[IPK] Helmut Dahmer: 100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022

Inprekorr-Webmaster webmaster at inprekorr.de
Mi Dez 14 18:25:21 CET 2022


100 Jahre „Faschismus“: 1922–2022
Online unter: https://www.inprekorr.de/614-dahmer.htm

-------------------------------------------------------------------

 

„Es ist möglich, sich auf Analogien zu berufen, ja, man kommt ohne sie gar
nicht aus, will man aus der Vergangenheit lernen und die Geschichte nicht
stets wieder von vorn anfangen.“ Trotzki, 1929* 

 

 

Von Helmut Dahmer

 

 

 

I

 

„Begriffe bilden sich historisch heraus“, schrieb Max Horkheimer 1941 in
seinen „Bemerkungen zur Tätigkeit des Instituts“, nämlich des Frankfurter
„Instituts für Sozialforschung“, dessen Mitglieder, soweit sie sich aus
Hitlerdeutschland hatten retten können, in den USA ihre Arbeit fortsetzten.
[1] Begriffe benennen zunächst eine bestimmte historische Erfahrung,
überliefern sie der Erinnerung und legen damit den Grund zur möglichen
Entwicklung eines Typus. Der neue Name gilt der Spezifik eines als
„neuartig“ erfahrenen Phänomens, sei es die Geburt eines neuen Stils in
Malerei, Musik oder Literatur, sei es das Aufkommen einer neuartigen
politischen Herrschafts- oder Umsturzpraxis. Der allmählich sich entfaltende
Begriff dient zunächst zur Unterscheidung des Novums von scheinbar
ähnlichen, bereits bekannten Phänomenen; zudem ermöglicht er
aufschlussreiche Vergleiche mit künftigen Praxen und Ereignissen, die dem
Original-Ereignis mehr oder weniger ähneln, daran erinnern. Der Bezug des
Kernbegriffs zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft macht ihn interessant
und verleiht ihm innere Elastizität und Lebendigkeit. Er wird beständig
erweitert und modifiziert, gewinnt an historischer Substanz und verändert
seine Bedeutung: Seine Reichweite wird gedehnt, auch überdehnt, und dann
wieder – um der Spezifik des Gemeinten willen – eingeengt. Schließlich ruft
seine Nennung eine ganze Reihe von historischen Erfahrungen auf – er wird zu
deren /Kondensat/.

 

 

II

 

Die Entwicklung des politischen Begriffs „Faschismus“ währt nun schon ein
Jahrhundert. Er bezeichnete zunächst die Kampfbünde Mussolinis und deren
Aufgabe, die anarchokommunistisch, internationalistisch und pazifistisch
orientierten italienischen Arbeiter- und Räteorganisationen der ersten Jahre
nach dem Ersten Weltkrieg gewaltsam niederzuschlagen. Mussolini gewann mit
seiner ultranationalistisch-kolonialistischen Ideologie und Politik die
tatkräftige Unterstützung der besitzenden, also zahlungsfähigen Klasse
(Landbesitzer, Industrielle, Bankiers) und diejenige der Exekutivorgane
(Heer, Polizei, Monarchie). Hitler, Dollfuss und Salazar (1933), Metaxas
(1935), dann Franco (1936) und im Weiteren eine ganze Reihe von
osteuropäischen und lateinamerikanischen diktatorischen Regimen versuchten,
unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten Mussolinis Beispiel zu
folgen.

 

Die /Funktion/ der faschistischen Bewegungen und Regime war (und ist) es,
die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Wirtschaft
nach den beiden verheerenden „Weltkriegen“ und in der Krise unserer
Gegenwart gewaltsam zu sichern. Das heißt: Die Kontrolle über die nationalen
Wirtschaften – und über deren Verkettung mit der Weltwirtschaft – bleibt
einer schrumpfenden Gruppe von Finanzkapitalisten überlassen, die
ausschließlich auf maximale Gewinne (Kapitalakkumulation) aus und in der
Lage ist, Parteien, Massenmedien und paramilitärische Verbände zu
finanzieren, sofern sie den für sie günstigen Status quo absichern. Dieser
Status quo bedeutet: Permanente Kriege um Bodenschätze, Absatzmärkte und
Einflusszonen; Verelendung ganzer Bevölkerungen in den „unterentwickelt“
gehaltenen und von Kriegen verheerten Ländern, Verwüstung unseres Habitats
durch Erwärmung des globalen Klimas. 

