[IPK] Ukraine/Debatte: Mit dem Ukrainekrieg werden Kräfteverhältnisse verschoben von Jakob Schäfer

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Mo Nov 7 19:56:46 CET 2022


Ukraine/Debatte:

Mit dem Ukrainekrieg werden Kräfteverhältnisse verschoben
Online unter: https://www.inprekorr.de/612-ukr-sch.htm

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Der Krieg in der Ukraine verschiebt Kräfteverhältnisse auf mindestens drei
verschiedenen Ebenen: auf der innenpolitischen Ebene der Ukraine, der
geopolitischen Ebene (zwischen der Nato und Russland) und der
innenpolitischen Ebene in den Nato-Ländern.

 

 

Von Jakob Schäfer

 

 

Ob sich aufgrund des Kriegs die Kräfteverhältnisse in Russland verschieben
werden, ist zurzeit (Anfang Oktober 2022) noch nicht abzusehen. Die Proteste
und Fluchtbewegungen, die vor dem Hintergrund der Teilmobilmachung neuen
Auftrieb bekommen haben, könnten zu einer Schwächung der innenpolitischen
Position des Kremls führen, im Idealfall sogar zu mehr. Hoffen wir das
Beste!

 

In jedem Fall aber ist der „Verzweiflungsschritt“ Putins, die
Teilmobilmachung, ein weiterer Beleg dafür, dass sich der Kreml mit seinem
Einmarsch in die Ukraine nicht nur geostrategisch, sondern auch
innenpolitisch kolossal verkalkuliert hat. Letzteres war schon an der
schlechten Kampfmoral der russischen Truppen zu sehen.

 

 

NATION-BUILDING MIT AUSGRENZUNG STATT INKLUSION

 

Die Ukraine hat noch keine lange Tradition staatlicher Unabhängigkeit. Durch
die Oktoberrevolution von der Zarenherrschaft befreit konnte sich 1918 der
größte Teil der Ukraine (ohne die Westukraine, die von Polen beherrscht
wurde) als unabhängiger Staat konstituieren. Die von uns unterstützte
Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung der Ukraine) betont, dass die Ukraine
multinational ist. Die Identität der ukrainischen Bevölkerung als
multiethnische Gemeinschaft ist eine unbestreitbare Tatsache, aber nicht
alle der zwölf sprachlich und/oder kulturell verschiedenen Gruppen waren und
sind gesellschaftlich gleichgestellt. Aufgrund eines jahrhundelangen Erbes
gibt es diverse Benachteiligungen, doch insgesamt waren diese Differenzen
beherrschbar.

 

Schon vor dem jetzigen Krieg allerdings hat die Rechte – vor allem die
extreme Rechte – eine „inklusive Ukraine“ abgelehnt. Dies bezieht sich auf
alle religiösen, regionalen (kulturellen) und sprachlichen Minderheiten,
wobei die russische die größte ist. Gespeist wurde und wird dieser Geist vor
allem von den faschistischen Kräften, aber auch von anderen
nationalistischen Bandera-Anhängern. Mit dem Krieg ist die Verständigung
zwischen den verschiedenen Nationalitäten in der Ukraine zurückgeworfen
worden. „Der Euromaidan, die Annexion der Krim und der bewaffnete Konflikt
mit Russland haben die ‚Wir-Sie‘-Linie der Eigenidentifikation der
‚Ukrainer‘ im Verhältnis zu den ‚Anderen‘ verstärkt. Die laufende
‚Ukrainisierung‘ verunsichert die Minderheiten und gefährdet die
Möglichkeit, eine zusammenhängende ukrainische Gesellschaft mit einem
gemeinsamen Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Angesichts des
multikulturellen ukrainischen Raums und der internationalen Verpflichtungen
des Staates, die Rechte der nationalen, ethnischen, religiösen und
sprachlichen Minderheiten zu schützen und zu fördern, ist ein
ethnozentrischer Ansatz beim Nation-Building ein konfliktträchtiger Faktor.“
[1]

