[IPK] Ein vollständiger Umbau des Verkehrs- und Transportsektors ist unabdingbar

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Mo Mär 15 10:30:32 CET 2021


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Ökosozialismus/Vierte Internationale:

Ein vollständiger Umbau des Verkehrs- und Transportsektors ist unabdingbar

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Resolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale

 

 

Um gegen den Klimawandel angehen zu können, muss u. a. das gesamte
Transportsystem vollständig gedreht und umgebaut werden, denn es ist derzeit
für ein Fünftel (in einigen Ländern bis zu einem Viertel) der Produktion von
Treibhausgasen verantwortlich. Von 1970 bis 2004 stiegen im ölbasierten
Verkehrssektor (Autos, SUVs, LKWs, Schiffe, Flugzeuge) die CO2-Emissionen um
222 %. Prognosen zufolge werden sie bis 2030 um weitere 80 % zunehmen.
Zwischen 2015 und 2019 wurden jährlich mindestens 90 Millionen Fahrzeuge
produziert. Doch jedes einzelne Auto steht 90 % der Zeit still, was den Bau
von Parkplätzen und Garagen erforderlich macht. Diese Fahrzeuge bewirken 78
% der CO2-Emissionen, die durch den Bau, die Instandhaltung und die Nutzung
von Straßen und Autobahnen verursacht werden (der Rest kommt von Bussen,
Straßenbahnen und Zügen). Außerdem ist diese Art des Individualverkehrs
marktgesteuert und verstärkt daher die Ungleichheit. Wir können uns die
"Autokultur", die die Gesellschaft in den letzten 75 Jahren dominiert hat,
nicht mehr leisten.

 

Trotz der Dringlichkeit, den Verkehr und den Bestand an Privatautos
erheblich zu reduzieren, wird es ein schwieriger Kampf sein, die
Autoindustrie in eine Industrie umzuwandeln, die für den öffentlichen
Verkehr produziert. Es gab jedoch in gewisser Hinsicht schon ein Modell:
Während des Zweiten Weltkriegs wurde die gesamte US-Autoproduktion gestoppt,
da Washington die Werke für die Kriegsproduktion beschlagnahmte. Ein noch
weitreichenderer industrieller Umbau ist heute notwendig, um unsere
Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen drastisch zu reduzieren.

 

Darüber hinaus sind Autounfälle ein großes Problem. Nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation sterben jedes Jahr 1,35 Millionen Menschen bei
Autounfällen, 50 Millionen erleiden schwere Verletzungen. Etwa sieben
Millionen sterben durch Luftverschmutzung, vielleicht eine Million durch
Emissionen fossiler Brennstoffe aus Fahrzeugen oder durch deren Wartung. 

 

Die Autoindustrie war ein zentraler Motor der Industrialisierung im letzten
Jahrhundert. Dieser Industrie vorgelagert gibt es ein ganzes Netzwerk, das
nach Öl bohrt bzw. es durch Fracking fördert und Mineralien schürft. Diese
werden in Chemikalien, Reifen, Glas, Stahl und Plastik umgewandelt und dann
zu den Montagewerken verschifft. Der Autoindustrie nachgelagert existiert
ein umfangreicher Markt mit Ausstellungsräumen, Reparaturwerkstätten,
Tankstellen und Schrottplätzen. Wenn wir analysieren, wie das Streben nach
Profit mit der Notwendigkeit der Produktionsausweitung verbunden ist,
erkennen wir, dass wir viel mehr tun müssen, als unsere Welt zu
"dekarbonisieren". Wir müssen auch die anderen natürlichen Ressourcen, die
in die Herstellungsprozesse einfließen, bewerten und neu zuordnen. Aufgrund
der Tatsache, dass das Privateigentum und die damit verbundene
Profitwirtschaft diese Krise verursacht haben, sind die Führungen dieser
Unternehmen nicht in der Lage, den Turnaround zu vollziehen.

 

Soweit sie den Ernst der Krise erkannt haben, haben diese Kapitalist*innen
darauf reagiert, indem sie die Umstellung auf Elektrofahrzeuge als Lösung
anbieten. Das reduziert zwar den Verbrauch von fossilem Treibstoff im
Benzintank, berücksichtigt aber nicht die Gesamtbelastung, die durch die
Produktion und die Nutzung solcher Fahrzeuge entstehen. Demgegenüber
schlagen wir regionale oder lokale Arbeiter*innen-Teams vor, die ein
effizientes Verkehrs- und Transportsystem entwickeln und betreiben können,
das allen zur Verfügung steht.