 

Die Praxis faschistischer Demagogen (ob Strache, Gauland, Höcke, Salvini
oder Bolsonaro), ihrer Organisationen (braun oder blau) und Diktatoren
besteht in der Agitation und Mobilisierung erstens derjenigen Teile der
ständig wachsenden lohnabhängigen Bevölkerung, die keine Arbeit finden oder
noch nie Arbeit hatten und darum zu Almosenempfängern geworden sind,
zweitens der schrumpfenden, scheinselbständigen, „verunsicherten“
Zwischenschichten und drittens der hoffnungslosen und desorientierten, darum
zu allem fähigen Paria-Schichten. Aus diesen Massen von unselbständigen,
orientierungslosen, verängstigten Menschen schmieden die
Agitatoren-Diktatoren /Gefolgschaften/, denen sie – als vermeintlich
ebenfalls „kleine“, demnächst aber große und in jedem Fall /starke/ Männer
(oder auch Frauen) Besserung versprechen: vor allem eine Abrechnung mit den
vermeintlich an ihrer Misere Schuldigen. 

 

Die faschistischen Agitatoren sind Meister in der /Lenkung der
Ressentiments/ ihrer Klientel. Sie zeigen ihr die „wahren Schuldigen“ –
wehrlose Minderheiten (Juden, Zigeuner, „Asoziale“; „Volksfeinde“,
„Volksverräter“ und /Fremde/ aller Art: Ausländer, Flüchtlinge, Migranten,
Linke und Gewerkschafter, Andersgläubige und Atheisten, Homosexuelle und
andere /Abweichler/ – und stellen ihnen deren Pauperisierung und
„Beseitigung“ in Aussicht. Je nach Kräfteverhältnis und Volksstimmung läuft
das auf Reglementierung und Konzentration in „Lagern“ dieses oder jenes
Typs, gezielte Verelendung, Enteignung, Ausweisung, Vertreibung oder
„Liquidierung“ hinaus. 

 

Als Ultra-Nationalisten versprechen die faschistischen Demagogen die
gewaltsame /Rettung/ (Wiederherstellung, Verteidigung und ruhmreiche
Vergrößerung) /der Nationalstaaten/, die seit 100 Jahren ständig an
wirtschaftlicher und politischer Bedeutung verlieren. Das soll zum einen
durch die „Sicherung“ der nationalen Grenzen gewährleistet werden – also
durch Wälle und Mauern, Polizei- und Militärpatrouillen, Lager innerhalb und
außerhalb der Landesgrenzen –, zum andern durch gewaltsame Rücktransporte in
als „sichere Zufluchtsstaaten“ ausgegebene außereuropäische bzw.
mittelamerikanische Länder, deren politische Führungen zu diesem Zweck
großzügig bestochen werden. Durch diese und ähnliche Maßnahmen sollen
Millionen von Kriegs-, Hunger- und Klimaflüchtlingen abgeschreckt werden,
die versuchen, dem Elend ihrer afrikanischen, lateinamerikanischen oder
mittelöstlichen „Heimat“-Länder zu entkommen, und die an die Türen der
wenigen /Wohlstandsoasen/ hämmern, Einlass begehren und ihren Teil am
Weltreichtum einfordern. 

 

Zudem wird den Erniedrigten und Beleidigten der hochentwickelten Oasenländer
eine /Homogenisierung/ ihrer ethnisch inhomogenen Gesellschaften in Aussicht
gestellt, also eine bevölkerungspolitische „Säuberung des jeweiligen
Volkskörpers“ von allen Menschen, die nicht seit Generationen schon in dem
jeweiligen Land ansässig waren und dessen – als „glorreich“ fingierte –
Geschichte geteilt haben. Dies rassistische Homogenisierungsprogramm ist
eine Kriegserklärung an alle für /nicht zugehörig/ erklärten Menschen
innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen. Abgesehen von der Hoffnung auf
einen künftigen Anteil am Raubgut durch „Arisierungs“-Maßnahmen oder
„gerechte“ Kriegszüge ist es vor allem die Prämie, die den „Nichtgehörten“
und „Abgehängten“ allein dadurch zufällt, dass ihre Demagogen sie zu den
einzig Hierseins- und Daseinsberechtigten erklären, was sie dann dazu
bewegt, dieser Sorte von „Volkstribunen“ ihre Stimmen und ihre Fäuste zu
leihen. 