 

Die Einmischung der EU und (und später der Nato) in die ukrainische Politik
hatte 2013/2014 zu dem Euro-Maidan geführt, der die rechten Kräfte hatte
aufblühen lassen. Die anschließende Abspaltung (eher Annexion) der Krim und
die Einmischung Russlands in der Ostukraine haben diese Prozesse noch
verstärkt. So wurde 2019 die Verwendung des Russischen als Amtssprache
verboten, obwohl mehr als 29 Prozent der Bevölkerung Russisch als erste
Sprache sprechen (Volkszählung 2001). Schon mit der Lostrennung von 1991
(Auflösung der Sowjetunion) war Russisch als Amtssprache abgeschafft worden.
2019 wurde das zu einem Verbot verschärft, die Übergangsfrist endete im
Januar 2022. „Getroffen werden aber auch ukrainische Medien, die auf
Russisch Putin und dessen Ukrainepolitik kritisieren. Als eine Art russische
Gegenöffentlichkeit hätten diese eigentlich Schutz verdient, klagt der in
London lebende russische Journalist Oleg Kaschin in der FAZ. Stattdessen sei
die Ukraine nun das erste Land, das Pressepublikationen in einer konkreten
Sprache faktisch verbiete.“ [2]

 

Diese Entwicklung rechtfertigt natürlich nicht die Einmischung Russlands in
der Ostukraine ab 2014 und auch nicht den verbrecherischen Krieg Putins
gegen die Ukraine. Aber diese Politik hat zum Scheitern von Minsk II
beigetragen und damit zum Hochfahren der Spannungen. Mit dem Krieg ist die
Regierung deutlich weiter nach rechts gerückt, wobei die Ablehnung eines
Waffenstillstands nur die verheerendste Folge ist.

 

Zur Verschlechterung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse zwischen den
Klassen in der Ukraine gehört natürlich auch das allgemeine ideologische
Rollback und die weitgehende Zerstörung aller Arbeitsschutzrechte sowie
drastische Arbeitszeitverlängerungen. Außerdem wurden noch mehr linke
Organisationen verboten und Kriegsdienstverweigerer wandern ins Gefängnis.

 

Der Krieg ist damit das Gegenteil einer emanzipativen Befreiungsbewegung von
unten, die gegen eine Besatzungsmacht kämpft und soziale,
gesellschaftsverändernde Ziele verfolgt. Der Krieg wird auch nicht in eine
linke Bewegung hinüberwachsen. Wir erleben das Gegenteil.

 

 

VERSCHIEBUNG DER GEOPOLITISCHEN KRÄFTEVERHÄLTNISSE

 

Inzwischen bewahrheitet sich immer mehr, dass mit diesem Krieg das
geopolitische Kräfteverhältnis drastisch zugunsten der Nato verschoben wird,
und zwar je länger der Krieg dauert, desto mehr:

 

* Russland wird politisch, militärisch und wirtschaftlich geschwächt aus dem
Krieg hervorgehen. Die geopolitische Position des Kremls gilt es in keiner
Weise zu verteidigen (das Lagerdenken hat schon genug Fehlorientierungen
verursacht), aber die wirtschaftliche Lage der Menschen im Land wird sich
drastisch verschlechtern.

 

* Mit diesem Krieg kann die Nato in den Augen vieler Menschen ihre
Existenzberechtigung dadurch unter Beweis stellen, dass sie vergleichsweise
geschlossen und wirkungsvoll die ukrainische Armee mit Waffen versorgt und
ausbildet. Schon 2014–2021 haben die USA die Ukraine mit Waffen im Wert von
2,5 Mrd. Dollar aufgerüstet (u. a. mit Hunderten Panzerabwehrraketen des
Typs Javelin) und Soldaten ausgebildet; Polen und Tschechien lieferten in
dieser Zeit schon gebrauchte Schützenpanzer und Selbstfahrlafetten …

 

* Die Nato dehnt sich aus und geht politisch wie militärisch gestärkt aus
diesem Krieg hervor.

