eigenen Systems und der sinkenden Profitraten führt
die Bourgeoisie seinen erbitterten Kampf, um die sozialen und demokratischen
Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerbrechen. Unabhängig davon, ob dies
zu Massenmobilisierungen führt oder nicht, wird in jedem Fall ihre
politische Herrschaft brüchiger dadurch, dass gerade das Vertrauen der
Bevölkerung in ihre traditionellen politischen Vertreter, in die
herrschenden politischen Parteien und gar in die politischen Institutionen
an sich erschüttert wird.

 

Aber die Krise der Hegemonie ist insofern verallgemeinert, als sie alle
Formen von Politik ergreift, sogar die gegenhegemoniale. Denn die Linke und
die Arbeiterbewegung erweisen sich als unfähig, eine Lösung der politischen
Krise voranzutreiben und ein wesentlicher Teil der Volksmassen wendet sich
von den bürgerlichen Parteien ab und ist dann womöglich empfänglich für den
angeblichen "dritten Weg" der Faschisten. Besonders verführerisch kann hier
deren "Antipolitik" sein, die die multiple Krise (von Wirtschaft, Politik
und inzwischen auch Umwelt) überwinden zu können vorgibt und stattdessen
dazu aufruft, "die Nation von ihren Feinden (den Fremden) und deren
Verbündeten zu befreien", wobei in den Augen der Faschisten die gesamte
Linke und die sozialen Bewegungen zu den "Fremden" zählen.

 

 

FRANKREICHS FATALE ENTWICKLUNG 

 

Frankreich liefert ein besonders frappierendes Beispiel für diese Art von
Krise -- eine unselige Spirale in Richtung einer Katastrophe, nicht im Sinn
einer linearen Entwicklung hin zum Faschismus, sondern einer historischen
Dynamik, die -- genährt durch bestimmte Grundzüge der französischen Politik
-- bereits im Gange, aber nicht unaufhaltsam ist. Wenigstens drei
Charakteristika dieses politischen Hintergrunds verdienen eine nähere
Erläuterung.

 

Zunächst erleben wir in Frankreich eine seit Mitte der 1990er Jahre
beständig zunehmende politische Instabilität, die sich inzwischen so
zugespitzt hat, dass die beiden Parteien, die nahezu 40 Jahre lang die
Geschäfte der Bourgeoisie an der Regierung geführt haben, inzwischen
marginalisiert sind (die PS mit 6 % und die Republikaner mit 8,5 % bei den
letzten Europawahlen). Emmanuel Macron sollte genau diese Krise der
politischen Vertretung überwinden, indem er die Flügel der PS, die gänzlich
unverhüllt zum autoritären Neoliberalismus übergelaufen sind, mit den
Fraktionen der Rechten, bei denen Sarkozy so gut wie nichts ausrichten
konnte oder die einfach nur besonders opportunistisch sind (wenn man an
Darmarin denkt) vereint. 

 

Jedoch führt dieselbe (neoliberale) Politik zu denselben Reaktionen und
Macrons Popularität in der Bevölkerung ist rasch gesunken. Die
Gelbwestenbewegung ist zum Kristallisationspunkt dieses Vertrauensverlusts
geworden und hat ihn entzaubert. Inzwischen zeigt er sich seinen Gegnern und
seinen Anhängern gegenüber als das, was er wirklich ist, nämlich Chef einer
systemtreuen Partei, deren Zusammenhalt in dem Ziel des Erhalts der
Klassenprivilegien um jeden Preis und der vollständigen Zerstörung der
sozialen (Sozialsicherung, öffentliche Dienste, Arbeitsrecht etc.) und
demokratischen (bes. Grundrechte) Errungenschaften begründet ist. Aber
während die wechselnde Zweiparteienherrschaft von PS und den Rechten noch
den Anschein einer Alternative aufrecht erhielt, ist durch deren Aufgehen in
Macrons LREM für die Bourgeoisie diese Scheinalternative weggebrochen,
weswegen sie versucht sein könnte, auf die extreme Rechte zu setzen. Die
Linie, die der (u. a.) Medienunternehmer Bolloré in seinen Medien verfolgt,
deutet in diese Richtung, ebenso manche Signale seitens des
Unternehmerverbandes Medef (auch wenn er sich zum jetzigen Zeitpunkt noch
weitgehend gegen FN/RN stellt).

 

Der zweite Aspekt berührt die Linke und die sozialen Bewegungen. Diese waren
durchaus rege in den letzten 20 Jahren und haben wesentlich dazu
beigetragen, dass die bürgerliche Hegemonie geschwächt wurde, indem sie die
Kritik des Neoliberalismus und der Globalisierung des Finanzkapitals
formuliert und verbreitet haben und indem sie die Regierungen bei etlichen
Vorzeigeprojekten durch kämpferische Proteste zum Einknicken gebracht haben.
Man denke an die Rentenreform der Regierung Juppé 1995 oder den
"Ersteinstellungsvertrag" von 2006, mit dem die Jugend noch weiter in
prekäre Verhältnisse gezwungen werden sollte. Allerdings ist es ihnen nicht
gelungen, die Umverteilung von unten nach oben und auch nicht den
aufflammenden Rassismus und bes. die Islamophobie zu stoppen und auch nicht
den Trend zum starken Staat aufzuhalten.