 

Im Laufe der vergangenen 150 Jahre haben sich die modernen Gesellschaften
Europas und Amerikas aus Gesellschaften kleiner und mittlerer Eigentümer in
/Gesellschaften abhängig Beschäftigter/ verwandelt. Diese Umbildung der
Sozialstruktur hat das Aufkommen von neuartigen, „/massenfeindlichen
Massenbewegungen/“ (Horkheimer-Adorno) ermöglicht, mit deren Hilfe
demokratische Strukturen zertrümmert und durch jene „totalitären“ Regime
ersetzt wurden, die Millionen von Menschen verschlangen. Das Leben in
„Abhängigkeit“ und die Erfahrung, dass totalitäre Regime in der Lage sind,
/straflos/ jede „autonome“ Regung in der Bevölkerung zu ersticken, hat die
/Widerstandskräfte/ gerade in den höchst entwickelten Ländern /nachhaltig
geschwächt/. Die oft beklagte politische Apathie weiter Teile der
Bevölkerung hat darin ihren Grund. Überwiegen sogenannte autoritäre (oder
faschistoide) Charaktere, die sich konformistisch, also autoritätshörig
verhalten, alles Abweichende hassen, zu Projektionen, zum Aberglauben und
zur Stereotypisierung neigen, dann steht es um die Verteidigung der wenigen
parlamentarischen Republiken – geschweige denn um deren ausstehende
wirtschaftsdemokratische Fundierung – schlecht. Darum wiederholt sich
gegenwärtig in Europa und Amerika die aus den dreißiger Jahren bekannte
/Mutation/ schwächelnder parlamentarischer Regime zu autoritären (Polen,
Ungarn, Italien usw.). Der Putsch-Versuch von vielen Hunderten von
Trump-Anhängern – hinter denen 74 Millionen Trump-Wähler standen –, die am
6. Januar 2021 durch ihren „Marsch aufs Kapitol“ den abgewählten Präsidenten
gewaltsam an der Macht halten wollten, war ein Alarmsignal. 

 

Schon in den dreißiger Jahren waren die unter einander zerstrittenen
Parteien, die für eine gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus
eintraten und an das Selbsterhaltungs-Interesse der Bevölkerung appellierten
(„Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“), außerstande, durch die Bildung einer
Arbeitereinheitsfront den Sieg der faschistisch begeisterten Massen und
ihrer mächtigen Verbündeten zu verhindern. Die Erinnerung an das Desaster,
zu dem die nationalen Aufbrüche der dreißiger Jahre führten, ist aber
inzwischen verblasst, und das Interesse, die eigenen Privilegien auf Kosten
möglichst vieler anderer zu verteidigen und auszubauen, treibt ein Fünftel
oder gar ein Drittel der Bevölkerung der höchstentwickelten Staaten rechten
Demagogen zu, die heute wie gestern versprechen, /die gesellschaftliche
Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren/ und all’ diejenigen zu beglücken,
die „zu uns“ (also zum /eigenen/ Volksstamm) gehören. 

 

Nach ihrer militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der
Bekanntmachung des zuvor öffentlichen Geheimnisses des Genozids an den
europäischen Juden durch die Nürnberger und die Auschwitz-Prozesse leugnete
ein Teil der deutschen Faschisten hartnäckig ihre Untaten; deren Mehrheit
zog es freilich vor, einfach ihren politischen Namen zu wechseln. In den
Ländern „ohne Juden“ gab es darum plötzlich auch keine Faschisten mehr. 

 

Die Faschisten oder Nazis von heute („Neonazis“) sind solche, die nicht mehr
bei ihrem richtigen (Partei-)Namen genannt werden wollen; /sie treten unter
Pseudonymen auf/ und betonen gern ihre Sympathie für den israelischen Staat
in Palästina. Das Programm dieser heutigen Faschisten, die gerade drauf und
dran sind, sich wie in den dreißiger Jahren zu einer Internationale der
Nationalisten zusammenzuschließen, gleicht dem ihrer Vorgänger aufs Haar.
Gegen die Herrschaft der Finanzkapitalisten haben sie nichts einzuwenden –
im Gegenteil. Sie hoffen, dass diese sie in der nächsten Krise zu Hilfe
rufen und dann für ihre Dienste fürstlich belohnen. Sie kämpfen gegen die
Gleichberechtigung von „Rassen“, Völkern und Klassen; sie versprechen, den
jeweiligen Nationalstaat durch „Homogenisierung“ der „angestammten“
Bevölkerung, autarke Wirtschaftspolitik und Abschottung gegen Migranten zu
verteidigen; sie geloben, die Stammbevölkerung gegen „Umvolkung“ zu schützen
und deren „heimische“ Kultur (die sogenannten „überkommenen“ Werte) vor
„Überfremdung“ zu bewahren. Erweist dies Programm sich als utopisch, so
werden sie – wie ihre Vorgänger – nicht zögern, es gewaltsam in die Tat
umzusetzen, gleichgültig, wie viele Opfer das fordert. 