 

* Zur Freude der Waffenindustrie und aller Militaristen und Imperialisten
schreitet die Aufrüstung im Westen voran. Dies alles natürlich zum Nachteil
derjenigen, die das alles bezahlen müssen.

 

 

Nicht nur ist diese Auseinandersetzung vom Westen lange vorbereitet worden
(auch indem man die Spannungen hochfuhr und die Ukraine nicht zur Einhaltung
des Minsker Abkommens zwang). Längst ist dieser Krieg ganz konkret zu einem
Stellvertreterkrieg geworden.

 

 

DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE: WAFFENSTILLSTAND JA ODER NEIN?

 

Mit dem Krieg ist in weiten Teilen der Ukraine den Menschen die
Existenzgrundlage entzogen. Dies gilt aber nicht für die Oligarchen, an
deren Macht sich nichts geändert hat, wobei die Korruption nur ein
Teilproblem ist. [3]

 

Inzwischen ist für die einfache Bevölkerung das Leid unermesslich: Tausende
Tote und Verletzte, Millionen auf der Flucht, zerstörte Wohnungen und
Infrastruktur, ökologische Schäden gewaltigen Ausmaßes, drohender GAU bei
den diversen AKW usw. 

 

Und noch immer gibt es die Gefahr weiterer Eskalationen. Die Erklärung des
ukrainischen Präsidenten, dass er keinen Waffenstillstand will (er will die
ganze Ukraine „befreien“) hat ganz offensichtlich Rückendeckung durch die
USA, wenn sie nicht sogar von dort angeregt und befeuert wurde. Inzwischen
hat Selenskyj Verhandlungen mit Präsident Putin per Gesetz verbieten lassen.
Damit ist weiteres Leid vorprogrammiert, denn Putin wird – auch mit Hilfe
der Teilmobilisierung – in den kommenden Monaten weitere Soldaten als
Kanonenfutter aufs Schlachtfeld schicken. Daran sollte niemand zweifeln, der
Putins Machtwillen halbwegs realistisch einschätzt.

 

Damit stellt sich die Frage nach der Alternative. An anderer Stelle haben
wir die einzig humanistisch vertretbare Alternative des sozialen Widerstands
erörtert. [4] Wenn nun aber die ukrainische Regierung die militärische
Antwort auf die Invasion gewählt hat und damit weitgehend Fakten geschaffen
wurden, gibt es dann heute keine Sofortforderung, die an die Herrschenden zu
richten ist? Doch, nämlich die nach Verhandlungen für einen sofortigen
Waffenstillstand. Es ist die einzige Chance, ein weiteres massenhaftes
Abschlachten zu beenden.

 

Dazu braucht es eine erstarkende Friedensbewegung in der Ukraine aber auch
in den Nato-Ländern, denn diese bewirken mit ihren Waffenlieferungen eine
Fortführung des Kriegs (der Hauptverantwortlich ist natürlich nach wie vor
der Kreml). Erst dann wird die Selenskyj-Regierung umschwenken, mit dem
Effekt, dass Menschenleben geschont werden. Was ist wichtiger, Menschenleben
oder eine „befreite“ und zerstörte Ukraine?

 

 

WIDERSTAND VON UNTEN IN DER UKRAINE

 

Der Widerstand von unten muss sich in der Ukraine sowohl gegen die Besatzung
wie auch gegen das ukrainische Oligarchensystem richten. Wenn Menschen zur
Bekämpfung einer Besatzungsarmee die Waffe in die Hand nehmen, dann verdient
dies nicht nur unser aller Respekt, sondern auch konkrete handfeste
Unterstützung. Aber genau diese Art des Widerstands ist dieser Krieg nicht.
Es werden schwere Waffen eingesetzt und ganze Städte werden von der
russischen Armee in Schutt und Asche gebombt. So sehr wir also für den
Widerstand von unten sind, so sehr bedauern wir, dass viele der linken
Kräfte in der Ukraine für die Lieferung schwerer Waffen seitens der
Nato-Staaten an die Selenskyj-Regierung eintreten.