 

 

E-AUTOS SIND KEINE LÖSUNG FÜR DIE BESTEHENDEN ÖKOLOGISCHEN PROBLEME

 

Mainstream-Medien, Teile der Bourgeoisie und große Teile der Öffentlichkeit
sehen in der Umstellung auf Elektrofahrzeuge eine Lösung für die Probleme,
die durch Treibhausgase im Verkehrssektor entstehen. Es gibt jedoch
entscheidende Gründe, warum dies nicht funktioniert und weshalb die eh schon
bestehenden ökologischen Probleme damit womöglich noch verschärft werden:

 

* Bevor sie überhaupt gefahren werden, bringen Elektrofahrzeuge einen
enormen "ökologischen Rucksack" mit: Die Herstellung der Batterien erfordert
einen hohen Energieverbrauch und einen hohen Rohstoffeinsatz, sodass man ein
Elektroauto 8 Jahre lang fahren muss, bevor eine Reduzierung des
Gesamt-CO2-Ausstoßes im Vergleich zu einem benzinbetriebenen Auto erreicht
wird. [1]

 

* Selbst diese 8 Jahre zur Erreichung einer besseren Bilanz des
CO2-Ausstoßes würden nur gelten, wenn die zu verbrauchende elektrische
Energie zu 100 Prozent ökologisch wäre, was völlig illusorisch ist. Der
bestehende Strommix (hauptsächlich Kohle, Gas, Öl, regenerative Ressourcen)
wird sich in den nächsten Jahren nicht wesentlich ändern. Wenn also eine
nennenswerte Anzahl von E-Autos (selbst wenn man E-LKWs und E-Busse mit
Batterien außer Acht lässt) zum Einsatz käme, müssten zusätzliche
Strommengen aus fossilen Brennstoffen gewonnen werden. Außerdem würde eine
enorme Menge an neuer Infrastruktur benötigt (Millionen von Ladestationen
etc., die eine Menge zusätzlicher CO2e-Produktion erfordern). [2]

 

* Es gibt bedeutende Rebound-Effekte: [3]

 

  - Die massenhafte Nutzung von E-Autos würde mehr Verkehr erzeugen, da die
Menschen denken, dass dies ein ökologisches Fahrzeug ist (weil es keinen
Kraftstoff verbrennt). Dies umso mehr, als ein solches Auto wesentlich
teurer ist und die Leute denken könnten, sie müssten es häufiger benutzen,
damit es "ökologisch effektiv" ist. Gleichzeitig würden diese Menschen
seltener öffentliche Verkehrsmittel nutzen.

 

  - Aufgrund der geringen Reichweite dieser Autos (ca. 200 km, nur der große
Tesla erreicht 400 km, im Winter sind diese Zahlen noch bescheidener) und
weil man mehrere Stunden zum Aufladen der Batterie benötigt, sind 59 % der
E-Autos Zweitwagen. Diese zusätzlichen Autos tragen zu den allgemeinen
Nachteilen dessen bei, was man die "Autogesellschaft" nennen kann.

 

  - Und es gibt einen Rebound-Effekt, der schon heute sichtbar ist: E-Autos
werden die steigende Produktion von SUVs verlängern.

 

 

 

Völlig unabhängig davon, dass alle anderen Nachteile des motorisierten
Individualverkehrs (siehe unten) fortbestehen würden, gibt es einige
zusätzliche ökologische Nachteile, die man kennen sollte und die von den
Befürworter*innen und Nutzer*innen von E-Autos völlig ausgeblendet werden:

 

Wichtige Rohstoffe würden massiv ausgebeutet werden. Für ein E-Auto braucht
man die vierfache Menge an Kupfer (bis zu 80 kg pro Auto). Bis 2027 wird
sich der Abbau von Kupfer verzehnfachen (betroffen sind vor allem die Länder
Brasilien, Peru, Chile und Argentinien). 

