[IPK] Ukraine/Debatte: Solidarischer Antiimperialismus oder heuchlerischer Pazifismus von Christian Zeller

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Mo Nov 7 19:55:10 CET 2022


Ukraine/Debatte:

Solidarischer Antiimperialismus oder heuchlerischer Pazifismus
Online unter: https://www.inprekorr.de/612-ukr-zell.htm

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Seit das Putin-Regime seinen Besatzungskrieg gegen die ukrainische
Bevölkerung am 24. Februar startete, diskutieren Sozialist*innen kontrovers
über die Charakterisierung dieses Krieges. Besonders umstritten ist die
Haltung gegenüber dem ukrainischen Widerstand. 

 

 

Von Christian Zeller

 

 

Sollen antiimperialistische und revolutionäre Ökosozialist*innen den
Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, organisiert in der bürgerlichen
Armee der Ukraine, gegen die imperialistischen Besatzungstruppen
unterstützen? Oder sollen sie es hinnehmen, dass Russland über weite Teile
der Ukraine ein brutales Besatzungsregime mit allen zerstörerischen
Konsequenzen errichtet? Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Frage:
Wie soll man sich zum Widerstand gegen imperialistische Angriffe
positionieren, wenn nicht westliche Imperialismen angreifen, sondern
imperialistische Mächte wie Russland und China oder autoritäre Regimes? [1]
Ähnliche Herausforderungen werden uns noch öfter belasten. Sollte die
Volksrepublik China das Nachbarland Taiwan angreifen oder einen bewaffneten
Aufstand einer unterdrückten Nationalität niederschlagen, gälte es ebenfalls
Stellung zu ergreifen.

 

In ihren Stellungnahmen versteht die Vierte Internationale den russischen
Besatzungskrieg als Ausdruck des großrussischen Chauvinismus und
Imperialismus, der die Existenz einer ukrainischen Nation bestreitet und die
eine unabhängige Ukraine nicht akzeptiert. Das Putin-Regime hat den Krieg
begonnen und wiederholt eskaliert. Der ukrainische Widerstand hat einen
antikolonialen Charakter und muss deshalb unterstützt werden. Die Niederlage
des Putin-Regimes ist Voraussetzung für eine demokratische Entwicklung
sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Ein Sieg Putins wäre
gleichbedeutend mit der Zerstörung der Zivilgesellschaft in der Ukraine und
in Russland. Er würde die internationale Kriegsgefahr ansteigen lassen.
„Brüder im Geiste“ Putins würden ihre Expansionsvorhaben kriegerisch
durchsetzen wollen. Erst der erfolgreiche Widerstand der Ukraine brachte die
NATO-Staaten in Zugzwang, dem Widerstand militärisch massiv unter die Arme
zu greifen, die aber selbstverständlich ihre eigenen imperialistischen
Interessen verfolgen.

 

Die ISO gibt vor, solidarisch mit dem ukrainischen Widerstand zu sein,
spricht sich aber dagegen aus, dass sich dieser Widerstand mit wirksamen
Waffen den russischen Besatzungstruppen entgegenstellen und die Bevölkerung
vor Bombardierungen schützen kann. Die offensichtliche Inkonsistenz und
innere Widersprüchlichkeit dieser Position kommt exemplarisch in der
Resolution der ISO vom 17./18. September 2022 zum Ausdruck. [2] Diese
Resolution kombiniert Versatzstücke geopolitischen Lagerdenkens,
pro-russischer Propaganda, ein schematisches Verständnis von Imperialismus
und einen heuchlerischen Pazifismus mit einer brüchigen Referenz an eine
internationalistische Position, wie sie von der Vierten Internationale
vertreten wird.

 

Die Resolution zeigt sich im Titel und in den ersten Absätzen zwar
solidarisch mit dem „Widerstand in der Ukraine und der russischen
Antikriegsbewegung“, widerspricht allerdings in den weiteren Ausführungen
dieser Bekundung. Die Resolution macht zunächst das Regime Putins für den
Krieg verantwortlich und stellt sich im zweiten Punkt auf die Seite der
ukrainischen Bevölkerung. Die nachfolgende Anprangerung der ukrainischen
„Oligarchenregierung“ leitet dazu über, die eingangs angekündigte
Solidarität wieder aufzukündigen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran,
dass jene sozialistischen Kräfte, die „Klassenunabhängigkeit“ der
Gewerkschaften und Linken gegenüber der neoliberalen Regierung in der
Ukraine am wirksamsten unterstützen, aktive Solidaritätsarbeit leisten und
sich den Waffenlieferungen an die Ukraine nicht entgegenstellen.