 

 

III

 

Trotzki hat seine Drei-Klassen-Theorie des (deutschen) Faschismus zuerst
1929 am Beispiel Österreichs entwickelt. [2] Seine Interpretation wurden
durch eine Reihe von anderen, ebenfalls marxistisch orientierten und nicht
stalinistisch gebundenen Autoren bestätigt und ergänzt. [3] Fassen wir das
Ergebnis dieser historischen Analysen kurz zusammen:

 

1) /Das Reservoir/, aus dem die faschistische Bewegung ihre Wähler und die
Mannschaften ihrer paramilitärischen Verbände rekrutierte, bildeten in
erster Linie die verarmten, orientierungslosen Zwischenschichten – der alte
Mittelstand der Bauern, der Beamten, der mittleren und kleinen Selbständigen
und Freiberufler, sowie der „Neue Mittelstand“, die seit 1880 sprunghaft
angewachsenen Angestelltenheere. Anfällig für eine faschistische, gewaltsame
„Lösung“ ihrer Probleme waren die dezimierte, traumatisierte, auf Revanche
sinnende Frontgeneration, der von den sozialistisch-kommunistischen Parteien
enttäuschte Teil der Arbeiterschaft, die millionenstarke
Arbeitslosen-„Reservearmee“ und das Lumpenproletariat. [4] Einmal mit
Rückendeckung von Reichswehr und Industrie und mit Zustimmung der
bürgerlichen Parteien an die Macht gelangt, besetzten die Führungs-Kader der
faschistischen Bewegung Schlüsselpositionen der Exekutive und kooperierten
mit den traditionellen „Funktionseliten“. Die paramilitärischen Verbände
verschmolzen mit den bestehenden Polizeiorganisationen zu einem
/terroristischen Staat im Staat/. Neben den staatseigenen Betrieben entstand
ein parteieigener Wirtschaftssektor, und die oligopolistisch strukturierte
Privatwirtschaft wurde „befehlswirtschaftlich“ dirigiert. Der faschistische
Staat ließ sich (mit Fraenkel) als ein „Doppelstaat“ [5] oder auch (mit
Neumann) als ein polyzentrischer „Nichtstaat“ oder „Unstaat“ [6]
charakterisieren. [7]

 

2) /Förderer und Nutznießer/ der faschistischen Bewegung und der
faschistischen Diktatur waren in erster Linie die Industrie- und
Finanzkapitalisten sowie die Großgrundbesitzer. Die Wirtschaftskrise von
1929 bewog sie, anstelle der zur Durchsetzung /ihrer/ Interessen zunehmend
untauglichen („ineffizienten“) parlamentarischen Demokratie – die allgemeine
Menschen- und Bürgerrechte, die Gewaltenteilung, die Existenz von
Arbeiterparteien und Gewerkschaften garantierte – ein autoritäres Regime zu
favorisieren. [8] Sie ließen sich auf das riskante Bündnis mit der
faschistischen Massenbewegung ein, die in der Lage schien, unter
Rückendeckung durch Armee und Bürokratie die Organisationen der gespaltenen,
sozialdemokratisch-kommunistischen Arbeiterbewegung zu zerstören und dadurch
eine nachhaltige Senkung der Lohnkosten zu ermöglichen. Die planmäßige
Umstellung auf Rüstungs- und Kriegswirtschaft, bei der die
„Wirtschaftsführer“ der Konzern-Zentralen mit denen der neuen,
faschistischen Ministerien Hand in Hand arbeiteten, ermöglichte die
Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und eine Beschleunigung der
Konzentration des Kapitals auf Kosten kleiner und mittelständischer
Unternehmen. Die Aussicht auf die Erweiterung der Firmen-Imperien in einem
unter deutsch-faschistischer Hegemonie vereinten Europa, auf die Kontrolle
über neue Rohstoffquellen, Arbeitskraft-Reservoire und Absatzmärkte, bewog
die Herren der Wirtschaft zur dauerhaften Kooperation mit der Naziführung.
Nach den ersten außenpolitischen „Erfolgen“ des Regimes wuchs die
Kriegsbereitschaft bei Gefolgschaft und Generalität. [9]