 

Ist nicht aber die Meinung der ukrainischen Linken für uns der Maßstab zur
Festlegung unserer eigenen Position? Nein! Wir – hier spreche ich zumindest
für das Autorenkollektiv, das seine Position am 9.6. in der jungen Welt,
aber auch bei anderen Gelegenheiten zum Ausdruck brachte – bedauern, dass
auch die Organisation, die wir politisch und finanziell unterstützen
(Sozialnyj Ruch), sich für solche (faktisch kriegsverlängernden)
Waffenlieferungen ausspricht. SR stellt nicht in Rechnung, dass die NATO
hier eine eigene Agenda verfolgt.

 

Wir können nicht voraussagen, ob und wie weit die russische Armee sich wird
zurückziehen müssen. Doch, ganz gleich, wer den Krieg gewinnt, der Verlierer
steht heute schon fest: die Arbeiter*innenklasse. Dies betrifft in erster
Linie die Arbeiter*innen in der Ukraine, die all dies mit einem hohen
Blutzoll und einem in weiten Teilen zerstörten Land bezahlt. Aber es
betrifft auch die Arbeiter*innenklasse in den direkt und indirekt
beteiligten Ländern. Ein emanzipativer Prozess – also gegen Nationalismus,
Kapitalismus und Patriarchat – ist der Krieg in der Ukraine nun wirklich
nicht.

 

 

BEDINGUNGSLOS, ABER NICHT KRITIKLOS

 

Unsere Haltung lässt sich so zusammenfassen: Wir sind froh, dass SR auf
Systemveränderung orientiert, dass sie sich auf die Seite der arbeitenden
Bevölkerung stellt und konkret Hilfe organisiert und dass wir viele ihrer
inhaltlichen Positionen teilen können. Wir stellen keine Bedingungen für
unsere Solidarität. Aber wir stimmen nicht in allen Fragen mit SR überein.
Das bezieht sich leider nicht nur auf die Frage der Waffenlieferungen. Im
Gegensatz zu SR lehnen wir die Nutzung der Kernenergie ab. Auch das ist für
uns keine zweitrangige Frage. 

 

 

10.10.2022

 

 

 

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Aus:   die internationale Nr. 6/2022 

Nachdruck gegen Quellenangabe und Belegexemplar erwünscht

Bestellungen:    die internationale, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln

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[1]  Identity and Nation-Building in Ukraine: Reconciliation of Identities
from an conflict prevention perspective
[https://www.ecmi.de/Research_Paper_12]  vom Dez. 2020 (eigene Übersetzung)

[2]
<https://uepo.de/2022/01/28/sprachpolitik-ukraine-bekaempft-russische-sprach
e-per-gesetz/>
https://uepo.de/2022/01/28/sprachpolitik-ukraine-bekaempft-russische-sprache
-per-gesetz/
[https://uepo.de/2022/01/28/sprachpolitik-ukraine-bekaempft-russische-sprach
e-per-gesetz/]

[3]  Nach dem Korruptionsindex von Transparency International belegt die
Ukraine Platz 122 von 180. Nur in einem Land auf dem europäischen Kontinent
sieht es in Sachen Korruption noch schlechter aus – in Russland.

[4]  [https://www.inprekorr.de/608-ukr-mil.htm], /die internationale/ Nr.
4/2022 (Juli/August 2022)

und von dem gleichen Autorenkollektiv: Der kriegstreibenden Politik der
Herrschenden schlüssig und konsequent entgegentreten
[https://winfriedwolf.de/?p=2147].

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