 

Die Produktion der Batterien erfordert die Verarbeitung großer Mengen sehr
wertvoller Rohstoffe: Lithium, Graphit, Kobalt und Nickel. Die heutige
Produktion von Lithium beläuft sich auf 200 000 Tonnen, bis 2025 wird sie
auf 600 000 Tonnen ansteigen. Tesla-Ingenieure rechnen mit einem Bedarf von
2--3 Millionen Tonnen. [4] Eine Tonne Lithium erfordert den Einsatz von 1,9
Millionen Liter Wasser.

 

Der größte Verursacher von Treibhausgasen im Verkehrssektor ist der
motorisierte Individualverkehr. Aber auch der Transport von Containern rund
um die Welt, Kreuzfahrtschiffe und der Flugverkehr sind sehr schädlich.
Letzterer ist beispielsweise dreimal so schädlich wie die Nutzung eines
Autos und 19-mal so schädlich wie die Nutzung eines Zuges (gemessen in
Personenkilometern). Nicht nur die Nutzung von Autos durch Einzelpersonen
ist verheerend, auch die zunehmende Nutzung von LKWs (bei gleichzeitigem
Abbau der Eisenbahn) für den Transport von Gütern ist extrem schädlich und
zwar nicht nur auf der ökologischen Ebene. 

 

Eine Veränderung des Verkehrssektors nicht nur aus ökologischen Gründen ist
dringend erforderlich.

 

 

WARUM DER MOTORISIERTE INDIVIDUALVERKEHR TÖDLICH IST, AUCH WENN MAN DIE
ÖKOLOGISCHEN AUSWIRKUNGEN AUSSER ACHT LÄSST.

 

*1.* Wir müssen uns vor allem darüber im Klaren sein, dass diese Art von
Verkehrssystem eine sehr hohe Zahl von Todesopfern verursacht. Allein in der
EU starben im Jahr 2018 bei Autounfällen 25 000 Menschen, 135 000 wurden
schwer verletzt. Die von der WHO veröffentlichten Zahlen des Road Safety
Reports 2018 (Zahlen für 2016) zeigen, dass in den USA mehr als 39 000
Menschen starben, in Indien mehr als 299 000 und auf der Welt 1 323 666
(dies sind nur die offiziell registrierten Todesfälle). Diese hohe Zahl an
Todesopfern ist nur durch die hohe Gefährdung zu erklären, die die
"Autogesellschaft" mit sich bringt, also der motorisierte Individualverkehr
und die übermäßige Nutzung von LKW, Flugzeugen und Containerschiffen. Um die
Proportionen richtig einzuordnen, können wir das Beispiel Japan in den
Jahren 1966 bis 1975 heranziehen: Damals gab es 190 Tote durch Zugunfälle,
aber 46 486 Tote durch Autounfälle, obwohl die Züge in diesem Zeitraum mehr
Menschen transportierten als die, die mit dem Auto unterwegs waren. Das
entspricht einem Verhältnis von 1:245. [5] Seit der Erfindung des Autos
beläuft sich die Zahl der Todesopfer auf über 48 Millionen, was der
Opferrate eines Weltkriegs entspricht. 

 

*2.* Hinzu kommt: Man darf die Langzeitwirkungen der Schadstoffe nicht
vergessen, die von Autos und LKWs ausgestoßen werden. Besonders verheerend
sind Feinstaub (zu einem großen Teil verursacht durch Emissionen von Pkw und
Lkw, vor allem durch Reifen und Bremsen) und NOx. In den meisten Großstädten
wird der von der WHO festgelegte Grenzwert weit überschritten. [6] In
Shanghai mussten die Ärzte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts 1000 an
Lungenkrebs Erkrankte pro Jahr operieren. Fünfzehn Jahre später stieg die
Zahl auf mehr als 10 000. Die WHO hat errechnet, dass weltweit jedes Jahr
etwa 4,5 Millionen Menschen an Feinstaub sterben (zu einem großen Teil
hervorgerufen durch den Straßenverkehr).