 

Die Resolution bewertet die Maidan-Revolte und übernimmt dabei Elemente
russischer Propaganda. Sie bezeichnet den Regierungswechsel zwar nicht als
einen Putsch, doch sei die neue Regierung durch direkte US-Einmischung
gebildet worden (Punkt 4). Die Dynamik der breiten Erhebung der Bevölkerung
würdigen die Verfasser*innen mit keinem Wort. Die Resolution verteidigt die
fragwürdigen Minsk-Abkommen und wirft der ukrainischen Regierung implizit
vor, einen Bürgerkrieg mit den „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk
provoziert zu haben (Punkt 2). Zugleich verschweigt der Text
bezeichnenderweise die entscheidende Einmischung von außen: Die Besatzung
der Halbinsel Krim durch russische Truppen und die massive militärische
Intervention Russlands zugunsten der Donbas-Rebellen, die dort ein
reaktionäres Klientelregime errichtet haben. In ihrer Bewertung des
Sprachenkonflikts in der Ukraine missachtet die Resolution die Probleme, die
sich einer kolonisierten Bevölkerung stellen, wenn sie ihre Sprache
gegenüber der Kolonialsprache gesellschaftlich zur Anerkennung bringen will.

 

Die Resolution charakterisiert den Krieg auch als Stellvertreterkrieg. Der
Verweis auf Aussagen von US-Regierungsstellen, die einen „langen Krieg“
prophezeit hätten, dient dazu, den USA vorzuwerfen, einen Abnutzungskrieg
gegen Russland zu führen, wofür die ukrainische Bevölkerung den Blutzoll
bezahle. Die Resolution benennt aber nicht, wer den Krieg tatsächlich in die
Länge zieht, immer neue Angriffe durchführt und einen geradezu mörderischen
Abnutzungskrieg mit offenem Massenterror gegen die ukrainische Bevölkerung
führt. Das ist doch offensichtlich das Putin-Regime. In den nachfolgenden
Ausführungen offenbaren die Autor*innen, dass für sie der Krieg nicht auch,
sondern vor allem ein Stellvertreterkrieg ist. Sie „fordern die sofortige
Einstellung der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, da sie das
Potential haben, den Krieg zu eskalieren und eine unkontrollierbare Dynamik
auszulösen.“ Die Ukraine darf sich also nicht verteidigen. Die Armee soll
nicht einmal schwere Luftabwehrwaffen zum Schutz der Bevölkerung vor
Bombenterror erhalten. 

 

Sie steigern die Verweigerung der Solidarität zu einer infamen
Beschuldigung: „Das Recht auf Selbstbestimmung eines Volkes gibt ihm nicht
das Recht, andere Völker in den Krieg zu ziehen. Die ukrainische Führung
versucht mit allen Mitteln, den Krieg zur Sache der NATO zu machen, weil
ihre eigenen Mittel der Kriegführung begrenzt sind. Dem müssen wir
entgegentreten, die auf Expansion drängende Eigenlogik des Krieges muss
gebrochen werden. Die Arbeiterklasse fremder Länder in einen Krieg zu
treiben, der sie nichts angeht, hat mit proletarischem Internationalismus
nichts zu tun. Dieser zielte stets darauf ab, einen Krieg schnellstmöglich
zu beenden – sofern er kein Bürgerkrieg war.“ 

 

Mit dieser Aussage beleidigen die Verfasser*innen nicht nur die ukrainische
Linke, sondern die gesamte Bevölkerung der Ukraine, die nach Hilfe ruft.
Nicht einmal die ukrainische Armeeführung hat erklärt, dass sie den Krieg
ausweiten und andere Staaten, also deren Arbeiter*innenklasse, in den Krieg
ziehen wolle. Als die Vietnames*innen und Algerier*innen in ihren
Befreiungskämpfen nach Unterstützung suchten, hätten ihnen dann linke
Oppositionelle in Russland und China die potentielle Ausweitung des Krieges
zum Vorwurf machen sollen?

 

Dieser Vorwurf ist der teilweise hysterischen Stimmung in Teilen der
deutschen radikalen Linken geschuldet. Die Autor*innen dieser Zeilen
betreiben schlicht eine Schuldumkehr. Verantwortlich für die Eskalation des
Krieges sei der militärische Widerstand der Ukraine und der bislang
unbeugsame Wille der ukrainischen Bevölkerung diesen Widerstand
weiterzuführen, nicht aber das Regime, das den Krieg begonnen und seither in
mehreren Schritten massiv eskaliert hat und mittlerweile unverhohlen mit
nuklearem Massenterror droht.