 

3) /Das faschistische Programm/ aktualisierte die antimodern-konservative
Ideologie und griff zugleich – im Hinblick auf die desorientierten Unter-
und Mittelschichten, die für die faschistische „Lösung“ gewonnen werden
sollten – auf den Fundus antikapitalistischer Ideen zurück. /Gemeinschaft/
wurde gegen Gesellschaft ausgespielt, eine /rustikale Lebensform/ gegen die
intellektuell-urbane, kosmopolitische, die „Ideen von 1914“ gegen die von
1789, der /Ethnozentrismus/ (die Nation) gegen den Universalismus (oder den
Internationalismus); Militarismus und Heroismus wurden gegen den Pazifismus,
der /Sozialdarwinismus/ gegen den Egalitarismus ins Feld geführt … Die
Widersprüche dieser buntscheckigen Programmatik wurden durch die Beschwörung
einer ebenso grandiosen wie imaginären völkischen Vergangenheit und durch
die Vision einer heldischen Zukunft als „Herrenvolk“ kaschiert und durch die
Ausrichtung der Partei- und „Volksgenossen“ auf den „Überlebenskampf“ im
/Zwei-Fronten-Krieg gegen Kreml und Wallstreet/ (beziehungsweise die
„Plutokratien“) als Zitadellen des „jüdischen Bolschewismus“ überblendet.
Nach der „Machtergreifung“ wurde im Juli 1934 die SA-Führung um Ernst Röhm
„ausgeschaltet“, um den „nationalbolschewistisch“ orientierten Teil der
NS-Gefolgschaft niederzuhalten. Die destruktiven Energien der von einem Netz
von Parteiorganisationen erfassten und permanent mobilisierten Anhänger,
Sympathisanten und Mitläufer wurden genutzt, um mit Regimegegnern,
missliebigen Minderheiten wie der jüdischen, mit „Asozialen“, „Schädlingen“
und Nicht-Volkszugehörigen aller Art „abzurechnen“ und deren Hab und Gut zu
„arisieren“. So wurde in den dreißiger Jahren die terroristisch hergestellte
„Volksgemeinschaft“ zuerst zu einer /Schuld/- /und/ dann, im Krieg, zu einer
verschwiegenen /Mordgemeinschaft/. Der NS-Raub- und „Versorgungsstaat“, der
den „Volksgenossen“ bis zum Kriegsende ausreichende Rationen garantierte, um
sich ihrer Loyalität zu versichern, wurde durch das umfassende
Kontrollsystem von NSDAP, Gestapo und SS wirkungsvoll ergänzt. Die Existenz
der über das ganze Land verstreuten Folter- und Hinrichtungsstätten, das
öffentliche Geheimnis der „Euthanasie“-Morde, der Schrecken des dichten
Netzes der Zwangsarbeits- und Vernichtungslager, von denen jeder wusste und
keiner sprach, bewirkte – im Zusammenspiel mit „repressiver Entsublimierung“
[10] – ein hohes Maß von Konformität und verhinderte die Bildung einer
Oppositionsbewegung, die in der Lage gewesen wäre, den alliierten Armeen
zuvorzukommen und das faschistische Regime zu stürzen. 

 

 

 

IV

 

Trotzki war der /einzige/ Sozialwissenschaftler, der in dem Jahrzehnt
zwischen 1929 und 1939/40 /sowohl/ die Entwicklung des Hitler-Faschismus in
Deutschland und Österreich /als auch/ diejenige der stalinistischen Diktatur
in der Sowjetunion fortlaufend analysierte. [11] Das Spezifikum seiner
zeitgenössischen Situationsdeutungen bestand darin, dass er nicht nur (der
Losung Ferdinand Lassalles entsprechend, jederzeit furchtlos „auszusprechen,
was ist“) die jeweiligen „Lage“ – die Kräfteverhältnisse der Klassen und
ihrer politischen Organisationen – diagnostizierte, sondern aus dieser
/Diagnose/ eine /Prognose/ der wahrscheinlichen weiteren Entwicklung /und
Handlungsanweisungen/ für die Gruppen und Parteien der politischen
Avantgarde ableitete. Er war der bedeutendste /Alternativen-Denker/ unter
den marxistischen Theoretikern seiner Generation. [12]