 

Und es gibt noch einen weiteren Faktor, der unsere Gesundheit beeinflusst:
Der Auto- und Flugverkehr ist ein wichtiger Verursacher des zunehmenden
Lärms, der in beträchtlichem Umfang Herzinfarkte, Schlaflosigkeit,
Bluthochdruck, Nervenzusammenbrüche und andere schwere Krankheiten
hervorruft. [7]

 

*3.* Die Priorität der Investitionen und der Infrastruktur liegt in den
Bereichen, in denen das Kapital ein Maximum an Profiten realisieren kann,
was -- für den Verkehrssektor -- nicht nur den Bau von Autobahnen, sondern
auch den gesamten Städtebau betrifft. Die Struktur der Städte ist völlig
deformiert, sodass sie für Autos und nicht für Fußgänger*innen oder
Radfahrer*innen geeignet sind. Das behindert den öffentlichen Verkehr und
macht die Städte nicht nur ungesund, sondern auch zu Orten, an denen man
nicht wirklich leben oder seine Freizeit verbringen möchte. Somit ist die
Urbanität stark eingeschränkt, was den Kampf um das "Recht auf Stadt" (Henri
Lefebvre) umso dringlicher macht.

 

Gleichzeitig beeinträchtigt das auto-zentrierte Verkehrssystem die
Infrastruktur auch auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Fast jede zurückgelegte Wegstrecke wird länger. In den 1970er Jahren legte
ein Westeuropäer im motorisierten Alltagsverkehr etwa 9 000 km pro Jahr
zurück. Im Jahr 2006 waren es bereits 14 000 km. Das liegt im Wesentlichen
nicht an mehr Reisen, sondern an den längeren Wegen zum Arbeitsplatz, zum
Einkaufen und so weiter.

 

Der Stadtplaner Martin Wagner (im Exil in den USA) verglich Berlin Ende der
1920er Jahre mit New York 1957. Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist
eindeutig: Die Anzahl der Wege (d. h. jegliche Fortbewegung), die ein Mensch
in einem Jahr zurücklegen muss (oder will), hat sich in diesen Jahren nicht
wesentlich verändert. Sie betrugen etwa 1000 pro Jahr und 650 davon könnten
zu Fuß zurückgelegt werden, wenn ... der Städtebau nach ökologischen und
sozialen Kriterien erfolgen würde. Neuere deutsche Statistiken zählten eine
durchschnittliche Anzahl von Fahrten von 1216 pro Jahr. Der Anstieg ist vor
allem auf die Entdeckung neuer Fahrten, wie z. B. die Begleitung von
Kleinkindern, zurückzuführen, die -- zum großen Teil -- nicht notwendig
wären, wenn die Wege für die Kinder kurz genug wären, d. h. so kurz wären
wie vor hundert Jahren und wenn eine vernünftige Stadtplanung umgesetzt
würde.

 

*4.* Die Autogesellschaft ist zudem auch sehr platzraubend, vor allem für
die Nutzung der nur privat genutzten Fahrzeuge, da sie achtmal so viel Platz
für den Transport benötigen wie die Bahn (gemessen in Personenkilometern).
Die Straßenbahn benötigt im Vergleich zum PKW 40-mal weniger Platz. Auf
kurzen Strecken benötigen LKWs 15-mal so viel Platz wie Züge, bei kleineren
LKWs (und kürzeren Strecken) liegt das Verhältnis bei 70:1.

 

Platz raubt die Autogesellschaft noch auf zwei weiteren Ebenen: Da ist zum
einen der endlos fortgesetzte Autobahnbau, der Bau von noch mehr
Parkplätzen, der Bedarf an immer mehr Land, auf dem Rohstoffe abgebaut
werden usw. Die zweite zusätzliche Ebene: Das Worldwatch Institute
(Washington) hat herausgefunden, dass die Produktion von Ethanol eine enorme
Menge an Land benötigt: Für ein Auto, das mit Ethanol fährt, wird eine
landwirtschaftliche Fläche benötigt, die 16,5mal größer ist als diejenige,
die ein Kleinbauer in einem Jahr für seinen Lebensunterhalt benötigt. Heute
hungern fast 900 Millionen Menschen, während jedes Jahr 142 Millionen Tonnen
Getreide und Raps in "Biosprit" umgewandelt werden, genug um 420 Millionen
Menschen zu ernähren. Da immer mehr Ackerland in Flächen für den Anbau von
"Pflanzen für den Tank" umgewandelt wird, fehlen diese Flächen für die
Produktion von Nahrungsmitteln. Und es darf nicht vergessen werden: Je nach
Region werden bis zu 3500 Liter Wasser benötigt, um einen Liter "Biosprit"
zu produzieren.