 

Schließlich kritisieren die Autor*innen die Wirtschaftssanktionen. Diese
Sanktionen wirken beschränkt und selektiv. Sie treffen die wesentlichen
Oligarchen und Kapitalgruppen wenig, was ihre Urheber durchaus wünschen.
Dennoch sind Sanktionen nicht rundweg abzulehnen. Das zeigen auch die
Erfahrungen anderer Sanktionen und Boykottbewegungen. Auf derartige
Differenzierungen verzichtet der Text. Zu erinnern ist, dass russische
Sozialist*innen Sanktionen nicht rundweg ablehnen. Zudem stellt sich im
Umkehrschluss die Frage, wenn die ISO sich solidarisch mit dem ukrainischen
Widerstand zeigen will, aber sowohl Waffenlieferungen für die Ukraine als
auch Sanktionen gegen Russland ablehnt, durch welche Forderungen nach
militärisch und ökonomisch wirksamen Maßnahmen will sie dann diese
Solidarität in Deutschland zum Ausdruck bringen? Die Resolution vermittelt
hierzu keine Hinweise. Die bekundete Solidarität verkommt zur Worthülse.
Darüber täuscht auch die Geldsammelkampagne für Sozialnyj Ruch nicht hinweg.

 

Die Resolution beklagt die Schwäche der alten Friedensbewegung. „Dennoch tut
sich die alte Friedensbewegung bislang schwer, in größerem Umfang gegen die
neue Spirale von Rüstung und Krieg zu mobilisieren. Das liegt zum Teil an
ihrer inneren Zerstrittenheit, zum Teil aber auch an dem offenbar immer noch
abrufbaren, historischen Reflex gegenüber dem ‚gewalttätigen,
unberechenbaren und heimtückischen Iwan‘“.

 

Die Friedensbewegung ist schwach, weil sie schlicht unglaubwürdig geworden
ist. In ihren Stellungnahmen vor und nach Beginn des Krieges schrieben ihre
Exponent*innen die Hauptverantwortung für den Krieg der NATO, nicht dem
Putin-Regime zu. Außer im rechtsextremen und im (post)stalinistischen Milieu
haben diesen Unsinn nur wenige Menschen geglaubt. Doch die Resolution
erwähnt diese fundamentale politische Verirrung der Friedensbewegung mit
keinem Wort, denn dann müsste die ISO auch über ihre eigenen Stellungnahmen
kritisch nachdenken. Stattdessen prangert sie die angebliche Kriegshetze der
Medien an. Gäb es diese Kriegshetze in Deutschland wirklich, wäre die
politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland eine ganz andere.
Weder die wesentlichen Kapitalfraktionen noch die Bevölkerung wollen einen
Krieg. Die Gesellschaft ist weit von einer Kriegsstimmung entfernt.
Relevante Teile des deutschen Kapitals wollen vielmehr bald irgendeine
Vereinbarung mit den Kapitalist*innen in Russland finden, um die profitablen
Geschäfte wiederaufzunehmen.

 

Die Resolution fordert sowohl den sofortigen Abzug aller russischen Truppen
aus der Ukraine und einen sofortigen Waffenstillstand. In der konkreten
Situation ist das ein offensichtlicher Widerspruch. Würde die ukrainische
Regierung die Waffen ruhen lassen, käme das einer Niederlage und der
Besatzung weiter Teile des Landes gleich – mit allen zerstörerischen
Konsequenzen für die Menschen, deren Kultur und das gesamte zivile Leben.

 

In diesem Lichte erscheint die am Ende der Resolution erwähnte
Dialogbereitschaft mit Sozialnyj Ruch und der ukrainischen Linken
geheuchelt. Die Resolution propagiert Solidarität mit dem ukrainischen
Widerstand und wirft diesem zugleich vor, eine Eskalation zu betreiben und
die Arbeiter*innenklasse anderer Staaten in diesen Krieg hineinziehen zu
wollen. Das Putin-Regime bombardiert flächendeckend die Menschen in der
Ukraine und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen, und Linke in Deutschland –
einschließlich der ISO – werfen dem ukrainischen Widerstand vor, den Krieg
zu eskalieren. Ist das solidarischer Antiimperialismus oder heuchlerischer
Pazifismus oder schlicht Verweigerung der Realität?

 

 

12. Oktober 2022

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2022 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

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[1] Ich stütze meine Argumente hier auf eine ausführliche von mir
mitverfassten Stellungnahme von 15 Sozialist*innen aus der Ukraine,
Russland, Polen, Deutschland, Österreich und Schweiz
[https://emanzipation.org/2022/08/ukrainischen-widerstand-unterstuetzen-und-
fossiles-kapital-entmachten/]. Weitere Argumente finden sich in meiner
Antwort auf eine Entgegnung
[https://emanzipation.org/2022/09/debatte-besatzung-akzeptieren-um-krieg-zu-
beenden], die von ISO-Mitgliedern mitverfasst wurde.

[2] ISO: Bundeskonferenz 2022. Solidarität mit dem Widerstand in der Ukraine
und der russischen Antikriegsbewegung! Stoppt den Krieg!
[https://intersoz.org/wp-content/uploads/2022/10/Bundeskonferenz_Solidarit%C
3%A4t-mit-dem-Widerstand-in-der-Ukraine-und-der-russischen-Antikriegsbewegun
g.pdf], 17./18. September

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