 

Noch schwerer wiegt, dass sie nicht dazu in der Lage waren, eine politische
Alternative zum neoliberalen Kapitalismus aufzubauen, weil sie sich entweder
in den "bürgerlichen Block" (namentlich auf Seiten der Grünen, aber lokal
auch der KP) einbinden ließen oder sektiererischer Selbstgenügsamkeit und
Spaltungstendenzen erlagen (dies betrifft die revolutionäre Linke) oder aber
die politische Machtfrage außen vor ließen ( die autonomen Bewegungen). Die
Strömung um Jean-Luc Mélenchon konnte wohl vorübergehend breitere Massen
erreichen, besonders bei den Präsidentschaftswahlen 2017, konnte aber oder
wollte diese Wahlerfolge nicht in eine demokratisch aufgebaute und breit
verankerte politische Organisation ummünzen.

 

Last but not least ist die politische Landschaft in Frankreich von einer
unter den Wähler*innen tief und fest verankerten extremen Rechten geprägt,
dem Rassemblement National, der auch ideologisch sehr einflussreich ist,
weil seine Medien und Vordenker*innen ein breites Publikum erreichen und
dort unentwegt ihre (rassistischen, fremdenfeindlichen, homophoben,
chauvinistischen und autoritären) Ressentiments verbreiten können. Damit
gelingt es ihnen auch, Brücken zu den traditionellen rechten Wähler*innen zu
schlagen, die durch die Ära Sarkozy radikalisiert worden sind.

 

Teilweise sind diese Erfolge auf das unbestrittene Geschick ihrer
politischen Führungspersönlichkeiten (bes. Marine Le Pen) und Ideologen
(Zemmour als ein Beispiel unter mehreren) zurückzuführen. Dies erklärt
jedoch nicht allein deren Stärke; mit ausschlaggebend ist auch, dass sich in
ihnen drei zeitliche Ebenen vereinen und wechselseitig überschneiden und
verstärken. Auf lange Sicht ist dies der französische Imperialismus, dessen
Niedergang zur mythischen Idealisierung der französischen Nation verleitet
und Sichtweisen befördert, die aus dem Fundus des kolonialen Rassismus
schöpfen. Mittelfristig ist dies die Krise der Hegemonie, die sich seit etwa
zwanzig Jahren als Reaktion auf eine Politik des Sozialabbaus verschärft und
sowohl eine allgemeine Politikmüdigkeit als auch ein politisches Vakuum
schafft ; und kurzfristig (2015--2021) sind es die Anschläge von Gruppen,
die sich auf den Islam berufen, aber vor allem deren Instrumentalisierung
durch die Regierungen, um eine autoritäre und islamophobe Politik zu
rechtfertigen (was sich in einer Reihe erbärmlicher Gesetze manifestiert).

 

Die Antikapitalist*innen stehen somit vor vielfältigen und weitreichenden
Herausforderungen. Anders als in der Karikatur spielt sich der Klassenkampf
-- übertragen auf den politischen Kampf um die Macht -- sehr selten bloß
zwischen zwei Spielern ab. Wie die Zwischenkriegszeit zeigt, können in
Krisensituationen und bei plötzlich einsetzender oder anhaltender
Destabilisierung der politischen und sozialen Verhältnisse rechtsextreme
Bewegungen, die von den traditionellen bürgerlichen Parteien unabhängig
sind, ein Massenpublikum erreichen und dieses dann in den Dienst des
Kapitals stellen, indem sie Bündnisse mit einer politisch geschwächten
Bourgeoisie eingehen. Mehr denn je müssen wir an zwei Fronten kämpfen: gegen
die extreme Mitte, deren neoliberale, autoritäre und rassistische Politik
die faschistische Dynamik ständig befördert und damit die Gefahr einer
Katastrophe heraufbeschwört; und gegen die extreme Rechte, die den Zorn der
Bevölkerung kanalisiert, indem sie ihn auf Minderheiten lenkt, hierzulande
besonders auf Migrant*innen und Muslim*innen.

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 4/2021 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

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[1]  Der Historiker Zeev Sternhell warnte 2003: "Diese Rechte, die die
prominentesten Intellektuellen und das einfache Volk der großen europäischen
Metropolen -- gleich ob hinter Petain, Mussolini oder Hitler -- vereinte,
wurde weder in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs geboren, noch starb
sie in den Ruinen von Berlin. Wie immer auch man sich ihre Zukunft
vorstellt, ist diese Rechte noch immer Teil unserer Gegenwart."

[2]  Die Umbenennung des Front National (FN) in Rassemblement National (RN)
war nichts als ein Fassadenwechsel, der an den Inhalten der 1972 von Le Pen
gegründeten Partei nichts geändert hat. Zudem hieß bereits 1986 bis 1988 die
Parlamentsfraktion der FN Rassemblement National und davor die faschistische
und Kollaborationstische Organisation von Marcel Déat während des
Vichy-Regimes "Rassemblement national populaire".

[3]  N. Poulantzas, /Faschismus und Diktatur. Die Kommunistische
Internationale und der Faschismus/. Trikont-Verlag, München 1973

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