 

*5.* Durch das ununterbrochene Wachstum der "Autogesellschaft" wurden nicht
nur die durchschnittlich zurückgelegten Wegstrecken länger, die Menschen
müssen auch immer mehr Zeit dafür aufbringen, vor allem auf dem Weg zum
Arbeitsplatz. In den Städten -- von Mexiko-Stadt bis Peking, von Los Angeles
bis Neu-Delhi -- verbringen die Menschen täglich Stunden im Stau. Schon 1998
zählte eine deutsche Statistik 67 Stunden Stau pro Jahr für die Menschen im
Auto (das ist mehr Zeit, als sie beim Sex verbringen). Im Jahr 2018 lag der
durchschnittliche Zeitaufwand für Staus bei 120 Stunden pro Jahr und
Fahrer*in. [8]

 

Außerdem wird die Zahl der Autos weltweit zunehmen. Im Jahr 2010 gab es eine
Milliarde Autos; im April 2019 waren es schon 1,24 Milliarden; bis 2025
erwarten aktuelle Studien 1,8 Milliarden und bis 2050 2,7 Milliarden (das
sind 2700 Millionen!). Inklusive LKW, Busse und so weiter werden wir im Jahr
2025 2,1 Milliarden Fahrzeuge auf den Straßen haben, also doppelt so viele
wie 2010. [9] Hinzu kommt, dass die produzierten und genutzten (!) Autos mit
immer mehr Pferdestärken ausgestattet sind. Im Jahr 2017 wurden in den USA
11 Millionen SUV verkauft, nicht eingerechnet die wachsende Zahl (und
wachsende Motorleistung) von Pickups.

 

Alles zusammengenommen stehen wir vor dem Klimakollaps, wenn wir nicht einen
grundlegenden Umbau des gesamten Verkehrssektors erzwingen.

 

*6.* Die "Autogesellschaft" ist teuer. 

 

Kauf und Unterhalt eines Autos ist viel teurer als die Nutzung eines
vernünftigen öffentlichen Verkehrssystems. Unabhängig von den ökologischen
und anderen oben genannten Effekten wird jedes Auto von der Gesellschaft (d.
h. von den Steuerzahler*innen) hoch subventioniert.

 

Obwohl der weit verbreitete Begriff "externe Kosten" eigentlich irreführend
ist (da diese Kosten nicht von außen kommen, sondern dem autobasierten
Verkehrssystem strukturell inhärent sind), sind die Ergebnisse der
verschiedenen Studien recht eindeutig und einigermaßen deckungsgleich. Die
wichtigste ist die Untersuchung "External Effects of Transport. Accident,
Environment and Congestion Costs of Transport in Western Europe". In der
Studie von 2004 werden die Zahlen für das Jahr 2000 angegeben. Demnach
beliefen sich diese Kosten in der damaligen EU-15 zusammen mit Norwegen und
der Schweiz (wir nennen sie EU-17) auf 7,3 % ihres BIP, /ohne/ die
Staukosten mitzuzählen. Die größten Anteile hatten die Auswirkungen auf das
Klima (30 % der "externen Kosten") und die Auswirkungen auf die
Gesundheitsversorgung vor allem in Krankenhäusern (24 %).

 

Inzwischen -- da die Autos, vor allem die SUVs, immer größer werden und der
Straßenbau immer teurer wird -- kommen wir auf bis zu 10 % des BIP für die
sogenannten "externen Kosten", erst recht, wenn wir die Staukosten und die
steigenden Kosten für die größere Infrastruktur für LKWs (wie die
"Gigaliner" etc.) berücksichtigen.

 

Dies entspricht den Untersuchungen der Universität Dresden, dass (in
Deutschland) jedes Auto mit 2000 Euro pro Jahr subventioniert wird. Das sind
45 000 Euro an Subventionen für ein Auto durch die Gesellschaft. Andere
Studien gehen von noch höheren Zahlen aus, wie z.B. die von IWW/INFRAS. Für
das Jahr 1996 errechnete diese Institution bereits jährliche Subventionen
von 4000 DM (=2250 EUR) für jedes Auto pro Jahr! [10] Tatsächlich wäre nur
ein kleiner Teil der Bevölkerung in der Lage, zusätzlich zum Kaufpreis
weitere 25 000 EUR für ein neues Auto zu bezahlen. Das bestehende System ist
also eine riesige Subventionsmaschine für die gesamte ölbasierte Wirtschaft,
vor allem für die Autoindustrie.