 

Trotzki war kein „Prophet“, sondern ein Prognostiker. Seine Prognosen
beruhten auf Gedankenexperimenten und historischen Analogien, auf dem
Abwägen verschiedenartiger Entwicklungsmöglichkeiten, auf dem gedanklichen
Operieren mit Tendenzen und Gegentendenzen unterschiedlicher
Durchsetzungskraft. Lassen sich /partielle Analogien/ zwischen einer bereits
modellierten Vergangenheit und dem aktuellen Geschehen aufspüren, lassen
sich auch mehr oder weniger wahrscheinliche /Varianten der weiteren
Entwicklung/ antizipieren. Solche Konjekturen bleiben stets ungewiss, und so
finden sich bei Trotzki neben erstaunlich treffsicheren Vorhersagen auch
nicht wenige Fehlprognosen. Ohne Gedankenexperimente (Rekonstruktionen und
Antizipationen) ist aber eine Orientierung über Vergangenheit und Gegenwart
nicht zu haben. Die Einbildungskraft, die Fähigkeit, auch das, was noch
nicht ist, präzise sich vorzustellen und diese Vision auszugestalten, ist
dem Künstler, dem guten Historiker und dem Revolutionär eigen. Aus dem
vorliegenden „Material“, den Faktoren und Fakten von heute, schließen sie
auf deren Wirkung, also auf die zu erwartenden „Tathandlungen“ und
„Tatsachen“ von morgen und übermorgen. Jede Darstellung der Fakten bedarf
des Vorgriffs auf ihren Zusammenhang, also einer Fiktion, die sich im
Weiteren bewährt oder auch nicht. Ohne Hypothesen, die unsere Aufmerksamkeit
lenken und dem, was wir suchen, erst Bedeutung verleihen, können wir
Tatsachen“ weder entdecken, noch konstatieren. Erst auf dem Hintergrund von
Fiktionen (oder Theorien) erscheinen die Fakten als Fakten.

 

Was Trotzkis Analysen der Agonie der Weimarer Republik (und der Komintern)
anlangt, war sein Versuch von größter Bedeutung, die verfeindeten
Arbeiterorganisationen der Kommunisten und der Sozialdemokraten zu einer
/Einheitsfront/ zu bewegen, die imstande gewesen wäre, den Kampf mit den
„braunen Bataillonen“ aufzunehmen. Für den Fall, dass sie nicht rechtzeitig
zustande käme, sah er die Vernichtung der deutschen Arbeiterorganisationen
voraus und – als deren Folgen – einen neuen Weltkrieg, den Überfall auf die
Sowjetunion und das, was wir heute den „Holocaust“ nennen.

 

 

Wien, 4. Juli 2022

 

-------------------------------------------------------------------

Aus: die internationale (Online-Ausgabe) Nr. 1/2023 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

E-Mail:                                    vertrieb(at)inprekorr.de

Einzelheft:  5 EUR;        Schnupperabo: Ein halbes Jahr für 10 EUR

Jahresabo:            25 EUR (Inland), 15 EUR (ermäßigt), E-Abo 50%

Artikel im Internet:                       https://www.inprekorr.de

-------------------------------------------------------------------

 

[*] Léon Trotsky, „Où va la république soviétique?“ (25. 2. 1929), in:
Trotsky; /Œuvres/, 2. Série, tome III, Paris (Institut Léon Trotsky) 1989,
S. 65 f.

[1]  Max Horkheimer, „Zur Tätigkeit des Instituts, Forschungsprojekt über
den Antisemitismus“ (1941), in:  Horkheimer, /Gesammelte Schriften/, Band 4,
Frankfurt (Fischer) 1988, S. 372 ff. 

[2]  Leo Trotzki, „Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der
Kommunismus“ (13. 11. 1929), in: Trotzki, /Schriften über Deutschland/, Bd.
1 und 2, Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1971, Bd. I, S. 53-66.