 

 

DER KAPITALISMUS KANN DIE PROBLEME NICHT LÖSEN

 

Das bestehende gesellschaftliche und politische System wird mehrheitlich von
mächtigen fossilen Konzernen dominiert, die viel Kapital in diesen
speziellen Teil der Wirtschaft investiert haben, der sie zu einer
ölbasierten Wirtschaft macht. Schon seit Jahrzehnten sind unter den zehn
größten Konzernen der Welt jeweils fünf bis sieben "fossile" (die folgende
Rangliste ist die von 2017, in der wieder sieben Konzerne "fossil" sind):
Royal Sinopec (im Ölsektor und gleichzeitig Nr. 3 der zehn größten
Konzerne); China National Petroleum (Öl; Nr. 4); Shell (Öl, Nr. 5); Toyota
(Autoindustrie; Nr. 6); Volkswagen (Autoindustrie; Nr. 7); BP (Öl; Nr. 8);
Exxon (Öl; Nr. 9).

 

Dieser mächtige Sektor der kapitalistischen Wirtschaft ist zugleich der
Impulsgeber der kapitalistischen Entwicklung: Seit der Wiederherstellung
eines "normalen" Zyklus der kapitalistischen Entwicklung (Mitte der 70er
Jahre) hatten wir fünf Zyklen und das waren immer gleichzeitig die Zyklen
der Autoindustrie (im Moment sind wir am Ende von Zyklus 6). Am wichtigsten
ist, dass mit neuen Produktions- und Transportmethoden seit den 1970er
Jahren globale Lieferketten aufgebaut wurden, die LKWs, Flugzeuge,
Eisenbahnen und Schiffe einsetzen, um die Produktionskosten zu senken. Diese
verschiedenen Transportmittel befördern standardisierte Container von einem
Teil der Welt zum anderen. Diese Technologie zur Vergünstigung und
Beschleunigung langer Transporte basiert u. a. auf dem Abbau von
Zollschranken und verbesserter Kommunikation. Die Technologie ermöglicht die
Koordination einer globalen Aufteilung von Aktivitäten und erlaubt eine
zunehmende Arbeitsteilung. Sie beginnt mit der Beschaffung von Rohstoffen,
weist aber die Materialmontage und die Komponentenproduktion den Gebieten
mit niedrigeren Löhnen zu, während sie gleichzeitig strenge technische
Standards vorschreibt. Das Management legt außerdem Wert auf eine schlanke
Produktion und Just-in-Time-Lieferung, um den Bedarf an Lagerbeständen
drastisch zu reduzieren. Obwohl die Logistik der globalen Lieferkette je
nach Branche unterschiedlich ist, hat sie in der Automobilindustrie allein
in den OECD-Ländern zu einer Senkung der Gesamtkosten um 11 % geführt. [11]
Angesichts der Störungen, die das COVID-19-Virus verursacht hat, überdenken
allerdings einige Unternehmen das Ausmaß ihrer globalisierten
Wertschöpfungskette.

 

Die Reichweite der ölbasierten Wirtschaft (der fossilen Wirtschaft) geht
weit über die Autoindustrie hinaus: Dazu zählen vor allem der
Schifffahrtssektor, die Luftfahrt (Flugverkehr) und natürlich der
Energiesektor (Strom, Heizung). Die gesamte Infrastruktur der Wirtschaft und
unsere Lebensweise (vom Städtebau bis hin zum gesamten Verkehrs- und
Transportsektor) werden vom fossilen Sektor der Wirtschaft bestimmt. 

 

Die Abkehr von dieser Art des Wirtschaftens wird nicht allein durch starke
Argumente möglich sein. Es wird eine Mehrheit der Bevölkerung davon
überzeugt werden müssen, dass wir eine völlige Kehrtwende brauchen, wenn
wir, unsere Kinder und Enkelkinder, eine lebenswerte Zukunft haben sollen.
Breite Koalitionen ökologischer und sozialer Kräfte werden die Interessen
der Konzerne bekämpfen müssen. Das bedeutet -- aufgrund der damit
verbundenen Implikationen --, dass dieser Kampf mit dem Kampf für ein
anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verbunden werden muss. Für
diesen Umbau wird eine totale Umkehr aller Investitionen notwendig sein. Nur
die Gesellschaft als Ganzes wird in der Lage sein, das zu leisten und
umzusetzen. Die Enteignung des Kapitals wird eine Voraussetzung sein, aber
das allein wird nicht ausreichen. Es ist ähnlich wie bei der Befreiung der
Frauen, der unterdrückten Nationalitäten usw.: Ohne die Abschaffung der
Autogesellschaft wird der Sozialismus nicht möglich sein und die Abschaffung
der Autogesellschaft wird nicht ohne Sozialismus möglich sein.

 

Für die Umwandlung der Autoindustrie in eine Industrie zum Bau von
öffentlichen Verkehrsmitteln ist es unabdingbar, dass die
Arbeiter*innenklasse und die breite Öffentlichkeit auf jeder Stufe der
Rohstoffgewinnung, der Produktion, des Transports und der Wartung die
entscheidenden Akteure sind. Das heißt, ein Netzwerk von Arbeiter*innen- und
Gemeinschaftsorganisationen wird notwendig sein, um das neue System zu
entwerfen, konkret zu planen und praktisch umzusetzen. Diese Strukturen
werden auch die passenden Arbeitsbedingungen unter Berücksichtigung der
Entlohnung und Sicherheit der Arbeiter*innen und der Gemeinschaft
sicherstellen. Dies beinhaltet die Reduzierung und Angleichung der
Arbeitszeiten, die Maximierung der Fähigkeit aller, sich an der Planung zu
beteiligen, wie auch die Neugestaltung der Arbeitsplätze, um Wissen und
Zufriedenheit zu verbreiten. Bezahlte Freizeit wird für eine breite Palette
von Bedürfnissen garantiert werden. Das Gefälle zwischen dem Globalen Norden
und Süden wird unter diesen Bedingungen beendet werden und andere Formen der
Diskriminierung durch die demokratische Beteiligung aller beseitigt werden
können. Natürlich wird es Fehler geben, aber diese können durch die
transparenten Prozesse der demokratisch organisierten Analyse, Bewertung und
Entscheidungsfindung korrigiert werden.

 

 

WAS SIND UNSERE ZIELE?

 

Wenn wir unsere Forderungen kundgeben, appellieren wir nicht an die
Regierungen (oder -- um genau zu sein -- an die herrschende Klasse als
Ganzes), sondern wir sprechen klar aus, welche Veränderungen wir für
notwendig erachten und für die es sich zu kämpfen lohnt. Dieser Kampf muss
von unten, von allen beherrschten Klassen ausgehend geführt werden. Dabei
machen wir deutlich, dass es auch im Kapitalismus möglich ist, den
öffentlichen Verkehr zu stärken, und wir unterstützen solche Kämpfe. Dabei
vertreten wir die Position, dass die Kosten für die Umstellung von den
großen Unternehmen zu zahlen sind, die schließlich davon profitieren, dass
die Arbeitenden in die Betriebe kommen. Aber auch staatliche Gelder sollen
dafür locker gemacht werden. Die Entscheidungen für den konkreten Ausbau des
öffentlichen Verkehrssystems sollten bei breitesten regionalen oder lokalen
Arbeiter*innen- und sonstigen lokalen und regionalen Kollektiven liegen.

 

Zu unseren Forderungen sowie kurz- und langfristigen Zielen gehören: 

 

* Massiver Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme mit Schwerpunkt auf der
Wiedereinführung, dem Bau und der massiven Ausweitung des
Straßenbahnverkehrs und -- wo möglich -- der Wiedereinführung und
Verbreitung von Oberleitungsbussen.

 

* Umstellung der Autoindustrie auf den Bau öffentlicher Verkehrsmittel
(Züge, Straßenbahnen, Oberleitungsbusse etc.)

 

* Kostenlose Nutzung aller öffentlichen Verkehrsmittel in den Städten und im
Umland.

 

* Umstrukturierung der Städte, so dass die meisten Ziele (Arbeitsplatz,
Einkaufen ...) zu Fuß erreichbar sind.

 

* In Verbindung mit diesen Maßnahmen und mit Ausnahme der Notdienste: Autos
raus aus den Städten.

 

* Angemessene Besteuerung des Flugverkehrs, sodass der Flugverkehr um
mindestens 70 bis 80 % zurückgeht. Verbot des gesamten Flugverkehrs unter
einer Entfernung von 1000 km.