[3]  Otto Bauer (1936), Ernst Fraenkel (1940), Erich Fromm (1941), Theodor
Geiger (1932), Daniel Guérin (1933), Hermann Heller (1931), Siegfried
Kracauer (1933), Richard Löwenthal (1935), Wilhelm Reich (1933), Arthur
Rosenberg (1934), Ignazio Silone (1934), Fritz Sternberg (1935), Angelo
Tasca (1938), August Thalheimer (1930) – vor allem aber: Franz L. Neumann
(1942, 1944), /Behemoth/, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus
1933-1944, Frankfurt / Köln (Europäische Verlagsanstalt) 1977. 

[4]  Die NSDAP „war aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten
zusammengewürfelt und zögerte niemals, den Bodensatz aller Bevölkerungsteile
aufzunehmen, [sie] wurde von der Armee, der Justiz und von Teilen der
Beamtenschaft unterstützt, von der Industrie finanziert, machte sich die
antikapitalistischen Gefühle der Massen zunutze und war doch vorsichtig
genug, die einflussreichen Geldgeber nie zu verprellen.“ Neumann (1942,
1944), a. a. O. (Anm. 3), S. 59.

[5]  Zurückdrängung des „Normen-Staats“ durch den „Maßnahmen-Staat“;„Willkür
in der politischen und /ratio/ in der ökonomischen Sphäre“. Ernst Fraenkel
(1940), /Der Doppelstaat/, Frankfurt / Köln (Europäische Verlagsanstalt)
1974, S. 238.

[6]  Neumann, a. a. O. (Anm. 3), S. 16.

[7]  Herbert Marcuse resümierte das Ergebnis der Untersuchungen der
Instituts-Arbeitsgruppe Neumann, Kirchheimer, Gurland wie folgt: Der
nationalsozialistische Staat ist „durch die dreifältige Souveränität von
Industrie, Partei und Wehrmacht mit dem Führer als konfliktregulierendem
Zentrum noch nicht angemessen beschrieben. Die konkurrierenden Kräfte lassen
ihre Entscheidungen von einer Bürokratie ausführen, die zu den
leistungsstärksten und am stärksten durchrationalisierten der Moderne
gehört.“ Herbert Marcuse, „Staat und Individuum im Nationalsozialismus“
(1942), in: Marcuse: /Nachgelassene Schriften/, Bd. 5. Hamburg („zu
Klampen!“-Verlag) 2007, S. 140-164; Zitat auf S. 150.

[8]  „Der Kapitalismus hatte keine Chance in einer demokratischen
Auseinandersetzung mit dem proletarischen Sozialismus, in dessen Ausrottung
er seine Rettung erblickte.“ Fraenkel, a. a. O. (Anm. 5), S. 236.

[9] „Das Deutsche Reich […] soll in konzentrischen Kreisen von
Satellitenstaaten umgeben werden, die für die ,Herrenrasse‘ arbeiten und sie
ernähren.“ Marcuse (1942), a. a. O. (Anm. 7).

[10] Marcuse (1942), a. a. O., S. 159-163. Den Begriff einer „repressiven“
oder „institutionalisierten Entsublimierung“ prägte Marcuse erst viele Jahre
später. Vgl. dazu Marcuse (1964), /Der eindimensionale Mensch/, Neuwied
(Luchterhand) 1967, S. 92-102. 

[11]  Diese beiden kritischen Chroniken der Ereignisse in Deutschland und in
der UdSSR wurden durch seine Kommentare zum Übergang Spaniens von der
Monarchie zur Republik und zum Bürgerkrieg ergänzt. Vgl. Leo Trotzki,
/Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, 1931-1939/. Köln (ISP-Verlag) 2016..


[12]  Davon legen bereits seine ersten bedeutenden Veröffentlichungen
Zeugnis ab, sowohl die Auseinandersetzung mit Lenin von 1904 als auch die
Bilanz der Revolution von 1905. Vgl. dazu Trotzki (1904): /Unsere
politischen Aufgaben/. In: Trotzki (1970): /Schriften zur revolutionären
Organisation/. Reinbek (Rowohlt), S. 7-134. Und Trotzki (1906): /Unsere
Revolution/ (russ.) mit dem berühmten Schlusskapitel /Ergebnisse und
Perspektiven/: Frankfurt (Neue Kritik) 1967. 

[13]  Leo Trotzki, „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?“ (8. 12.
1931), in: /Schriften über Deutschland/ (Anm. 2), S. 175.

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listen.jpberlin.de/pipermail/inprekorr-l/attachments/20221214/84e99e9b/attachment-0001.htm>


Mehr Informationen über die Mailingliste Inprekorr-l