 

* Rückbau der weltweiten Lieferketten für die Industrie, sodass die
Containerschifffahrt auf ein winziges Maß reduziert wird.

 

 

Im Kampf für ein anderes Verkehrssystem ist die Umstellung der Autoindustrie
absolut unabdingbar. Da die Produktion und der Betrieb von öffentlichen
Verkehrsmitteln (Bus, Bahn etc.) weit davon entfernt sind, vergleichbare
Profite wie die Massenproduktion von Autos zu erzielen, wird es niemals
möglich sein, die betroffenen Kapitaleigner*innen zu einer solchen
Umstellung zu bewegen. Der Kampf für eine entschädigungslose Enteignung und
Vergesellschaftung dieser Produktionsmittel ist also die große
Herausforderung im Kampf gegen den Klimawandel und für ein sozialeres und
gesünderes Verkehrssystem.

 

 

24. Februar 2021

 

 

Übersetzung: Jakob S.

 

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Vorabdruck aus: die internationale Nr. 3/2021 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1]  Um eine Kilowattstunde Speicherkapazität der Batterie zu produzieren,
muss man 150--200 Kilo CO2-Äquivalente (CO2e) produzieren. Zur Produktion
der Batterien für ein kleines E-Auto muss man 6 Tonnen CO2e freisetzen, für
einen Tesla S (85 kWh) sind es 17 Tonnen CO2e. Um eine Vorstellung von den
Größenverhältnissen zu bekommen: Ein Durchschnittsbürger in Deutschland hat
einen CO2e-Ausstoß von 8,9 Tonnen (in Österreich 6,9 Tonnen, in den USA 15
Tonnen) pro Jahr.

[2]  Nicht zu vergessen ist die auch bei E-Autos fortgesetzte Instandhaltung
von Autobahnen und Straßen als Teil der Infrastruktur: In den USA betrugen
2014 die durchschnittlichen Kosten für den Umbau einer Sammelstraße in einem
kleinen Stadtgebiet 1,5 Millionen Dollar und bei einer schon bestehenden
Fahrbahn einer großen städtischen Autobahn 7,7 Millionen Dollar pro Meile.

[3]  Mit "Rebound-Effekt" werden in der Energieökonomie mehrere Effekte
bezeichnet, die dazu führen, dass das Einsparpotenzial von
Effizienzsteigerungen nicht oder nur teilweise verwirklicht wird. Da die
Effizienzsteigerung oft mit Kosteneinsparungen beim Verbraucher verbunden
ist, führt dies dazu, dass 1) das Produkt intensiver genutzt wird, 2)
zusätzliche Produkte der gleichen Art erworben werden oder 3) dass die
Verbraucher die freigewordenen Mittel für andere energieverbrauchende
Produkte und Dienstleistungen verwenden. (Nach Wikipedia -- ursprünglich
bezeichnet der Begriff einen Abpraller von Brett oder Korbring beim
Basketball.)

[4] Um eine Vorstellung von den Größenordnungen zu bekommen: Für ein
Smartphone braucht man 3 Gramm, für einen Laptop 50 Gramm, für ein
Tesla-E-Auto: 50 kg.

[5] /The Economist/ 31. 8. 1985

[6]  Der von der WHO definierte Grenzwert für Feinstaub liegt bei 45 µg/m3
an 35 Tagen im Jahr.

[7] Die von der EU definierten Grenzwerte: 45--50 dB(A) für die Nacht und
55--60 dB(A) für den Tag werden in vielen Städten, besonders in der Nähe der
Flughäfen, überschritten.

[8]  In Berlin: 154 Stunden, in München: 140 Stunden
https://de.statista.com/infografik/4761/zeitverlust-im-stau-je-fahrer/. Die
Kosten wurden von verschiedenen Forschern errechnet: 80 000 Mio. Euro allein
für Deutschland.

[9] Es wird erwartet, dass die maximale Anzahl von E-Autos 150 Millionen
erreichen wird, was bedeutet, dass die Zunahme von Benzinautos größer sein
wird als die von E-Autos.

[10] In Deutschland (1996) zahlten die Autobesitzer 63,7 Milliarden DM
Steuern, aber gleichzeitig gab die Gesellschaft 301 Milliarden DM für die
autobezogenen Teile des bestehenden Verkehrssystems aus.

[11]  Siehe https://www.bu.edu/transportation/CTS2002G.pdf

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